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Die absolute Zuverlässigkeit des Gesetzes

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Nach Aussage Xenophons erklärte Sokrates Gerechtigkeit als das "Wissen darüber, was dem Menschen gebührt." Gleichermaßen könnten wir Ungerechtigkeit als Unwissenheit darüber erklären, was der Mensch jedem lebenden Geschöpf schuldig ist. Natürlich gibt es viele Grade der Unwissenheit, manche vorsätzlich, andere übernommen. Sie sind das Resultat reiner Dummheit oder die Folge schlechter Gewohnheiten, die das Denken so verdorben haben, daß selbst zeitweilige gute Absichten die Nebel des Vorurteils nicht zerstreuen können. Die unvermeidliche Wirkung der Unwissenheit ist unheilvoll, wenn nicht Wissen auf irgendeine Weise zu Hilfe kommen kann. Aber das bloße Verlangen nach Wissen kann zum persönlichen Vorteil benützt werden, und es wird dann selbst nur zu einer anderen Form von Unwissenheit, die bei dem Versuch, die Welt auf eine höhere Stufe zu erheben, der sicherlich gemacht werden muß, schlimmer als nutzlos ist.

Es wird uns gesagt, und es kann uns gar nicht oft genug gesagt werden, daß Erziehung das Universalmittel ist, das die Menschheit frei machen wird. Aber wer soll erziehen? Wer soll unter den Verfechtern von hundert Sekten und den Schirmherren von tausend Anschauungen, die alle darauf bestehen, daß ihre Methode und nur ihre Methode die richtige sei, unterscheiden? Da gibt es jene, die sagen, die Bibel sollte strikt aus den Schulen verbannt werden. Andere wieder bestehen darauf, daß sie die Grundlage für jede Erziehung bilden sollte. Es gibt Vertreter des rein technischen Lehrplanes; andere sind für akademische oder berufliche Schulung; wieder andere sind für ein militärisches System oder betonen, daß nichts so wichtig ist, wie eine Erziehung zu guter Bürgerschaft. Niemals gab es eine Zeit, in der so viel Geld für Erziehung ausgegeben und so viel Fächer in den Schulen gelehrt wurden. Aber wer soll den Vertretern dieser oder jener Theorie vertrauen, wenn sich so wenige unter ihnen einig sind und so viele Methoden nur ausgedacht zu sein scheinen, um bestehende und willkürliche Sammlungen von Prinzipien aufzustellen und die Entfaltung individuellen Denkens zu verhindern?

Die Unwissenheit unter der die Menschheit leidet, bezieht sich nicht auf Tatsachen, sondern auf Prinzipien, auf gewisse grundlegende Tätigkeiten der Natur, die von Anfang an das Erbe des Menschen waren. Eine davon ist, daß es kein Entrinnen vor den Folgen gibt, daß keine Handlung von ihrer unvermeidlichen Wirkung getrennt noch von dem Handelnden abgesondert werden kann, gleichgültig, ob die Handlung in Liebe, Haß oder Unwissenheit geschah. Bei einem Gerichtsverfahren gilt, daß Unwissenheit keine Entschuldigung bildet, und so ist es auch in der Natur: Unwissenheit bewahrt keinen Menschen vor Schaden, wenn er den Draht einer Hochspannungsleitung berührt oder kein Tier, das in eine Falle tritt. Wenn eine Million Menschen beschließen würden, daß kein Erdbeben stattfinden soll, würde sich dann das Naturgesetz ändern, um sich ihrem Entscheid zu fügen? Bauen die Menschen unwissentlich ihre Städte über einer Spalte in der Erde auf, dann ernten sie die Folgen und nicht die Natur.

Wenn jedermann voller Gewißheit wüßte, daß er jedes Unrecht, das er tut, wieder gut machen und in Ordnung bringen muß, wer würde dann noch ein Verbrechen begehen? So ist es aber tatsächlich, und es gibt kein Entrinnen davor. Der Trugschluß der Theorie von nur einem Leben, daß dreimal zwanzig und zehn Jahre die Gesamtsumme der Erfahrungen des Menschen umfassen, ist die unwissentliche Täuschung, daß der Mensch Unrecht tun kann und nicht bis zum letzten Heller dafür zu bezahlen braucht. Von der Perspektive vieler Leben aus betrachtet gibt es kein Entrinnen durch das Tor des Todes, denn der Tod ist nur eine Zwischenperiode zwischen zwei Leben, und wir müssen zur Erde zurückkehren, um aus bloßer Gerechtigkeit die Wirkungen von allem, was wir taten oder ungetan ließen, zu erfahren. Gerade hier versagen die Kirchen. Sie predigen die Bergpredigt, lullen aber das Gewissen mit Fabeln von stellvertretender Erlösung in Schlaf und erfinden die Vergebung der Sünden auf dem Totenbett, um die Ungerechtigkeit ihrer Lehre zu verhüllen.

Wir brauchen keine prunkvollen Rituale, keine Fastenregeln oder zensierten Gebete. Die ganze Herrlichkeit der Natur, Sonne, Mond und Sterne, die Jahreszeiten und die Meere, das Gras - selbst die Insekten - geben in der Stille Zeugnis für die Wahrheit. Und das Gebet in seiner höchst vorstellbaren Form bestätigt die Gerechtigkeit. Denn die Gerechtigkeit läßt ihrer nicht spotten, wenn auch der Mensch in Unwissenheit über ihr unveränderliches Gesetz seiner selbst spottet. Kein Pessimismus kann der Wahrheit Abbruch tun, daß die Menschen Wohltat ernten, wo sie Wohlwollen säten; kein Optimismus kann die Folgen der Übeltaten abwenden.

Das Gesetz der Natur arbeitet still, aber unerbittlich. Wahltumulte und das Donnern eines konzentrierten Artilleriefeuers vermögen es ebensowenig zu ändern oder aufzuheben wie die zum Gewölbe einer Kathedrale empor gesungenen Psalmen nicht imstande sind die Aufeinanderfolge von Tag und Nacht aufzuhalten oder die Stellung des Polarsternes zu verändern. Das Gesetz wirkt still, aber nicht im Verborgenen: was der Mensch sät, das wird er ernten. Wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen. Was du nicht willst, das man dir tu, das füge keinem andern zu. Hier wird niemand wegen eines über uns kommenden Unheils getadelt. Es gibt keinen bequemen Seitenausgang zur Erlösung durch die Vermittlung eines anderen Menschen oder durch auf dem Totenbett gemurmelte Reue, wenn die Konsequenz übler Taten keine weitere persönliche Bedeutung mehr zu haben scheint. Eine Zeile in einem Gedicht von Rudyard Kipling drückt das ganz deutlich aus: "Die Sünden, die du tust nach und nach, wirst du bezahlen Stück für Stück."

Uns wurde die große Verantwortung auferlegt, unser eigenes Schicksal zu schaffen. Wir besitzen die Würde wahrer Göttlichkeit und die Macht, uns selbst zu beherrschen und zu erziehen. Das Gesetz sorgt überall für Ausgleich und mißt die genaue Wirkung für jeden Gedanken und jede Handlung, deckt jedes verborgene Motiv auf und bucht genau. Es geht keine Energie verloren. Eine im Interesse der Bruderschaft gemachte Anstrengung ist ihres Ergebnisses so sicher, wie die Multiplikation von drei mit drei, ganz gleich, was alle Glaubensbekenntnisse verkünden oder alle gesetzgebenden Körperschaften sich in dieser Hinsicht zu tun bemühen. Weder der Mensch noch Kataklysmen noch Gott können ein Detail der Vergangenheit auslöschen oder einem Menschen helfen, sich um seinen vollen Anteil an Verantwortlichkeit zu drücken.

Unser Universum besteht nicht aufs Geratewohl. Jeder Mensch, jedes Insekt, jedes unwägbare Atom befindet sich genau in dem Zustand, den er oder es verdient, in dem sie den Folgen aus der Vergangenheit gegenüber treten müssen, um durch aufgespeicherte Kraft aus früherer Erfahrung zu lernen und so durch selbstgeleitete Entwicklung höheres Bewußtsein zu entwickeln. Pflicht ist der Grundton, Pflicht und Verantwortlichkeit: die Pflicht, uns selbst so zu schulen und zu beherrschen, daß jeder Gedanke und jede Handlung das Leben erhabener und für andere reibungsloser gestalten; Verantwortlichkeit vor dem höheren Gesetz.

Ununterbrochen birgt jeder Augenblick für jeden Menschen diese drei wesentlichen Dinge in sich: Pflicht, Verantwortlichkeit und Gelegenheit. So sicher wie ein Same in der Stille zum Leben erwacht, Granitfelsen auseinanderbricht und aufwärts dem belebenden Licht entgegen wächst, kann und muß schließlich jeder Mensch den geheimen Eingebungen seines Herzens gestatten, in ihm zu wachsen und sich auszudehnen, bis seine Gefängnismauern fallen und er als ein neuer und trefflicherer Mensch hervortritt. Tatsächlich gibt es kein berechenbares Ende, keine Grenze für die Höhen, die jeder von uns erklimmen kann. Verantwortlichkeit erzeugt Verantwortlichkeit. Jede als solche erkannte, aufgenommene und getane Pflicht zieht eine größere Pflicht nach sich und die Macht, sie wirksam zu erfüllen. Niemand kann sagen, wessen Pflicht die größte und wessen Pflicht die geringste ist. Eine dargebotene Hand für jemanden, der sich in Schwierigkeiten befindet, ein am rechten Ort und zur rechten Zeit gesprochenes Wort, ein unternommener oder nicht unternommener Schritt, können unermeßliche Folgen haben - ausschlaggebend ist das Motiv.

Solange wir diese Ideen, die ältesten in der Welt, nicht überdenken und in uns aufnehmen, wird in uns nicht jenes Wissen erweckt, welches das Herz zum singen bringt und das die Erkenntnis des Zweckes und der Gerechtigkeit des Universums aufdämmern läßt. Einmal erkannt, bringen die Dualität und die Göttlichkeit des Menschen Heiterkeit mit sich und einen umfassenden Überblick über die endlose Evolution, in der wir während einer erhabenen Ewigkeit, in der kein Stein verloren geht, immer aufwärts gehen und kein Gedanke ohne genaue, ihm entsprechende Vergeltung bleibt. Denn wir sind Brüder der Sterne, des Windes und des Regens, und auch des schimmernden Sonnenlichtes auf azurner See.