Unser wahres Selbst zu sein!
- Sunrise 3/1967
Der Lauf der Natur ist Wachstum, und wir sind gewohnt zu beobachten, wie es um uns herum stattfindet, wie die Jahreszeiten kommen und gehen, und eine Generation von Lebewesen der anderen folgt. Das ewig wechselnde Bild ist erfüllt von Schönheit und Lebensfreude. Doch wir denken selten über die Tatsache nach, daß neben diesen vorübergehenden, sichtbaren Veränderungen gleichzeitig ein inneres, dauerndes Wachstum erfolgt. Für den Menschen gilt ganz besonders, daß das, was sich in seinem eigenen Bewußtsein ereignet, die wichtigste Phase seines Daseins ist, denn seine stillen, verborgenen Gedanken reifen schließlich zu Handlungen heran und gestalten seinen Charakter und letzten Endes sein Schicksal.
Soweit auch alle Berichte zurückreichen, können wir in Wort und Symbol, auf Papyrus, Ton oder Stein, den Kampf zwischen den höheren und niederen Impulsen des Menschen verfolgen. Alte Schriften sagen uns: "Der Mensch ist nicht eines, sondern zwei." Jeder Erlöser hat zu der Anstrengung ermahnt, unser wahres Selbst zu sein und alle Lehren, alle Theologie, sind nur ein Bühnenbild für dieses innere Drama. Wer sind die handelnden Personen in diesem Drama? Es gibt einen inneren Gott, der der Kern unseres Wesens, der Vater im Innern ist. Auch die Tiernatur gibt es, ein geringeres Selbst, dessen Brennpunkt in uns die Gefühle und die niedere Mentalität sind. Wir haben diese Elemente in uns, aber genau genommen sind wir weder das eine noch das andere. Wer ist dann der Mensch? Er ist das 'wollende' menschliche Wesen, das zwischen den beiden hin und her schwankt, bald in Selbstsucht und Leidenschaft verwickelt und bald sich zu den Höhen erhebend - halb Tier, halb Gott.
Der Mensch wurde der verlorene Sohn genannt, der zu seinem Vater zurückkehrt. Er ist Odysseus, der auf seinem Weg zurück in sein Heimatland durch viele Abenteuer getäuscht und aufgehalten in der Welt umherwanderte, ehe er König in seinem eigenen Haushalt wurde. Er ist der Wagenlenker, der die störrischen Rosse seiner niederen Natur mit Hilfe der Zügel (seinem Willen) bändigt. Oder er ist Arjuna zwischen den beiden Armeen auf dem Schlachtfeld, aber sein göttlicher Krishna ist an seiner Seite und drängt ihn, gegen diese Feinde seines Fortschritts zu kämpfen.
Wie sollen wir in angemessener Weise von dem Gott in jedem von uns sprechen, denn er ist im Innern vorhanden, die Quelle jedes edlen Impulses, der 'geheime Ort', von dem die Inspiration ausstrahlt immer höher zu schreiten und die Stärke jenes Ziel zu erreichen! Er ist unser treuer Gefährte in tausend Leben und in den Kämpfen mit niederen Instinkten, der uns mit nicht irrender Urteilskraft führt, wann immer wir bereit sind auf seine "leise, feine Stimme" zu hören. Aber wir müssen den Wagen selbst lenken, denn das ist unsere evolutionäre Pflicht.
Ob wir uns der Tatsache bewußt sind oder nicht, wir sind alle in dieses Bestreben verwickelt. Und es besteht kein Zweifel wo unser Platz ist, sonst würden wir niemals wegen schlecht ausgeführter Dinge Gewissensbisse bekommen oder die reine Freude der Erkenntnis erfahren, daß wir das Rechte getan haben, ganz gleich um welchen Preis. Das sind die Wegweiser entlang dem Weg des Wachstums. Glücklichsein bedeutet daher dem Besten in uns entsprechend zu denken und zu handeln. Nichts anderes wird auf die Dauer befriedigen, denn die Zukunft des Menschen besteht darin, etwas mehr als Mensch zu werden, etwas mehr Gott gleich zu sein, und diese Möglichkeit zieht uns wie ein Magnet vorwärts.
Sein wahres Selbst zu sein. Das klingt so einfach, aber es ist die schwierigste Errungenschaft des Menschen. Der Kampf kann manchmal zur Verzweiflung führen. Wir können beim bloßen Suchen nach Vergnügen und nach Befriedigung der Sinne so in den Sumpf versinken, daß wir Grundsatz und Pflicht aus dem Auge verlieren und den falschen Standpunkt einnehmen, den Lauf unseres Lebens einzig danach zu bestimmen, was persönlich angenehm ist. Die Natur wird dieses unfruchtbare Dahintreiben nicht lange dulden. Wenn wir unseren Weg nicht verändern, wird der innere und äußere Druck anfangen sich zu steigern, bis es den Anschein hat, daß so unsere Seele geprüft wird. Der vielfältige Wert des Leides kommt dann zum Vorschein. Unter diesen Umständen können wir in Versuchung geraten, unsere Ideale zu vernachlässigen und unser Streben vorübergehend aufzugeben. Doch wenn wir das tun, verschieben wir nur die uns gegenwärtig gebotenen großen Gelegenheiten auf eine spätere Zeit oder ein späteres Leben. Es wäre besser weiterhin zu leiden, wenn es notwendig ist, bis unweigerlich der Tag kommt, an dem wir wieder ganz und gar in der Lage sind zu sagen: "Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe."
Deshalb wollen wir diese Art Schmerz nicht zurückweisen, er ist der ermutigende Beweis, daß unsere höhere Natur in uns tätig ist, denn ganz gleich wie wir in unsere persönlichen Schwierigkeiten verwickelt sein mögen, ein Teil von uns steht uns immer zur Seite und wartet darauf, daß wir eine neue Anstrengung machen. Ein in einem Augenblick getroffener Entschluß kann natürlich nicht die Trägheit eines ganzen Lebens gutmachen. Wir haben, wie in der Fabel, den Stein vor die Höhle gewälzt und müssen ihn jetzt hinwegrollen, damit wir frei in jener größeren Welt leben können, nach der wir uns sehnen. Die Lösung liegt darin, daß wir unsere Augen unserer inneren Sonne zuwenden. Ihr Licht wird unseren Weg beleuchten und ihre Energien werden uns in unseren Entschlüssen stärken.
Hilfreich dabei ist, sich klar zu werden wo wir stehen, das heißt, innezuhalten und sich die Ziele ins Gedächtnis zu rufen, die wir erstreben und nicht dem Tag zu erlauben, uns mitreißend vorüber zu eilen. Unsere spirituelle Orientierung, die wir erhalten haben, wird uns helfen, jeden Augenblick am Tor unseres Bewußtseins Wache zu stehen. Solange wir wachsam sind, kann uns keine Macht der Welt hindern, vorwärts und aufwärts zu schreiten - ausgenommen unsere eigenen Schwächen. Aber selbst diese können durch die zunehmende Triebkraft eines immer wieder erneuerten Entschlusses umgewandelt werden.
Die größten Menschen der Welt waren und sind jene, bei denen man mit Sicherheit annehmen kann, daß sie zu jeder Zeit und allerorts ihr besseres Selbst sind. Sie sind die wahren Könige unter den Menschen. Die Natur meidet allen Schein. Wir sind das, wozu wir uns selbst gemacht haben, nicht mehr und nicht weniger. Aber das Wunderbare dabei ist, daß wir mit der Zeit das werden, wozu wir uns jetzt machen. Deshalb sollten wir nach Hohem streben, denn auch wir sind potentiell königlich.