Warum Wiederverkörperung?
- Sunrise 5/1966
Der Tod ist für die meisten Menschen mit schmerzlichen Empfindungen verbunden. Bezeichnungen wie "Der grimmige Schnitter" und "Der König aller Schrecken" enthalten Ahnungen von bevorstehender Verurteilung, Bestrafung und Verdammnis. Es ist klar, daß diese furchterfüllte Haltung das Ergebnis von Unsicherheit und Unwissenheit ist. Das Heilmittel hierfür ist Erkenntnis. Aber die Hauptfrage bleibt dennoch: Was geschieht mit der Seele nach dem Tode?
Der Tod ist ein Begleitumstand des Lebens. Daraus folgt, daß wir den Tod nicht verstehen können, ohne etwas über das Leben zu wissen. Was ist das Leben an sich, jenes Etwas, dessen Gegenwart den lebenden Körper vom Leichnam unterscheidet?
Vom objektiven Standpunkt aus gesehen erkennt man das Leben an seinen Offenbarungen wie Tätigkeit, Wachstum, zweckmäßiges Verhalten, auf Reize zu reagieren und dergleichen mehr. Weit deutlicher jedoch erkennen wir es an seinen subjektiven Aspekten, an dem, was wir im eigenen Leben durch unser Fühlen, Wollen und Denken erfahren. Der Materialismus schreibt das alles der Tätigkeit des Körpers zu und folgert daraus, daß das individuelle Bewußtsein mit dem Tode des Körpers endet. Doch welchen Beweis kann der Materialismus bringen, um eine derartige Folgerung zu rechtfertigen?
Es ist nicht erwiesen, daß die Materie wichtiger ist als das Leben oder das Denken. Der Begriff Materie ist lediglich eine mentale Abstraktion, die von gewissen Erfahrungen abhängt; und das Leben selbst ist der grundlegende Stoff, aus dem alle unsere Erfahrungen hervorgehen. Unsere täglichen Erfahrungen stehen beständig mit immateriellen Eigenschaften wie Charakter, Temperament, Anstand und Intelligenz in Beziehung, die weit wichtiger als körperliche Qualitäten sind; und in unserem Innenleben bilden Empfindung, Gefühl, Wollen und Denken die primäre Basis der Erfahrung. Daher ist das Argument des Materialisten hinfällig, und wir sind logischerweise berechtigt, die Realität nichtphysischer Dinge zu behaupten.
Der Zusammenbruch der materialistischen Schlußfolgerung läßt die Frage vom Leben nach dem Tode offen, daher steht es uns frei, zu versuchen, den positiven Beweis dafür anzutreten. Vor allen Dingen gibt es keinen wissenschaftlichen Grundsatz, der fester steht als den von der Unzerstörbarkeit von Kraft oder Energie. Nun, das Leben ist gewiß eine Kraft oder Energie. Es muß daher in der einen oder anderen Form, wenn ihm der Körper nicht länger als Ausdrucksmittel dienen kann, fortbestehen. Wie könnte daher das Bewußtsein vernichtet sein? Reale Dinge lösen sich nicht einfach in nichts auf.
Wenn wir die Glaubensbekenntnisse der Menschheit untersuchen, werden wir bemerken, daß es keine menschliche Rasse gibt, wie primitiv oder verbildet sie auch sein mag, die nicht an die Unsterblichkeit des Menschen glaubt; und selbst diese Glaubensformen sind einander auffallend ähnlich. Natürlich besteht immer eine Tendenz, alte und universell geltende Glaubensbekenntnisse gering zu achten und sie primitivem Aberglauben und falschem Denken zuzuschreiben. Aber ist das nicht eher eine Mutmaßung, anzunehmen, daß die gesamte Menschenrasse in etwas fehlgegangen sein soll, das für ihre Wohlfahrt so wichtig ist?
Es ist sicher erwiesen, daß gewisse Aspekte der menschlichen Persönlichkeit den Tod des Körpers überleben. Wenn wir auch falsche Darstellungen und Irreführungen mit in Betracht ziehen, so verbleibt dennoch ein gut Teil Beweise, die bei weitem nicht auf einer materiellen Basis verständlich gemacht werden können. Geistergeschichten sind wohlfeil genug, um über sie zu spotten, aber für jene Menschen, die die Ereignisse, die sie beschreiben, erlebt haben, sind sie Wirklichkeit. Die Literatur aller Völker und Zeiten enthält Berichte, die wegen der großen Ähnlichkeit des Inhalts unbestreitbar auf eine tatsächliche Grundlage hindeuten. Viele untadelige Menschen mit wissenschaftlichen Kenntnissen haben Beweise gesammelt, die die Behauptung rechtfertigen, daß ein Fortbestand irgendeiner Lebensform nach dem körperlichen Tode eine wissenschaftlich begründete Tatsache ist. Die bloße Tatsache solchen Weiterlebens hinterläßt jedoch noch viele unbeantwortete Fragen.
Die mannigfaltigen Religionen und Philosophien in der Welt haben eine Anzahl von Lehren hervorgebracht, die es wert zu sein scheinen untersucht zu werden. Die meist verbreitetste Ansicht im Westen ist, daß einem einzigen Leben auf Erden ein ewiges Leben als Geist folgt, der sich, entweder als Belohnung für Tugend, in einem glückseligen Zustand oder als Bestrafung für schlechte Lebensführung, in einer leiderfüllten Lage befindet. Gewöhnlich wird dieses geistige Leben, ob angenehm oder schmerzhaft, als gegeben und unumstößlich angesehen - eine Annahme, die dem Gesetz des Wachstums, das in der ganzen Natur zutage tritt, einfach zuwiderläuft. Wenden wir uns dem Gedanken der Gerechtigkeit zu, so bemerken wir, daß die Lehre von ewigen Belohnungen und Bestrafungen mit diesem Gesetz unvereinbar ist. Die Gerechtigkeit verlangt einen genauen Ausgleich zwischen Ursache und Wirkung, und ihr ist nicht Genüge getan, wenn endlichen Ursachen unendliche Wirkungen folgen. Welche Summe von Güte in einem kurzen Menschenleben könnte ewige Belohnung und welcher Betrag an Bösem könnte ewige Bestrafung rechtfertigen?
Die Tatsache, daß die meisten menschlichen Wesen weder im höchsten Grade tugendhaft noch im höchsten Grade böse sind, hat einige Religionen dazu geführt, ihren Himmeln und Höllen einen Zwischenzustand der Rechtfertigung oder Reinigung hinzuzufügen, worin man sich schließlich für ewige Glückseligkeit tauglich machen kann.
Eine gänzlich andere Anschauung ist, daß das Leben eines Menschen nach seinem Tode mit dem universalen Leben der Natur verschmolzen sein kann. Das ist z. B. in dem Gedicht von Shelley über den Tod seines Freundes Keats mit folgenden Zeilen ausgedrückt:
"Er ist ein Teil von jener Herrlichkeit geworden,
Die er einst noch mehr verherrlicht hat."
Während dieser Gedanke für manche ästhetisch befriedigend sein mag, wird er schwerlich leidenschaftsloser Analyse standhalten. Welcher Teil einer menschlichen Persönlichkeit würde sich so mit der Natur vermischen und welcher Nutzen würde sich daraus ergeben, sei es für die Persönlichkeit oder sei es für die Natur? Und wie kann ein Selbst, ein Ego, so geteilt sein?
Ein durchaus falscher Begriff, obwohl in manchen Teilen der Welt weit verbreitet, ist der, daß eine menschliche Seele in einem Tier, in einer Pflanze oder sogar in einem Stein wiedergeboren werden kann. Der Einwand hierauf ist in folgender Frage enthalten: Wofür wäre das nützlich? Die tierischen, pflanzlichen und mineralischen Formen der Natur entfalten ganz offensichtlich keine menschlichen Qualitäten. Wäre eine menschliche Seele in solchen Formen eingekerkert, so wäre sie unfähig, menschliche Eigenart auszudrücken. Folglich: Was würde sie aus dieser Erfahrung gewinnen?
Wieder andere behaupten, daß man nach dem Tode auf Erden auf einem anderen Planeten geboren werden kann. Diese Ansicht verrät nur unsere Unwissenheit. Weil wir nichts über die Lebenszustände auf einem Planeten, außer dem der Erde, wissen, können wir diese Möglichkeit nicht kategorisch ablehnen. Warum aber so sehr in die Ferne schweifen, weshalb das Unbekannte und Entfernte zu Hilfe nehmen? Welche Argumente auch immer zur Stützung der Wiedergeburt auf irgend einem andern Planeten vorgebracht werden mögen, so wäre der Gedanke der Wiedergeburt in einem menschlichen Körper hier auf Erden, was man zuweilen als Reinkarnation bezeichnet, doch weit mehr gerechtfertigt. Diese Anschauung ist es wert, sich eingehender mit ihr zu befassen.
Vor allen Dingen steht die Idee der Wiedergeburt als menschliches Wesen in keiner Weise im Gegensatz zu Logik oder Erfahrung. Menschenkörper werden zu allen Zeiten geboren. Wie aber sind die bewußten und intelligenten Individualitäten dieser Körper zu erklären, wenn nicht durch den Eintritt eines nichtphysischen Prinzips oder einer Seele? Indessen, wo kommen diese Seelen her? Hat jeder neugeborene Körper eine Seele, die für ihn neu geschaffen wurde? Oder ist es vernünftiger zu glauben, daß die Seele von einem riesigen Reservoir von Seelen, die bereits vorhanden sind, ausgegangen ist, von Seelen menschlicher Wesen, die in vergangenen Zeiten lebten und starben?
Plato bringt das Schöne und Vernunftgemäße dieser Idee in Phaidon zum Ausdruck, wenn er sagt: "Wenn (wie es augenfällig ist) das Tote aus dem Lebenden entsteht, wo sollte das Lebende herkommen, wenn nicht aus dem Toten?" Das macht alle anderen unerklärlichen Differenzen im menschlichen Dasein verständlich. Warum wurde der eine als ein Idiot geboren, ein anderer als Krüppel, wenn die Seele nicht die Erfahrung in einem mangelhaften Instrument durchzumachen hätte? Andererseits entfaltet ein Genie Fähigkeiten, die es durch Anstrengungen in vielen früheren Leben vervollkommnet hat. Und mancher, der in Verhältnisse geboren wurde, die ihm große Gelegenheiten für Dienstleistungen gewähren, hat das Recht zu solchen Vorteilen durch humanitäre Bemühungen in der Vergangenheit erworben.
Die Reinkarnation sorgt nicht nur für künftige Gelegenheiten, um die gegenwärtigen Fehler und Irrtümer zu berichtigen, sondern zeigt auch, wie die wahren Schwierigkeiten, die uns heute entgegentreten, sich zu Mitteln und Wegen verwandeln, wobei alte Rechnungen bezahlt und frühere Irrtümer verbessert werden können. Wenn wir nach dem wahrscheinlichen Zweck des menschlichen Lebens forschen, was ist dann überzeugender als anzunehmen, daß er darin besteht, der Erfahrung und Entwicklung der Seele zu dienen? Aber die Summe der Erfahrung, die in einer einzigen Lebenszeit verfügbar ist, ist notwendigerweise begrenzt. Die Wiedergeburt jedoch ermöglicht jedem Einzelnen die vollständige Erfahrung der menschlichen Rasse und verschafft ihm die Mittel für unbegrenzten Fortschritt und unbegrenzte Entwicklung. Selbst wenn in einem einzelnen Leben nur ein geringer Fortschritt gemacht wurde, so kann doch die zusammengefaßte Wirkung solchen Fortschrittes von Leben zu Leben letztlich zur Erlangung eines vorstellbaren Zieles der Vollkommenheit führen.
Seit das Prinzip des Ausgleichs von Ursache und Wirkung von den alten Hindus vollkommen verstanden wurde, ist ihr Wort Karma in verschiedene moderne Sprachen, einschließlich der englischen (und der deutschen) Sprache, eingedrungen. Es bedeutet einfach, daß alle Ereignisse im Universum nicht allein das Resultat einer Reihe von Ursachen sind, die durch viele vorherige Ereignisse erzeugt wurden, sondern sie sind umgekehrt auch zur Saat späteren Geschehens geworden. Dieses Gesetz von Aktion und Reaktion ist in seinen Wirkungen universal, es würde aber zu weit führen, allen seinen Verzweigungen nachzuspüren. Es hat den Zweck, daß alle Umstände, die ein menschliches Wesen in einem bestimmten Leben regieren, die Resultate von Ursachen sind, die von ihm in diesem Leben oder in zurückliegender Vergangenheit geschaffen worden sind, und daß alle Handlungen in diesem Leben dazu dienen die Ereignisse zu kontrollieren, die in kommender Zeit auf das menschliche Ego einwirken. Während einer Lebenszeit sind viele Ereignisse Ursachen zuzuschreiben, die im gegenwärtigen Leben erzeugt wurden, und ebenso werden viele Handlungen ihre Wirkungen hervorbringen, noch ehe dieses Leben zu Ende ist. Jedoch werden alle unvollendeten Angelegenheiten eines Lebens in die nachfolgenden Leben hinübergetragen.
Solche Umstände wirken auf unser gegenwärtiges Leben ein. Sie stehen scheinbar außerhalb unserer Kontrolle und betreffen z. B. die Rasse, die Nation, den Zeitpunkt der Geburt, physische Merkmale unseres Körpers und die Umgebung, in der wir aufwachsen. Familienverhältnisse, Erziehung und Verbindung mit anderen Menschen sind die Folge früherer Einflüsse. Scheinbare Zufälle sind durchaus keine Zufälle; denn so etwas wie Zufall oder zufällige Ereignisse gibt es nicht. Alles ist ein dem Gesetz entsprechendes Ergebnis von Ursache und Wirkung.
Wir wollen nun auf einige sehr alte Vorstellungen vom Tode zurückblicken, besonders was die Befreiung der Seele aus der Haft des Körpers betrifft:
Die erste Phase ist das Zurückziehen des Bewußtseinsprinzips aus dem physischen Körper, wobei alle Berührung mit der physischen Welt entschwindet. Nichtsdestoweniger verbleibt das Bewußtsein des Menschen für eine längere oder kürzere Zeit auf einer Ebene nahe der Erde. Aber früher oder später trennen sich die höheren Aspekte des Bewußtseins von den feinen, niederen Trägern durch einen Vorgang, den man als 'zweiten Tod' bezeichnet. Der Abgeschiedene ist daher so bewußt, wie er es im Leben war und verbleibt in diesem Zustand bis zum 'zweiten Tod', der alle Wünsche und jedes Verlangen, die der Mensch früher hegte, auslöscht. Aber in dem Zustand, in dem er sich jetzt befindet, gibt es für diese Wünsche keine Möglichkeit zu physischer Befriedigung. Aus diesem Grunde, da das bewußte Wesen erkennt, daß es von seinen Wünschen getrennt ist, trachtet es früher oder später danach, sich zu befreien - eine Anstrengung, die unterschiedlich ist, je nach dem Grad, in dem es sich mit den persönlichen Annehmlichkeiten des Lebens identifiziert hat.
Wenn die Reinigung von den Wünschen endlich vollzogen ist, erreicht das bewußte Selbst einen Zustand von ungetrübter Seligkeit, in dem alle höheren Ideale und Aspirationen des vergangenen Erdenlebens ihre ganze und vollständige Erfüllung finden. Das entspricht den Himmeln oder Paradiesen, wie sie in den verschiedenen Religionen beschrieben sind, unterscheidet sich aber von diesen dadurch, daß es wohl ein bestimmter, aber kein ewiger Zustand ist. Weil dieser "himmlische" Zustand das Resultat eines endlichen Impulses ist, der nämlich durch die Ideale und Aspirationen des vergangenen Erdenlebens erzeugt wurde, muß er enden, sobald jener Impuls erschöpft ist. Wenn dies der Fall ist, kehrt gradweise der Durst nach dem Leben in einem physischen Körper mit wachsender Stärke zur Seele zurück; und die Seele wird wie durch magnetische Kraft zurück zum irdischen Plan gezogen und als ein Menschenkind geboren. Mit der Geburt beginnt ein Vorgang, der sich den größten Teil des Lebens hindurch fortsetzt; die gradweise Anpassung der Seele an den Körper, in welchem sie sich vorfindet und ihre Bemühungen jenen Körper zu einem besseren Instrument zu machen, damit er fähig ist, seine eigenen ihm innewohnenden Eigenschaften zum Ausdruck zu bringen. Der Zweck des Lebens liegt weiterhin darin, diese eingeborenen Neigungen in einer solchen Weise auszuarbeiten, die es gestattet, die Seele mit den Lektionen zu versehen, die sie zu ihrem eigenen Fortschritt benötigt.
So betrachtet sehen wir, daß der Tod nicht zu fürchten ist. Er ist eine Begebenheit im Leben eines unsterblichen Wesens. Er kommt als Freund, um die Seele von einem abgenutzten Träger zu befreien, der nicht länger seinen Zweck erfüllt, und um der Seele eine willkommene Periode der Ruhe und Erholung zu geben, worin sie die Verwirklichung ihrer Ideale erlangen, die Lektionen ihrer Erfahrungen assimilieren und sich für die nächste Station auf ihrer langen Pilgerfahrt erfrischen kann.
Die Wiedergeburt ist daher das Resultat unwandelbarer kosmischer Gesetze. Das Wissen darüber sollte uns befähigen, zweckdienlicher zu leben, über das Durcheinander persönlichen Ehrgeizes und dem Kampf nach selbstsüchtigen Vorteilen erhaben zu sein. Jedes Erdenleben ist nur als eine Episode innerhalb eines Prozesses von kosmischer Dauer zu betrachten, dessen Zweck es ist, die menschliche Seele bis zu ihrer endgültigen evolutionären Vollkommenheit zu entwickeln.