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Die Quelle der Gerechtigkeit

Viele Dinge, die eintreten, erkennen wir heute durch unsere bessere Aufklärung als gesetzmäßige Einflüsse, die früher jedoch als rätselhafte Heimsuchungen betrachtet wurden. Eines der auffallendsten ist die ansteckende Krankheit. Unsere Vorfahren wußten im allgemeinen nicht, woher sie kam und konnten nur vergebens die Gottheit anflehen. Aber wir, die wir mit sanitärer Einrichtung und Infektion vertraut sind, sind in der Lage, der Seuche durch Anwendung der Naturgesetze zu trotzen. Auch auf moralischem Gebiet lernen wir immer mehr das Naturgesetz als Führer zu beachten, statt eine mysteriöse Zuteilung des Schicksals oder eine unerforschliche Vorsehung verantwortlich zu machen. Das hat uns verständiger und mitleidsvoller bei der Behandlung von Geistesschwachen und Verbrechern gemacht, denn wir begreifen, daß ihr Zustand oft die Folge von Ursachen ist, die ermittelt und beseitigt werden können.

Obwohl wir nun besser ausgerüstet sind, um das Wirken des Gesetzes im ganzen Universum viel besser zu verstehen, sind wir dennoch in mancher Hinsicht vom Ideal noch weit entfernt. Das Gebiet der Wissenschaft war bis jetzt noch sehr eingeschränkt und hat nicht auf den von religiösem Einfluß beherrschten Bereich übergegriffen - unsere moralischen und spirituellen Angelegenheiten. Auf diesem Gebiet sind wir noch all zu sehr in einem Zustand von Chaos und Unwissenheit. Es ist wahr, daß es Menschen mit starkem Glauben und nicht mit jener intellektuellen Wißbegierde belastet, die Zweifel verursacht, möglich ist, Gott als dem Repräsentanten unfehlbarer Gerechtigkeit zu vertrauen; und dieses Vertrauen ist wie ein Licht auf ihrem ganzen Lebensweg. Das ist jedoch bei einer zunehmenden Zahl von Menschen, bei denen die Urteilskraft stärker entwickelt ist als das schlichte Vertrauen, nicht der Fall. Diese leiden häufig unter der Ungewißheit, wie die Begebenheiten des Lebens entstehen. Diese Ereignisse bezeichnen wir als zufällig oder nebensächlich weil wir nicht wissen, wie wir sie sonst benennen sollen, doch deshalb sind sie das nicht.

Wenn wir eine wirklich wissenschaftliche Haltung einnehmen würden, müßten wir zugeben, daß es so etwas wie eine Wirkung ohne Ursache nicht geben kann, und daß es möglich sein muß, das, was uns zustößt, zurück zu verfolgen, wie zufällig und ohne Beziehung es auch erscheinen mag. Jede große Religion hat eine solche Verbindung zwischen unserem Schicksal und unserer Lebensführung bejaht - daß nichts auf uns zukommt, außer dem, was wir zu irgendeiner Zeit, an irgendeinem Ort, selbst verschuldet haben, so daß unsere Rolle im Leben vollkommen gerecht ist. Das ist unter verschiedenen Namen bekannt; einer davon ist das Gesetz von Karma, oder Ursache und Wirkung auf der moralischen Ebene. Aber es wäre falsch, mit dieser bloßen Beschreibung zufrieden zu sein, was auf ein Dogma hinauslaufen würde. Es muß einen Weg geben, für dieses oder ein anderes Wirken der Natur eine Bestätigung zu erlangen, so daß unser Glaube zur Überzeugung, unsere intellektuelle Meinung ein Gegenstand tatsächlichen Wissens werden kann.

Wenn wir versuchen, unseren Glauben an die höchste Gerechtigkeit und Güte des universalen Gesetzes mit unseren allzu beschränkten Ideen über den Zweck des menschlichen Lebens in Einklang zu bringen, können wir zu dem Schluß gelangen, daß die Vorsehung - oder wie immer wir den Göttlichen Oberherren nennen wollen - nicht weiß, was sie vor hat, daß sie unserem Schicksal gegenüber gleichgültig ist, oder daß ihre Entscheidungen grausam und willkürlich sind. Doch die großen Lehrer, von denen Christus einer war, haben den Menschen immer geheissen zu erkennen. Christus sagte seinen Jüngern immer, sie sollten in sich selbst nach dem Lichte der Erkenntnis und nach Erleuchtung durch den göttlichen Geist suchen; und so lehrten Plato, Gautama-Buddha und alle Weisen des Altertums. Es ist der Mensch, der ihre ursprünglichen Lehren entstellt hat, und der erklärte, es sei Sünde zu versuchen, die Wege Gottes zu verstehen. Eine solche Lehre ist gerade das Gegenteil von dem, was jene Weisen lehrten. Wenn wir deshalb in unserem Leben vor etwas stehen, das wie Ungerechtigkeit oder Teilnahmslosigkeit von Seiten der Vorsehung aus erscheint, sollten wir das unserer eigenen Unwissenheit zuschreiben und uns bemühen, unser Wissen zu erweitern. Anstatt uns gegen unser Schicksal aufzulehnen und jeden Versuch aufzugeben, das Rätsel zu lösen, sollten wir weiterhin im Leben beständig darauf warten, daß wir seine Lösung eines Tages finden werden. Eine solche Haltung öffnet unsere Augen für einen neuen Blick, zeigt uns die Richtung, in die wir gehen müssen, und als Folge davon, beginnen wir die Dinge in einer ganz neuen Weise zu sehen.

Natürlich erkennen wir alle das Gesetz von Ursache und Wirkung an, soweit seine Tätigkeit innerhalb des von der Wissenschaft sorgfältig beobachteten Bereiches liegt; warum nicht versuchen, diesen Bereich zu erweitern? Herrscht das Gesetz nur über einen Teil und nicht über die ganze Natur? Ich weiß, daß ich nicht mit nassen Füßen sitzen darf, oder dem Essen und Trinken nicht im Übermaß frönen soll, oder, daß ich nicht in ein Haus gehen darf, in dem eine ansteckende Krankheit herrscht, wenn es die Pflicht nicht verlangt. Aber ich beuge mich in diesen Fällen keiner willkürlichen Vorschrift der Vorsehung; ich befolge ein Gesetz der Natur. Ich bekrittle dieses Gesetz nicht noch suche ich mich ihm zu entziehen; im Gegenteil, ich gehorche ihm bereitwillig und bemühe mich, mit ihm zu arbeiten. Doch warum sollte ich das nur in physischen Angelegenheiten wie Krankheit und Gesundheit tun? Warum nicht meine Studien auf das Gebiet der Moral ausdehnen und dort ebenfalls eine ähnliche bestimmte Erkenntnis und eine gleiche Bestätigung von Gesetz und Gerechtigkeit finden?

Es ist nur ein Schritt weiter, und wir gelangen zu der Überzeugung, daß jedes Ereignis in unserem Leben in irgendeiner Weise, wie weit es auch zurückliegt, zu unserer Lebensführung in Beziehung steht. Die bloße Tatsache, daß wir diese Verbindung gegenwärtig nicht erkennen, ist kein triftiger Grund gegen diesen Glauben. Wir können nicht erwarten, alles auf einmal zu erkennen; es muß irgendwelche Lücken in unserem Wissen geben. Wir können wahrscheinlich nicht erkennen, warum wir zu einer bestimmten Zeit einen schrecklichen Verlust erleiden; aber müssen wir das als zufällig oder als ein geheimnisvolles Walten der Vorsehung ansehen? Ist es so abwegig anzunehmen, daß wir eines Tages genügend Wissen erlangen können, um die richtige Ursache und die Gerechtigkeit selbst bei solchen Ereignissen zu sehen?

Ein Mensch, der in der Blüte seines Lebens erblindet und dazu verurteilt ist, den Rest seines Lebens in einer unbekannten, dunklen Welt zu verbringen, mag wohl sein Schicksal nicht verstehen und mit ihm hadern. Doch, da gerade das zu den unvermeidlichen unvorhergesehenen Möglichkeiten des Lebens zählt, bleibt der einzige Weg, seine Bedeutung zu ergründen, damit wir die Erfahrung ohne Bitterkeit hinnehmen und Nutzen daraus ziehen. Der heimgesuchte Mensch muß sich selbst irgendwie und irgendwann in der Vergangenheit im Leben einen Weg gestaltet haben, der unabwendbar zu diesem Mißgeschick führte. Die Seele trat mit einem Schicksal ins Leben, das dabei jenes besondere Ereignis mit einschloß; es war, was er auf sich geladen hatte, was er am nötigsten brauchte. Wenn wir es genau nachprüfen könnten, würden wir irgendwo in seiner Vergangenheit die andere Seite dieser Rechnung finden - entweder im gegenwärtigen oder in einem früheren Leben.

So wird jeder Mensch mit in der Vergangenheit erworbenen Charaktereigenschaften geboren, die später im Leben reifen. Die Einzelheiten dieser Vorgänge mögen außerhalb unseres gegenwärtigen Gesichtskreises liegen, aber nicht jenseits der Möglichkeit unseres Verständnisses. Ich bin mit einem körperlichen und einem mentalen Instrument ausgestattet, die ihre Vorteile und ihre Nachteile haben. Der Wissenschaft zufolge sollte das zum größten Teil auf meine Eltern und auf die Art meiner Erziehung zurückzuführen sein. Doch wenn es so ist, dann möchte ich wissen, warum mir gerade diese Erbschaft und diese Erziehung zuteil wurden und anderen Menschen wieder andere. Um eine solche Frage zu beantworten müssen wir weit zurückblicken, hinter die Epoche unserer Geburt in dieses Leben. Ich kann mir vorstellen, daß ich manche Seiten meines Charakters übermäßig entwickelte und andere verkümmern ließ, und daß ich mich jetzt bemühen muß, einen Ausgleich zu schaffen. Damit habe ich aber nicht in diesem Leben begonnen, ich hatte die Tendenz bereits. Trotz altmodischen Theorien haben meine Eltern und Lehrer meinen Charakter nicht geformt; ich selbst formte ihn, und ich betrat diese Welt mit einer starken und bestimmten Wesensart, die Forderungen an Menschen stellte und eine bestimmte Handhabung verlangte.

Wenn wir lernen könnten, unser Leben als ein ebenmäßiges Muster zu betrachten, als ein Gewebe, das wir weben, würden wir mehr Vertrauen zu dem Wert unserer eigenen Anstrengungen gewinnen. Wir würden ein Gefühl größeren Vertrauens in unsere Macht haben, unser Schicksal zu beherrschen, weil wir nicht hilflos sind. Denn die großen Moralgesetze, die wir alle intuitiv anerkennen, sind universale Gesetze, die unverbrüchlich gerecht sind und uns das zurückgeben, was immer unsere Handlungen und Gedanken herbeirufen. Im Zentrum unserer Natur gibt es eine Quelle der Gerechtigkeit, die alle Disharmonie in Harmonie umwandeln wird.

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