Hingabe des Selbstes
- Sunrise 1/1968
Ich will aufhören als Selbst zu leben
und will meine Mitmenschen als mein Selbst betrachten.
Wir lieben unsere Hände und die anderen Glieder
als Teile des Körpers; warum dann nicht andere
lebende Wesen als Teile des Universums lieben?
- Santi-Deva, The Path of Light
Die Rebellion der heutigen Jugend gegen die Gewohnheiten ihrer Eltern war Gegenstand eines anfangs Januar im ganzen Lande im Fernsehen gezeigten Dokumentarfilms. Wir sahen Szenen, die die Entwurzelung vieler Jugendlicher zeigten und ein Bild davon vermittelten, wie sie sich über den "Stumpfsinn" im Leben ihrer Eltern und deren Verhalten langweilten. Diese Jugendlichen erklärten ihre Begeisterung für Schnelligkeit und aufregende, wie auch undisziplinierte Handlungen mit dem Drang, die vorgeschriebene Routine, die ihre Individualität unterdrückt, zu brechen. Wir hörten ihre Verbitterung in der Ablehnung der 'Verhaltensregeln', die zu beachten man von ihnen erwartete, weil sie herausgefunden hatten, daß die Erwachsenen sich selbst nicht daran hielten. Die Tatsache, daß es sehr viele Teenager gibt, die nicht gegen Konformismus rebellieren oder ihre Unzufriedenheit über den Wettbewerb in der Gleichförmigkeit der Massen zum Ausdruck bringen, die das moderne Leben in der Stadt kennzeichnet, beseitigt nicht den wahren Grund für die Klagen der Jugend in vielen Ländern, die für ihr reifes Alter eine andere Welt zu schaffen beabsichtigt.
Einen wertvollen Hinweis bildete in dem Film das spontane Handeln einer wahrhaft Anteil nehmenden Person, die den ruhelosen und unglücklichen Jungen und Mädchen im Teenageralter in ihrer Stadt helfen wollte. Sie lud sie mit der offenen Sympathie zu sich ein, die keinerlei Bedingungen stellt und gewillt ist, sie anzuhören und sich als Freund und Gefährte mit ihnen zu unterhalten. Dabei findet sie, daß die jungen Leute angehört werden wollen, wie jeder andere auch. Die für uns alle hier zu lernende Lektion ist die Philosophie dieser Frau, sich selbst im Verstehen anderer zu vergessen und ihnen zu helfen, ihr Leben in Ordnung zu bringen.
Das ist keine neue Idee, aber eine Idee, die im Lichte unserer Zeit wieder an Bedeutung gewinnt. Seit undenklichen Zeiten wurde die "Hingabe des Selbstes" als eine Hauptaufgabe in der Entwicklung des idealen Menschen betrachtet. Sie stellt den Gipfelpunkt einer großen Anstrengung eines Menschen dar, Wissen über das Universum zu erlangen und, was noch wichtiger ist, seine Funktion in ihm zu verstehen. Die Erlöser, die an vielen Orten und zu vielen Zeiten in beständiger Dienstleistung für die Menschheit ihr Leben opfern und uns unablässig an ihrer Liebe und Weisheit teilhaben lassen, sind für uns alle Beispiele. Der Historiker Professor Arnold Toynbee hat den Verzicht auf den Fortschritt bis zur Buddhaschaft oder vollkommenen Erleuchtung durch jemand, der "beinahe Buddha" ist, als den Hauptbeitrag des nördlichen Buddhismus zu der neuen Zivilisation herausgestellt, von der er annimmt, daß sie sich entfaltet. Mit poetischem Gefühl und poetischer Schönheit schreibt er von dem Verzicht auf Nirvana durch einen solchen Menschen, der der schließlichen Vollendung den Rücken kehrt, um bei seinen weniger fortgeschrittenen Mitmenschen zu bleiben und ihnen zu helfen.
Dies deutet darauf hin, was wir heute so notwendig brauchen: eine geringere Betonung unserer eigenen selbstischen Ansprüche und Genüsse und eine Ausrichtung auf ein besseres Verstehen unserer Brüder in ihrem Unglück, ihrer Verwirrung oder auch in ihrem Elend. Wenn wir fühlen, daß wir uns noch nicht gänzlich dem Dienst für den Fortschritt der ganzen Menschenfamilie widmen können, sollten wir wenigstens damit anfangen, eine positive Haltung anzunehmen: ein brüderliches Gefühl zu hegen, das auf Bezeichnungen und Benennungen verzichtet, die wir unseren Nachbarn so leichtfertig anhängen. Denn diese Verunglimpfungen, ganz gleich welcher Art, beruhen auf Erfindungen, die durch unsere eigene Art die Dinge zu sehen, hervorgerufen wurden. Diese werden wieder durch unsere persönlichen Eigenarten beeinflußt, welche unseren Charakter entstellen und ihn unter die für uns bestehenden Möglichkeiten herabwürdigen.
Es gibt einen alten, durch häufigen Gebrauch abgenützten Ausspruch: "Es ist die Liebe, die bewirkt, daß die Welt sich dreht." Der alte griechische Schriftsteller Hesiod sammelte die allgemein verbreiteten Anschauungen seiner Zeit, und nach seiner Aufzeichnung über die Götter erscheint Eros als ein Glied der höheren Dreieinigkeit unseres Kosmos, der tatsächlich sein "Körper" ist. Das indisch-tibetanische Denken sprach von diesem himmlischen Eros als Alaya, Mitleid, und die gleiche Idee finden wir in der Literatur anderer Völker. Die Pyramidentexte der Ägypter verweisen auf den materiellen Globus und seine Umhüllungen sogar weit in den Raum hinaus als lediglich den sichtbaren Aspekt einer unsichtbaren oder 'göttlichen' Welt. Zwischen dieser göttlichen Welt der Ursachen und dem Bereich der Wirkungen, den wir bewohnen, stellten sich die Weisen Ägyptens Bau vor, jene "Geist-Seelen", die einen hohen Grad von Fähigkeit erlangt hatten und sich der Sache der Menschheit widmeten. In gewissem Sinne waren - und sind - sie Wegweiser, die den "Weg" zur Erlangung wahrer Menschlichkeit zeigen: zur Entfaltung des inneren Menschen, der zu oft durch den äußeren mit seinen Begrenzungen verdunkelt wird. Verschiedene heilige Schriften legen dar, daß es in uns viele "Selbste" gibt: das permanente ist das Vehikel der Gottheit, während das Alltagsselbst mit einem sehr kleinen "s" der Sitz unserer Wünsche und Begierden ist. Es ist nur ein Schatten unserer wahren Natur, obwohl wir allgemein annehmen, es sei alles, was an uns ist.
Ebenso wie Wagners Oper Parsifal zeigt, daß Kundry ihre niedere Form opfern mußte, um strahlend daraus hervorzugehen, gibt es auch Geschichten und Symbole in den Überlieferungen vieler Völker, die das gleiche Ereignis auf verschiedene Weise schildern. Der Phönix wurde zu allen Zeiten und von allen Rassen als der Repräsentant des göttlichen Menschen schlechthin verehrt, der aus der Asche der Schwächen wiedergeboren wurde, die von dem reinigenden Feuer verzehrt wurden. Die Ägypter malten zum Beispiel Vignetten, die den Aspiranten zeigen, wie er seinem als Bennu Vogel (engl. Bennu Bird) oder Phönix dargestellten höheren Selbst gegenüber steht. Dazwischen befindet sich der mit den Emblemen des Körpers und der Seele beladene 'Opfertisch', der im Dienste der inneren und äußeren Götter dargeboten wird.
Was schließt dann diese 'Hingabe des Selbstes' alles in sich? Es ist das Wohlwollen des Einzelmenschen als Freiwilliger mitzuarbeiten, der ganzen Menschheit zu helfen. Wenn die jüngere Generation Ideale ablehnt, ist dies eine Reaktion auf die wertlose Heuchelei jener, die nach aussen hin Ideale vertreten, sich aber entgegengesetzt benehmen. Das Ideal, den Unglücklichen und Niedergeschlagenen zu helfen und mit ihnen zu arbeiten, wird jedoch nicht zurückgewiesen: denn der Film über die Teenager zeigte den aufrichtigen Eifer, mit dem viele die Idee aufnahmen, einen Teil ihrer Freizeit zu opfern, um in einer Schule für zurückgebliebene Kinder zu helfen. Die Bilder zeigten deutlich, wie glücklich sie waren, wenn sie mit den behinderten Jungen spielten und ihnen halfen. Diese ihrerseits legten eine Offenheit an den Tag, die sie oft ihren erwachsenen Lehrern und Pflegern gegenüber nicht zeigten. Ist es möglich, daß der Geist dieser jungen Leute so selbstvergessen ist, daß seine Warmherzigkeit auch die Herzen jener öffnen kann, die sonst unfähig sind, es von sich aus zu tun?
Die in alten Tagen bei verschiedenen Völkern symbolisch dargestellte 'Hingabe des Selbstes' ist in der Tat für uns von Bedeutung. Unsere besseren Eigenschaften können das geringere Selbst im Inneren inspirieren, so daß es seinerseits in ein reineres Vehikel für spirituelle Kraft umgewandelt werden kann und somit zu einem Emporstreben führt. Das niedere Selbst durchbricht seine Schranken, damit es für jene Einflüsse empfänglich werden kann, die durch unsere Intuition zu uns sprechen. Das alles kann zusammengefaßt werden als das Überwinden der verlangenden, selbstischen Impulse und Charakterzüge, damit das "Hervortreten des Gottes" in uns stattfinden kann.
Die Menschheit ist ein Teil eines lebendigen Universums, in dem es keine Lücke in der Beziehung gibt, die ein Wesen mit dem andern verbindet. Die vielen künstlichen Unterscheidungen der Rasse, des Glaubensbekenntnisses und der Farbe oder anderer sogenannter Unterschiede, sind nur die zeitweiligen Wolken, die die 'innere Sonne' verdunkeln, die immer scheint. Einzelne Menschen mögen Reichtum oder Macht, Ruhm oder Erfolg verschiedener Art erwerben, aber die menschliche Seele wird der göttlichen Essenz im Innern gegenüber teilnahmslos bleiben, solange wir nur auf die unserer persönlichen oder niederen Natur entspringenden wechselnden Triebe reagieren. Doch nichts im Leben steht still, wir sind gezwungen zu wachsen. Deshalb ist es unvermeidlich, daß die Winde des Geistes schließlich diese verdunkelnden Faktoren in der Natur des Menschen hinwegfegen, damit das Mitleid und die Weisheit des höheren Selbstes in einem stärkeren Glanz gesehen werden können.