Wir kannten Ihn nicht
- Sunrise 6/1966
Als ich nach einer mehrmonatigen Reise in New York landete, war ich entsetzt, vom Tode Gottes zu erfahren. Wäre ich den Tagesneuigkeiten nicht so lange fern gewesen, wäre mir diese Vorstellung vielleicht langsamer näher gebracht worden, und der Schock wäre nicht so groß gewesen. So aber stand ich am Zeitungskiosk im New Yorker Bahnhof und musterte Zeitschriften aller Art, deren Schlagzeilen Variationen zu dem Thema "Gott ist tot" brachten.
Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie der kleine Junge in der Geschichtsstunde, der, als er nach dem Todestag George Washingtons gefragt wurde, antwortete: "Herr Lehrer, ich habe gar nicht gewußt, daß er krank war!" Nach weiterer Überlegung erschienen jedoch die Neuigkeiten ganz vernünftig. Einige Vorstellungen über unseren göttlichen Ursprung sind seit langer Zeit kränklich gewesen.
Man kann verstehen, warum ein menschengestaltiger Gott nicht länger existiert, jener göttliche alte Herr, der nicht allzu hoch über der Erde lebt, der zeitweise liebevoll und gütig ist, aber auch zornig und eifersüchtig sein kann und ständig günstig gestimmt und angebetet werden muß. Offensichtlich konnte dieser wie ein Götze verehrte Gott nicht von Dauer sein. Er gehörte zu einer Entwicklungsstufe der Menschheit, die der Hauptteil der Menschen hoffentlich überwunden hat.
Ich kann auch verstehen, warum ein so exklusiver Gott sterben mußte, einer, der nach der Vorstellung seiner Anhänger ihre Gruppe unter Ausschluß aller anderen, die nach Erleuchtung streben, auserwählt hat. Eine solche Stammesgottheit konnte nicht für immer die Erfordernisse der Leute befriedigen. Da unser Bewußtsein für die Menschen der anderen Rassen, Religionen und Hautfarben mitempfindender wird, fragen wir uns: Könnte eine Universale Gottheit schuldig sein, weniger Liebe, weniger Weisheit und Gerechtigkeit zu zeigen als seine wirklich unvollkommenen Anhänger? Immer mehr Menschen widmen sich der Wohlfahrt der weniger Glücklichen, Wohlfahrtsprogrammen, dem Friedenskorps, der Unterstützung der Hilflosen und Körperbehinderten und der Behebung von Krankheit und Leiden, alles im Geiste selbstloser Liebe. Dies wird augenfällig auf viele Arten durch Menschen demonstriert, die keinen Anspruch an die Gottheit stellen. Sollen wir deshalb nicht einen Gott verlangen, der von feinerer Art ist, von unbegrenzterer Liebe, als jene, die ihm dienen?
Ich kann auch verstehen, warum ein Gott sterben muß, wenn ihm nicht erlaubt ist mit der Zeit Schritt zu halten. Ein Gott, der durch unnachgiebige Dogmengrenzen und rituelle Unmöglichkeiten eingeengt wird, paßt nicht länger zu dem gegenwärtigen Zeitalter eines wachsenden Horizonts des Denkens und der Erfahrung. Unsere Zeit verlangt in zunehmendem Umfang geistige Einsicht, um solchen Vorstellungen wie Raumfahrt, Mondlandung und der Wahrscheinlichkeit von Leben auf anderen Planeten, gewachsen zu sein. Das weltweite Überleben mag von einer zunehmenden Anerkennung universaler Prinzipien abhängen.
Der Tod Gottes wurde seit vielen Jahren von der Sekte der Boshaften vorausgesagt, die uns zu überzeugen versuchte, daß nichts in der Kunst wahr sei, es sei denn, sie stelle das Scheußliche dar, daß keine Literatur die Wirklichkeit wiedergäbe, außer sie beschreibe die zerstörenden Neigungen der Leidenschaft und Aggressivität des Menschen, und daß keine Musik begeistere, solange sie nicht nervöse Dissonanzen hinausschmettere. Dieser Versuch, die Künste herabzusetzen, indem man sie als ein Mittel der Zerstörung der Illusionen auf die gemeineren Aspekte des Lebens begrenzt, übersieht, daß das Häßliche selbst illusionär ist. Das Böse existiert nur als Gegensatz zum Guten. Wende die Münze des Hasses, und du wirst die Liebe finden. Die Betonung der negativen Seite ist ebenso unvernünftig wie zu sagen, daß das menschliche Abenteuer nur aus Annehmlichkeit und Licht, aus Sonnenschein und Rosen bestehe.
Die Abwendung von dem Gott unserer Väter scheint jedoch nicht die gewünschten oder erwarteten Ergebnisse zu zeitigen. Wir sind kaum weniger begrenzt, als wir vorher waren; wir sind nicht friedlicher oder zufriedener noch zeigt unser sittlicher Zustand größere Stärke. Wir haben die "Du sollst nicht!" beseitigt, ohne befriedigende Grundsätze anzunehmen, die zu den richtigen Antworten auf die fundamentalen philosophischen Fragen hinführen könnten: Woher kommen wir? Warum sind wir hier? Wohin gehen wir? Mit anderen Worten: Was ist der Sinn des Lebens? Wir nehmen an, daß es einen Sinn gibt. Schon die flüchtigste Untersuchung bestätigt uns, daß in der Natur nichts verschwendet oder vernichtet wird; deshalb kommt und vergeht das menschliche Leben ganz sicher nicht, ohne - außer der nächsten Generation von Menschen - eine Spur seiner vergangenen Existenz zu hinterlassen.
Bei der Suche, die Absicht der Natur zu erkennen, gibt es auch Menschen, die mit Drogen oder Hypnose experimentieren, um Bedingungen zu schaffen, mit denen sie "eine Erforschung der Identität durch Bewußtseinserweiterung" fördern könnten. Wäre diese Forschung auf einige Ärzte oder Wissenschaftler beschränkt, dann wäre die Aussicht nicht so beängstigend, wie sie es gegenwärtig ist. Geschulte Köpfe, die uneigennützig arbeiten, könnten fähig sein, die Forschungsergebnisse mit einem gewissen Grad von Weisheit einzuschätzen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Hypnose in völliger Unkenntnis ihrer Gefahren, von Leuten praktiziert wird, die keine ethischen Qualifikationen besitzen, den Willen eines andern zu beeinflussen, - selbst, wenn eine solche Kontrolle jemals sittlich zu rechtfertigen wäre - und daß LSD und andere Drogen von jungen Studenten als "Anregungen" benutzt werden, dann sind wir gezwungen zuzugeben, daß wir irgendwie unseren geistigen Weg verloren haben.
Halluzinationen hervorrufende Drogen oder hypnotische Suggestionen können keine echte religiöse Erfahrung erzeugen. Es gibt keine Abkürzung zur Erleuchtung. Gewisse Disziplinen müssen eingehalten werden, sonst bildet sich kein qualifiziertes Bewußtsein, mit dem die erhoffte Erfahrung gedeutet werden kann. Dasselbe gilt für jede Art von Information, die man wünscht. Ich betrachte die mikroskopische Arbeit eines befreundeten Wissenschaftlers. Ich kann die Bedeutung der Befunde nicht einmal ahnen, denn ich habe mich dem notwendigen Studium nicht unterzogen. Jede künstlich herbeigeführte Bewußtseinserweiterung muß notwendigerweise ohne Wert sein. Wir können weder in einen Zustand erleuchteter Weisheit hineinkatapultiert werden noch können wir auf einer rosigen Wolke hineinschweben. Der Erfolg einer mystischen Unternehmung wird stets mit Selbstbemühung, uneigennützigem Motiv und rechter Lebensweise beginnen. Diese sind einige der notwendigen Bestandteile; sie kommen nicht in Tablettenform.
Die Gott-ist-tot-Bewegung ist ein Anzeichen für das vorherrschende Gefühl der Enttäuschung in unserer angstgeplagten Zeit. Schnelle Änderungen sind an der Tagesordnung; Wandlungen der persönlichen, nationalen und weltumspannenden Ideen, der intellektuellen Erfordernisse, der sittlichen Einstellungen und geistigen Werte. Für einige bedeuten solche Wandlungen Unsicherheit. Viele sind zu verwirrt oder stehen den Ereignissen zu nah, um zu erkennen, daß dieser Zeitabschnitt eine glänzende Gelegenheit darstellt, sich furchtlos von altmodischen Einstellungen, Konventionen und Sitten zu befreien, die sich als unfruchtbar oder schädlich erwiesen haben. Bei diesem Tun benötigen wir jedoch die Unterscheidungskraft, um an den Fundamenten der Wahrheit und an dem universellen Mitleid festzuhalten, die die Grundlagen der echten Religion sind, befreit von den Bürden des Dogmas, der Riten und der Absonderung. Der geistige Hintergrund der langen Entwicklungsreise des Menschen sollte nicht in einem Moment der Hysterie beiseitegeschoben werden.
Der große Ursprung allen Lebens kann nicht vernichtet werden. Er besteht, obgleich wir ihn nicht begreifen. Er ist in jedem Atom des Universums. Alle Dinge gehen daraus hervor. Eine altehrwürdige Illustration stellt ihn als ein großes Feuer dar, an dem jedes Atom seine kleine Kerze entzündet, ohne die Quelle in irgendeiner Weise zu mindern. Dies ist der Lebensfunke selbst. War es nicht doch unsere Torheit, die versuchte, diese Gottheit mit Worten oder Phrasen zu definieren oder ihr menschliche Attribute zuzuschreiben?
Wie also kann man erkennen, was man als "Willen Gottes" zu bezeichnen gewohnt war, den einige vielleicht Universales Gesetz nennen? Wenn wir dieses Gesetz anerkennen, dann stellen wir fest, daß es wohlgeordnet und klar ist. Es regiert die Sterne auf ihren Bahnen, die Zyklen der Jahreszeiten, welche garantieren, daß ein Mensch was er sät, ernten wird, ob es sich nun um Samen im Erdreich handelt, oder um solche in den mentalen, emotionalen oder physischen Bereichen.
Das Gesetz findet auf alles Anwendung, auf Milchstraßen und auf die allerkleinsten Teilchen, aus denen das Weltall sich zusammensetzt. Keine Fehler werden gemacht, keine Begünstigungen gewährt. Es herrscht absolute Gerechtigkeit. Es ist das perfekte, selbstlose Computersystem. Und genauso wie hinter einem Computer ein Erfinder steht und jene, die die Daten eingeben, muß hinter dem großen Gesetz eine Intelligenz stehen, in der Tat eine stattliche Reihe von Intelligenzen, "Götter", mitfühlend und verstehend.
Es bestehen viele Ähnlichkeiten zwischen den Weltreligionen, deshalb scheint keine Notwendigkeit für Streitereien zu bestehen. Die Vaterschaft Gottes und die Bruderschaft der Menschen sind, wenn auch verschieden ausgedrückt, grundlegend in allen Glaubensanschauungen. Es stimmt, es gibt in der Einstellung zur mystischen Erfahrung einen Unterschied im Denken des Ostens und Westens. So liegt z. B. im Buddhismus, Taoismus und Hinduismus die Betonung auf der Entwicklung der Intuition. Man sucht Vereinigung mit dem Göttlichen durch Selbstdisziplin, durch Einhaltung von Regeln, durch Meditation oder durch Aufsuchung einsamer Plätze, wo man, ungestört durch die Weltspannungen Gelegenheit hat, eine Innenschau durchzuführen.
Andererseits gründete der Westen seine spirituellen Anstrengungen größtenteils auf dem Trachten nach Vereinigung mit Gott als auf der Intuition. In vielen Kirchen war der verstandesmäßige Glaube an Gott wichtiger, als daß man sich schulte, Gott zu erkennen. Glaube und sei gerettet! Andernfalls sei vorbereitet, ewiger Verdammnis gegenüberzutreten. Viele, die der Kirchengemeinde angehörten, gaben vor, denen, die nicht dabei waren, überlegen zu sein. Ein Atheist oder Ungläubiger konnte fast ein Heiliger sein, wenn er jedoch nicht ihren Gott-der-Vater annahm, dessen Wille das Universum lenkt, der aber trotzdem durch Gebete beeinflußt werden kann, dann konnte es für ihn keine Erlösung geben.
Offensichtlich ist diese Gott-Vater-Auffassung, die wir in unseren eigenen Köpfen und nach unserem eigenen Bilde schufen, der Gott, der sterben mußte. Das Naturgesetz der Evolution verlangt, daß wir die sogenannte Sicherheit des Bestehenden, des zu Enggewordenen, verlassen und zu umfassenderen Räumen vordringen.
Wenn uns der Stammesgott, das Sinnbild der letzten paar Jahrhunderte, verlassen hat, so wollen wir ihm ein anständiges Begräbnis geben, ohne Bitternis oder Trauer. Er hat für uns getan, was wir ihm erlaubten. Er konnte von uns nicht verlangt haben, daß wir ihn mit Vorurteil und Verfolgung, mit Inquisitionen und Kreuzzügen verherrlichen. Dies waren unsere eigenen Ideen. Das Abbild, das wir uns von dem universalen Ursprung der Liebe und des Mitleids machten, stirbt jetzt für unsere Errettung!
Wir kannten Ihn nicht.