Hinter dem Tod: neues Leben
- Sunrise 6/1966
In den letzten Tagen des Jahres gibt es keinen unter uns, der daran zweifelt, daß auf den Tod des alten Jahres ein neues folgen wird - ein neues Jahr, erfüllt mit neuem Leben und neuen Gelegenheiten. Mit froher Erwartung halten wir Ausschau nach besseren Dingen. Woher stammt diese Hoffnung? Es wäre sehr gut, wenn wir den Ursprung dieses stets wiederkehrenden Vertrauens in die Zukunft genauer untersuchen würden.
Wenn wir das endlose Schauspiel der jahreszeitlichen Ebbe und Flut betrachten, neigen wir dazu, es als etwas von uns Getrenntes zu halten. Selbstverständlich ist uns der lebenswichtige Einfluß des wärmenden Sonnenlichts bekannt, der uns gemeinsam mit dem Regen die Ernten beschert, die uns ernähren; es fällt uns jedoch schwer, ihn in eindeutiger Weise mit unserem eigenen individuellen Streben in Verbindung zu setzen. Wir unterlassen es, hinter diesem Geschehen eine tiefere Bedeutung zu erkennen - daß es nämlich ohne diesen universalen Rhythmus von Geburt, Reife, Tod und Ruhe keine Kontinuität des Lebens geben könnte.
Was bedeutet dieser gesamte Prozeß für uns? Zuerst, denke ich, sollten wir in Betracht ziehen, daß wir mit dem Lebensstrom, der unsere Erde und unser ganzes Sonnensystem durchdringt, innig verbunden sind und aktiv darin mitwirken. Unsere Sonne und ihr Planetensystem, die im Rahmen einer gesetzmäßigen Ordnung tätig sind, bilden die Bühne, auf der die Natur ihre großartige Rolle darstellt. Jahr für Jahr bietet sie ihren unzähligen Geschöpfen zur rechten Zeit die notwendigen Gelegenheiten, ihre zyklischen Erfahrungen zu ihren festgesetzten Zielen zu durchlaufen. Wie ein einfacher Same zur rechten Zeit seine Schale sprengt und darangeht, sich in einem neuen Vehikel zum Ausdruck zu bringen, so finden alle Wesenheiten, ob elemental, mineralisch, pflanzlich, tierisch oder menschlich, in ihren entsprechenden Lebensbereichen die idealen Umstände, in denen sie wieder und wieder ihren inneren Charakter zur Entfaltung bringen können.
Die Wissenschaften und unsere eigenen Beobachtungen haben uns über die Aspekte vom Entstehen und Wachstum des Lebens bis hin zum Tore des Todes viel gelehrt. Wenn alle Erfahrung hier jedoch enden würde, bestünde für kein lebendes Wesen irgendein Grund zur Hoffnung. Es ist dies jedoch nur die eine Hälfte des Prozesses des ununterbrochenen Fortbestehens. Dank einer fürsorgenden Intelligenz gibt es eine Zwischenperiode der Assimilation und Ruhe. Und dieser ewige Erneuerungsfaktor, das Mysterium der Wiedergeburt der Lebensessenz all dessen, was lebt, wächst und stirbt, ist es, auf dem unsere Hoffnung und unsere Zukunft beruhen.
Hier erinnere ich mich an die Erzählung, in der ein alter Weiser seinen Sohn über den innewohnenden Geist belehrt. Er fordert ihn auf, ihm eine Frucht von einem großen Feigenbaum zu bringen. "Brich sie auf und sage mir, was du siehst." "Nur diese winzig kleinen Samen", antwortete der Junge. "Nun breche einen dieser Samen auf und sage mir, was du siehst?" "Gar nichts", lautete die Antwort. Der Weise erklärte dann, daß dieses unwahrnehmbare "nichts" gerade die Essenz sei, aus welcher der große Baum entstamme; daß alle Dinge identifiziert werden könnten durch die Manifestation dieser innewohnenden Essenz.
Dies ist meiner Ansicht nach der Schlüssel für ein besseres Verstehen der geheimnisvollen und verborgenen Grundlage der Kontinuität des Lebens und des Ursprungs unserer unbesiegbaren Hoffnung. Jeder von uns ist, gleich dem Feigenbaum, das direkte Resultat der Tätigkeit jenes innewohnenden Geistes. Nennen Sie ihn, wie Sie wollen - den Vater im Innern, den Schutzengel, die monadische Essenz des Seins oder jenes unerkennbare Etwas, das selbst den DNS-Molekülen ihre Struktur gibt - es bleibt die Tatsache, daß wir ohne dieses unser innerstes Zentrum ohne Identität, ohne Kontinuität, ohne Hoffnung, ohne Leben umhertreiben würden. Wenn selbst ein winziger Same seine Perioden des Todes, der Assimilation, der Ruhe und Revitalisierung zur Vorbereitung einer neuen Phase seiner Entwicklung durchläuft, warum sollte dann eine solch fürsorgende Natur uns die gleiche Gelegenheit vorenthalten?
Nach vielen Jahrtausenden beginnt der denkende Mensch endlich, seine höheren Fähigkeiten wirkungsvoller auszuüben, nicht nur im Bereich des Intellekts, sondern auch auf dem Gebiet der spirituellen Entfaltung. Nachdem er jetzt weiß, daß diese Erde, seine Heimstatt, viele, viele Millionen Jahre alt ist - und daß er selbst unzählige Jahrtausende des Kampfes benötigte, um den heutigen Zustand zu erreichen - fängt er jetzt an zu begreifen, daß eine ununterbrochene Kette des Säens und des Erntens existieren muß, die ihn noch zu einer weit größeren Erfüllung seiner selbst führen wird.
Das Leben besteht nicht weiter, ohne eine Grundlage zu haben. Es existiert aus sich selbst heraus, gerade wie der Feigenbaum der unsichtbaren Essenz seines Samens entstammt. Und wer kann behaupten, daß wir Menschen nicht einem ähnlichen Plan folgen: Geburt der Seele, Heranwachsen zur Reife, Tod, Assimilation unserer Erfahrungen, Ruhe und Verjüngung, ein erneuter Hunger nach Leben und, zur angemessenen Zeit, Schwangerschaft und Wiedergeburt - um erneut das Werk der Kontinuität aufzunehmen, an dem die gesamte Natur teil hat.
In dieser Zeit, in der wir uns dem neuen solaren Jahr und der baldigen Wiederkehr seiner Kraft und Stärke nähern, ist es für uns natürlich, entsprechend zu reagieren, denn tief im Innern fühlen wir den Lebenspuls eines erhabenen Versprechens, das mit Geburt, Leben, Kreuzigung und Wiederauferstehung unserer vielen Heilande symbolisiert wird, von welchen der Christus genannte der jüngste war. Die Lektion, die in dieser Geschichte unserer fortgesetzten Pilgerschaft eingebettet ist, war nicht leicht zu meistern - es ist das Ringen der menschlichen Seele auf ihrem Weg durch die Finsternis der Unwissenheit zum Sonnenlicht der Wahrheit. Doch gerade in den Wirren, in welche die ganze Menschheit verwickelt ist, finden wir die Samen eines neuen Freiwerdens spiritueller Kraft. Durch alles hindurch erkennen wir die strahlende Glorie der potentiellen und grenzenlosen Gelegenheiten des Menschen, die in der Heiligkeit seines Geburtsrechtes enthalten sind. Allmählich beginnen wir mit Paulus zu verstehen, daß hinter dem Tod der Sieg der Wiedergeburt steht.
Für mich ist die bevorstehende Heilige Jahreszeit wirklich eine heilige Zeit, heilig im höchsten und reinsten Sinne. Lassen Sie uns deshalb, gleich den Weisen der Vergangenheit, den Stern einer helleren Zeit vor uns erkennen und in die Zukunft gehen, beladen mit unseren Gaben für die neu erstandene Menschheit - nicht Gaben von Gold, Weihrauch und Myrrhe, sondern den Gaben unserer eigenen höheren Selbste, unseren eigenen besten Gedanken und Handlungen für unsere Mitmenschen. Dann, und nur dann, werden wir die Freuden erfüllter Hoffnung erfahren und wissen, daß wir mitgeholfen haben, einen neuen Himmel und eine neue Erde zu schaffen.