Die kostbare Perle
- Sunrise 3/1967
Eine vortreffliche, rot lackierte Holzschnitzerei und eine in einem vergessenen Buch begrabene Erzählung, das ist vielleicht alles, was von einer rührenden Allegorie über einen der vertrautesten Jünger Buddhas, seinen Vetter Ánanda, übrig geblieben ist. Das zerbrechliche Stück Lackarbeit, von dem gesagt wird, es stamme aus der kaiserlichen Kapelle in Peking, stellt einen Mann dar, wahrscheinlich einen Heiligen, der zu einer Gruppe von Zuhörern spricht.
Die Geschichte des Buddha selbst ist wohlbekannt: er war der Prinz Siddhártha, den das Leid, der Kummer und der Tod, die er um sich herum sah, so beunruhigten, daß er seinen luxuriösen Palast verließ, um die Antwort auf diese Probleme zu suchen. Schließlich löste er das Geheimnis des Lebens, aber er verzichtete auf die Früchte seines Sieges, damit er seine Erkenntnisse anderen Menschen vermitteln konnte. Er teilte seine Entdeckung in eindrucksvollen Unterredungen über das mit, was er die "Vierfache Ursache des Leides" nannte. Der Sinn seiner Botschaft war, daß der Mensch die Verhältnisse in seinem Dasein durch seinen Durst nach Vergnügen und nach Besitztümern selbst schafft. Da sich die von ihm geschaffenen Ursachen auswirken, wird er immer wieder in das materielle Leben zurückgebracht. Um diese vorherrschenden, selbstischen Einflüsse zu überwinden, empfahl Buddha einen "Achtfachen Pfad", einen Pfad, der zur inneren Überlegenheit führt, die einen Menschen befähigt, der wahre Führer seiner eigenen Seele zu werden, statt der Gnade seiner Begierden ausgeliefert zu sein.
Nun Gautama Buddha genannt, kehrte der frühere Prinz in seinen Heimatstaat zurück, wo er seine Lebensphilosophie verkündete. Unter jenen, die aus seinen Lehren ein gewisses Verständnis erzielten, befand sich sein Vetter Ánanda. Er begleitete ihn durch das ganze Land auf seinen Wanderungen, die viele Jahre dauerten. Die Legenden erzählen, daß Ánanda, als Buddha starb, so von Kummer überwältigt wurde, daß er der unmittelbar darauf stattfindenden Versammlung der Jünger fern blieb. Während der folgenden Jahre fanden Zusammenkünfte statt, um über die authentischen Texte der Aussprüche Buddhas zu diskutieren und sie festzulegen. Die Lehren wurden formuliert und die Organisation der Bruderschaft sichergestellt. Ánanda nahm an diesen frühen Zusammenkünften teil, doch, so erzählt unsere Geschichte, das Gefühl des schmerzlichen Verlustes verließ ihn selbst nach Jahren nicht, es wurde nur schwächer. Und als er starb, sprach eine Stimme aus der Tiefe seines Innern:
"Ánanda! Dein Kummer, die Folge persönlichen Gebundenseins an die Gefühle, hält dich von Nirvâna zurück. Du kannst nicht in den Frieden eintreten."
Er fragte: "Was soll ich denn tun? Die Bande mit meinem verbrauchten Körper sind gerissen und ich kann sie nicht erneuern."
Die Stimme antwortete: "Deine Seele kann in einem feinen Körper zurückbleiben und die Menschen erleuchten und ihnen helfen."
Generationen vergingen und Ánanda erschien schließlich unter dem alten chinesischen Volke. Er erschien hier und dort, gab Beistand und Ermutigung, wo immer sie notwendig waren. Das Mitleid, die reine Essenz des Universums, strömte in zunehmendem Maße durch ihn. Er brachte manchen Erleuchtung; andere erkannten wenigstens die Ursache ihres Leides.
Nach vielen Jahrhunderten hörte er die Stimme wieder:
"Das hast du gut gemacht, Ánanda! Das geringere Element in dir ist zu einem durchscheinenden Vehikel für das größere geworden. Da du dem friedvollen Geist im Zentrum deines Wesens Ausdruck verliehen hast, hast du jetzt einen Zustand erreicht, in dem du in Nirvâna eintreten kannst."
Er aber erwiderte: "Ich ziehe vor hier zu bleiben, um meinen Mitmenschen in ihren Nöten zu helfen, bis der letzte von ihnen in der in ihm befindlichen Essenz erstrahlt."
So wurde Ánanda im alten China als die "Kostbare Perle" verehrt und seine Geschichte wird erzählt, man erinnert sich ihrer in Holz und Lack. Vielleicht wandert er noch immer auf den alten Straßen in der Welt, unerkannt, aber wenn gerufen, allen Hilfe spendend, die das Göttliche im Innern suchen.