Betrachtungen
- Sunrise 1/1967
Es ist früher Morgen und ich sitze in Holland an meinem Arbeitstisch in meinem Hotel in Den Haag, wohin ich gekommen war, um die endgültige Übersetzung gewissen SUNRISE-materials in holländisch, deutsch und schwedisch zu koordinieren. Ich höre einem Klavierkonzert von Beethoven zu, das von der BBC aus London übertragen wird. Als die letzten Töne verklingen, kommt unmittelbar danach der Ansager mit der Zusammenfassung der 8-Uhr-Nachrichten.
Der Übergang des Bewußtseins zur rauhen Wirklichkeit war nicht allzu angenehm, brachte jedoch eine ganz gewaltige Reihe von Gedanken mit sich, die mich noch lange nach der Nachrichtensendung nicht losließen.
Ich fing an zu erkennen, daß die meisten von uns, ohne sich dessen bewußt zu sein, so sehr mit den zahlreichen Weltproblemen beschäftigt sind, daß wir die vernünftige Perspektive, die notwendig ist, um eine klare Analyse der Geschehnisse und der echten Transmutationen zu machen in diesem Kessel der Veränderungen, in dem sich die menschliche Familie heute befindet, völlig verlieren.
Ich distanzierte mich etwas von den unmittelbaren Begebenheiten Vietnams, von der brodelnden Unruhe der neuen Republiken, von der ost-westlichen Mauer und der NATO, von den Rassenkonflikten und den kritischen geistlichen Problemen, denen jede religiöse Institution gegenübersteht, die verschiedenartigen sittlichen Konfrontationen, die wir individuell meistern müssen nicht ausgeschlossen, und ich fragte mich: "Ist dies alles etwas Neues? Hatten die Menschen nie zuvor Wachstumsschmerzen durchgemacht? Wenn ja, warum dann die Unruhe? Warum die allgemeine Explosivität allüberall?"
Die Macht dieser Überlegungen zwang mich zu weiterem Nachdenken und zu dem Versuch, in Zeitbegriffen von Jahrhunderten zu denken und nicht nur in unserer eigenen kleinen Lebensdauer. Es mußte mir möglich sein, den größeren Horizont zu sehen, der viele Lebenswogen menschlicher Seelen einschloß, die auf diesem, unserem uralten Globus Erfahrungen sammelten. Aber selbst von diesem Standpunkt aus war meine Vision begrenzt. Ich ging noch weiter zurück, bis ich in Zeitbegriffen von Jahrtausenden - Hunderten von Jahrtausenden - denken konnte und dadurch noch genauer wahrnehmen konnte, welche Anstrengungen der Mensch macht, um die Gelegenheit für die Ausdrucksmöglichkeit zu bekommen, die er braucht, um das völlig zu manifestieren, was auf dieser Erde als höchste Form des Lebens betrachtet wird.
Von hier aus begann ich langsam zu verstehen, was der ganze Kampf bedeutet! Mein geistiges Auge wanderte dann der weit zurückliegenden Vergangenheit zu, zurück bis vor die Zeiten der großen Religionen, zurück zu dem, was die Zeitspanne im Garten Eden gewesen sein muß, als der Mensch erstmals von der Frucht der Erkenntnis kostete und dadurch ein selbstbewußtes Individuum wurde. Die Auswirkung jener Erfahrung blieb als ewiger Motivator aller seiner Gedanken und Taten erhalten. Alles, was er erstrebte, seit das Feuer seines Denkens entzündet wurde, diente dazu, seine endgültige Bestimmung zu erreichen - den Zweck, weshalb er auf diesen Planeten kam. Was ist dieser Zweck? Zu wachsen, um seinem Schöpfer, von dem er ein Teil ist, gleich zu werden, der einen Teil Seiner selbst geopfert hat, damit der Mensch für immer die göttliche Flamme der Inspiration in sich habe.
Das ist tatsächlich eine 'weite' Betrachtung! Sie half mir jedoch zumindest zu einer sinnvolleren Perspektive zu gelangen, mit der man die Weltbühne überschauen und hinter dem anscheinend beispiellosen Kampf einen Anflug von Bedeutung finden konnte. Zweifellos brennt tief im Bewußtsein jedes Menschen ein Funke der Erkenntnis, daß er eine höhere Rolle im Leben zu spielen, einige edlere Ziele zu erreichen hat. Ob er sich dessen bewußt ist oder nicht, gerade das ist der Grund für seine Existenz. Unwissenheit mag ihn zu Missetaten führen, Verstehen kann ihn jedoch zum Besserwerden vorwärts drängen - physisch und geistig.
In dieser Atmosphäre der 'Erhabenheit' können wir die Methode der Natur, mit der sie ihre Lebensformen - und insbesondere den Menschen - schult, besser würdigen. Seit er das "Denken" erwarb, mußte er lernen aus seinen Fehlern Nutzen zu ziehen. Zeitweise hat er es schwer gefunden, aber im grossen und ganzen ist es ihm ganz erstaunlich gelungen. Viele Beweise gibt es dafür, wozu er imstande ist. Es stimmt, seine sittliche Kraft wird mit jedem Schritt nach vorn herausgefordert; doch ohne Herausforderung gibt es keine Überwindung, und ohne Überwindung gibt es keinen Fortschritt.
Viele Nationen und Rassen sind im Laufe der Zeit aufgestiegen und untergegangen, und viele weitere werden es genauso tun, ehe wir unser wahres Erbe antreten. Deshalb ist, was wir heute hier miterleben, die Alchimie eines wachsenden Bewußtseins, die eine neue Zeit für die Menschheit hervorbringt. Den Tatbeständen entsprechend, scheinen Revolutionen an der Tagesordnung zu sein, aber das ist eine negative und destruktive Einstellung - die Betrachtungsweise der Unwissenheit, Unkenntnis. In Wirklichkeit findet eine Evolution statt, eine Evolution des Neuen aus dem Alten, mit einem Zusammenbruch engstirniger Traditionen in jedem Lebensbereich, damit die höheren Werte Ausdruck finden können.
Es ist bedauerlich, daß Fehler so oft gemacht werden müssen, aber andererseits ist es die Art, auf die wir manchmal am besten lernen. Wir haben in den großen Lehrern, die ebenfalls kommen und gehen, und von denen jeder in seinem eigenen Zeitalter den Menschen die Weisheit und die Methoden erleuchtenden Denkens und Handelns bringt, eine ausgezeichnete Führung gehabt. Auch Religionen steigen auf und verfallen, genau wie Zivilisationen. Wie Nationen und Rassen erreichen sie einen Punkt der Kristallisation, an welchem der Geist des Wachstums an einen Status quo gefesselt, gezwungen wird, woanders hinzufließen, um einen Durchlaß zu finden.
Nichtsdestoweniger verbleiben von den Bemühungen der Vergangenheit gewisse Prinzipien, die unschätzbar sind, wenn wir sie in unserem individuellen Leben anwenden. Die eine fundamentale Wahrheit, die in allen Religionen und Philosophien obenan steht, ist die, die in der universalen Goldenen Regel enthalten ist. Sie ist der Mittelstein des Torbogens, durch den in der Zukunft jeder Fortschritt gemacht werden wird. Nach ihr zu leben ist nicht leicht, aber wir müssen sie leben, wenn wir in der langen Zeitperiode, die sich vor uns erstreckt, Interesse am Wohlbefinden der Menschheit haben.
So beende ich meine Überlegungen mit einem viel deutlicheren Verständnis für das Weltbild im Lebenspanorama, wie es sich heute offenbart. Trotz der vielen niederdrückenden Anzeichen physischer und mentaler Leiden habe ich große Hoffnungen. Ich glaube, all diese Dinge prophezeien den Sieg für jenen göttlichen Aspekt in der Seele des Menschen, der nie aufhören wird auf uns einzuwirken, bis er voll triumphierend hervorgeht.
Welche Erinnerungen werde ich haben, wann immer ich jenes bestimmte Beethovenkonzert höre. Ich kenne nicht einmal seinen Namen, aber das spielt keine Rolle. Sein inspirierender Einfluß traf ein Ziel und ich bin dankbar - dankbar, daß er mich hier in Den Haag traf, direkt im Angesicht des internationalen Friedenspalastes.