Triumph der Auferstehung
- Sunrise 2/1968
Man stelle sich vor, wie großartig die Zivilisation wäre, die wir hervorbringen könnten, wenn jeder einfach sein wirkliches Selbst abgäbe. Und warum sollten wir nicht danach trachten, genau das zu sein? Wenn wir versuchen, jemand anderem zu gleichen anstatt uns selbst, wäre es auch jemand, den wir aufrichtig bewundern, so zerstören wir die natürliche Harmonie des Reiches, von dem wir ein Teil sind. Jede Rose ist ihr eigenes individuelles Selbst, jedes Tier, jeder Vogel, jedes Geschöpf in der Natur ist es selbst, ohne Kompromiß. Nur wir Menschenwesen vergehen uns in dieser Hinsicht! Es wird nicht von uns verlangt, mit irgendeiner anderen Person identisch zu sein - alles, was wir sein sollen, ist, in der Beschaffenheit, die wir darstellen sollen, wir selbst zu sein, so wie unser innerer Monitor es sich erhofft. Und wenn wir das, wenn auch in noch so kleinem Maße, in unserem unmittelbaren Verantwortungsbereich vollbringen, tragen wir Unermeßliches zum Wohlergehen des Ganzen bei.
Das bedeutet mit anderen Worten genau das: Die Darstellung, die Jesus zugeschrieben wird, daß nicht er, sondern der Vater, der in seinem Innern wohnt, die Werke vollbringt und daß wir diese und sogar größere Werke gleichermaßen tun können. Auch wir haben im Innern einen Vater, ein höheres Selbst, einen Schutzengel, mit dem wir uns bewußter und enger verbinden können, so daß der sich entwickelnde Kern unseres Wesens zum Schluß seinen Einfluß auf alles, was wir denken und tun, ausüben wird.
Jesus war tatsächlich ein großer Lehrer, aber er war nicht der einzige. Gleich anderen vor seiner Ära war er eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Wegen seiner besonderen spirituellen Entfaltung war er auserwählt, in einem bestimmten Zyklus der Menschheit eine Botschaft zu bringen, die unbedingt notwendig war, um die Kristallisation des Denkens und Glaubens zu zerbrechen, die sich durch viele Jahrhunderte hindurch angehäuft hatte. Ganz offensichtlich war seine Mission heilig. Was verleiht der Passionsgeschichte ihre nachhaltige Anziehungskraft? Ob die Bibelerzählung geschichtlich genau ist oder nicht, ist hierbei nicht wichtig. Bedeutsam ist die dargelegte Erläuterung - daß jeder dieselbe Potentialität hat wie der christliche Meister. Nein, dieser Ablauf der Ereignisse fand nicht nur einmal für einen Menschen statt. Der gesamte Vorgang des Heranwachsens, der Entwicklung, der allmählichen Umformung der niederen durch die höheren Qualitäten muß von jedem Menschenwesen durchgemacht werden.
Es ist alles darin enthalten, fixiert in den Worten des Glaubensbekenntnisses, das unglücklicherweise von vielen Kirchenkanzeln noch immer engstirnig ausgelegt wird. Die Hoffnung der Zukunft liegt in der Tatsache, daß immer mehr Menschen, nicht zuletzt unter der Jugend, dahingelangen, seine ursprüngliche Autorität zu erkennen und so seinen stärkenden Einfluß zu empfinden. Schließlich gibt es keine höhere und stärkere Autorität als die, die jeder einzelne in sich selbst, zu jeder Zeit, an jenem Punkt seiner eigenen Entwicklung, an dem er gerade angelangt ist, findet. Aber das ist nicht unveränderlich: Genau wie die Wahrheit immer vor uns zurückweicht, so mag auch unser heutiger Standpunkt uns morgen als Resultat eines vollständigeren Verständnisses gänzlich unzureichend erscheinen. Aus diesem Grunde kann niemand einen anderen spirituell erlösen. Jeder muß sich selbst erlösen, - nicht in dem eingeschränkten religiösen Sinne - sondern er muß sich vor unnötigen Rückschritten auf der Leiter des Fortschritts selbst retten. Weshalb sollten wir uns also auf andere stützen? Wenn wir die Worte selbst der edelsten Weisen der Geschichte nehmen und daraus Dogmen machen, so verlassen wir uns auf etwas, das bereits sein Leben verloren hat. Glaubensbekenntnisse und Gebote können helfen, aber nur mäßig und während eines beschränkten Zeitabschnitts. Wir müssen die doktrinären Lehrsätze durchdringen, wenn wir den lebenspendenden Geist, der ihnen einst Geltung verlieh, erfassen wollen.
Was wir in dieser Welt am dringendsten brauchen sind Menschenwesen, die ihrem wahren Selbst unbeschränkt Ausdruck geben, weil es das Volk und nicht die Regierung ist, das die Waage zur positiven Seite des Geschicks hin in Bewegung setzt. Unser unsterbliches Selbst ist so nahe, so vital, so sensibel, aktiv und hilfreich, daß sein Einwirken, - wenn wir ihm vertrauen und ihm folgen - niemals verfehlen wird, uns die richtige Führung zur richtigen Zeit und in der richtigen Weise zu zeigen. Dieses Selbst ist nichts anderes als unser individueller Teil der göttlichen Essenz, unsere zuverlässige Quelle, die stets durch unser Gemüt und unsere Persönlichkeit eine Ausdrucksmöglichkeit zu finden sucht. Jeder muß sich bemühen, sein eigenes schöpferisches Potential hervorzubringen, denn nur wenn er er selbst ist, ehrlich und ohne Bedenken, kann er hoffen, das zu vollbringen, wozu er hier ist.
Ehe wir nicht die umfassende und wahrhaft wunderbare Symbologie der heiligen Schriften wahrnehmen und verstehen lernen, daß jeder von uns für sich tatsächlich ein Messias ist, werden wir nicht begreifen, was Jesus war und was sein Opfer heute für uns bedeuten kann. Wir sind unser eigener Erlöser, unser eigener Messias - die Schule des Lebens verlangt starke Seelen, keine Schwächlinge. Im Reifeprozeß ist jeder Schritt vorwärts eine Kreuzigung unserer niederen Neigungen, ein kleinerer Abstieg in die Hölle des materiell Egozentrischen, mit wiederholten Erlebnissen der Freude und Trauer, die uns zwingen auf die Geheiße jenes inneren Messias zu hören, bis auch wir uns - wie der Phönixvogel, der aus der Asche seines toten Selbstes sich erhebt - am Ende triumphierend, erneuert und wiedergeboren erheben werden.