Tinte verblasst, das Denken bleibt
- Sunrise 3/1966
Wir freuen uns über unsere Fähigkeit lesen und schreiben zu können und werten das als Beweis für die Überlegenheit des modernen Menschen seinen Vorfahren gegenüber. Jedoch der Mangel an geschriebener Literatur muß nicht bedeuten, daß es damals keine Zivilisation gab. Der in Ruhestand getretene Prof. Alexander Thom, z. B., der Professor der technischen Wissenschaft an der Universität Oxford war, sagte, daß die alten Britannier, die vor tausenden von Jahren massive Steinbauten ausführten, zu deren Errichtung wissenschaftliche Richtlinien befolgten. Nachdem er das mathematische Wissen erläutert hatte, das sie angewandt haben mußten, schloß er in einem am 12. März 1964 in The New Scientist erschienen Artikel:
Sie schrieben ihre Erkenntnisse in Stein, und es ist durchaus möglich, daß diese Monumente dazu bestimmt waren, einen esoterischen Bericht über ihre mathematischen Kenntnisse sicher aufzubewahren.
Das ist kein vereinzeltes Beispiel, denn wir haben Bauten und Überreste, die Zeugnis von der Beschaffenheit alter amerikanischer Zivilisationen ablegen, deren zeitgenössische Schriften ebenfalls verloren gingen. Das gilt auch für die chinesischen Kulturen, deren Bronzen tausende von Jahren v. Chr. zurück datiert werden, deren Literatur jedoch nur als schwacher Hinweis in den Seiten späterer Autoren existiert, die entweder aus dieser Literatur schöpften oder sie nur nebenbei erwähnen.
Wir haben nicht viel mehr als diese Hinweise erhalten, weil Worte, auf leicht verderblichem Material wie Papier geschrieben, verloren gehen. Alte Tempel, Häuser und andere Bauten waren nicht immer mit Malereien ausgeschmückt und wenn sie es waren, entziehen sich die in den Symbolen liegenden Bedeutungen unserer Kenntnis. Es scheint fast, daß der regenerierende Geist des Menschen im Verlauf der Jahrtausende von einer zu starken Ausdrucksweise der Vergangenheit abgegangen ist. Dieses innere Element, der wirkliche Schöpfer in ihm, zieht es augenscheinlich vor, archaische Begriffe neu zu gestalten, neu zu schaffen oder ihnen neuen Ausdruck zu verleihen.
Vielleicht betonen wir heute die Wichtigkeit des geschriebenen und gesprochenen Wortes, des Vehikels für die Übertragung unserer Gedanken zu sehr, indem wir stilistische Formen in den Mittelpunkt stellen und die inneren Bedeutungen außer acht lassen. Wenn wir die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben als eine verhältnismäßig neue Errungenschaft betrachten, so legen wir auf Kosten des Wirklichen zu viel Betonung auf den trügerischen Aspekt. Das heißt, wir haben vielleicht mit Erlangung unserer eigenen Art Literatur etwas Wertvolleres verloren - eine bewußte Verbindung mit unserer Intuition, der Quelle unseres wahren Wissens.
Plato erzählt uns in Phaidros eine interessante Geschichte, die diesen Gedanken gut erläutert. Eines Tages trat an einen weisen König von Ägypten sein oberster Minister heran, der Gott Thot, und erbot sich, das Volk seine neue Erfindung des Schreibens zu lehren. Der König erwiderte, daß er das Gesuch gerne gewähren würde, erklärte jedoch, daß die Menschen dabei mehr verlieren als gewinnen würden:
Der Vater oder Erfinder der Kunst ist nicht immer der beste Beurteiler des Nutzens oder Schadens seiner eigenen Erfindung für die, denen sie zugedacht ist. Und in diesem Falle hättest du als der Vater der Buchstaben in väterlicher Liebe zu deinen Kindern das Gegenteil von dem genannt, was sie bewirken; denn diese deine Erfindung wird in der Seele der Lernenden Vergessenheit einflößen, denn sie werden ihr Gedächtnis nicht mehr benützen. Sie werden sich auf die äußerlichen Schriftzeichen verlassen und sich nicht selbst erinnern. Das Besondere, was du entdeckt hast, ist nicht eine Hilfe für das Gedächtnis, sondern für die Rückerinnerung, und du vermittelst deinen Schülern nicht die Wahrheit, sondern nur den Anschein der Wahrheit; sie werden viele Dinge hören und werden nichts gelernt haben; sie werden scheinbar allwissend sein und gewöhnlich nichts wissen; sie werden eine langweilige Gesellschaft sein, die scheinbar aber nicht wirklich weise ist.
(Diese Kunst, König, wird die Ägypter weiser machen, und sie wird ihr Gedächtnis stärken; denn als ein Mittel für den Verstand und das Gedächtnis ist sie erfunden. Jener aber erwiderte: Kunstreichster Theuth, der eine versteht es, eine Kunst zu erfinden, der andere ist imstande zu beurteilen, wieviel Schaden und Vorteil sie denen bringt, die sich ihrer bedienen wollen. So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben in väterlicher Liebe das Gegenteil von dem genannt, was sie bewirken. Diese Erfindung wird nämlich den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen, weil sie das Gedächtnis vernachlässigen werden; denn im Vertrauen auf die Schrift, werden sie sich nur äußerlich vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich aus sich selbst erinnern. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel erfunden, und von der Weisheit bringst du deinen Lehrlingen nur den Schein bei, nicht aber sie selbst. Denn wenn sie nun vieles ohne Unterricht erfahren, werden sie sich auch für Vielwisser halten, während sie doch größtenteils unwissend und schwer zu behandeln sind; denn scheinweise sind sie geworden, nicht weise.
- Platons Phaidros, Kapitel 59, übers. von Friedrich Schleiermacher)
Mit anderen Worten, indem sie sich auf äußere Vermittler stützen würden die Menschen ihre spirituelle Unabhängigkeit verlieren.
Die bisherigen Ereignisse scheinen diese Auffassung zu rechtfertigen. Wissen ist heute gewöhnlich eine bloße Anhäufung von Information über Dinge und Ereignisse, die in vernünftige Ordnung und Kontrolle gebracht werden. Wir bauen auf unsere Fähigkeit, alle diese Sachen zu ordnen und ignorieren oft die Intuition oder unser inneres Verständnis oder mißtrauen ihnen. Manche Gelehrte gehen soweit, daß sie die Intelligenz der Menschen früherer Zeitalter nur danach einschätzen, ob sie schreiben konnten oder nicht! Dies führt zu der Vernunft widersprechenden extremen Anschauungen; der Entwurf und die Herstellung feiner Juwelier- und Töpferarbeiten wurden zum Beispiel ungeschickten, phantasiearmen Rassen zugeschrieben. In teuren Büchern, die Photographien dieser exquisiten Gegenstände enthalten, werden die 'primitiven' Künstler Halbwilden gleichgestellt!
Das Werk menschlicher Hände ist letzten Endes das Produkt ihrer Vision oder Imagination. Die Menschen sind größer als ihre Körper und geben nicht nur den emotionalen Impulsen Ausdruck. Sokrates wird als gewöhnlich, wenn nicht häßlich beschrieben, aber die Schönheit seines Charakters verlieh ihm Großartigkeit. Alcibiades soll gesagt haben, diese innere Schönheit verklärte die äußere Erscheinung seines Lehrers. Worin lag diese Eigenschaft, daß er ernsthafte und auch besonders begabte junge Menschen und alle weiteren Generationen bis zum heutigen Tage beeinflussen konnte? Derartige Erkenntnisse, wie sie von ihm wiedergegeben wurden, sind für das Gute ebenso überzeugend in unserer Zeit, wie sie es zu seiner Zeit waren.
Sein Schüler Plato betonte die Notwendigkeit, den Teil der menschlichen Natur zu erkennen, dem die Intuition entspringt. Viele andere von heute anerkennen ebenfalls die intuitiven Lichtblicke, die die Unklarheit menschlicher Probleme aufhellen; und die sogenannten Mystiker sind nicht die einzigen, die für diese Fähigkeit Zeugnis ablegen. Einige unserer glänzendsten Wissenschaftler wie Einstein und Kekulé sagten, daß sie die Verstandestätigkeit nur bis zu einem gewissen Punkt führen konnte, wo sie dann vor einer massiven Mauer zu stehen schienen. Schließlich zerstreute ein Lichtblitz aus ihrem inneren Wesen die Hindernisse auf ihrem Weg.
Das bringt uns zu dem Punkt, wo wir imstande sind, die Sprache in ihrer zweifachen Rolle zu sehen: sie kann frei machen oder Begrenzungen auferlegen. Gelehrte formen Definitionen zurecht, um sie als Präzisionswerkzeuge zur Beweisführung, als Richtschnur für ihre Experimente und für andere Zwecke zu benützen. Aber gerade diese Präzision birgt die Kehrseiten ihres Wertes in sich, denn sie trägt dazu bei, das freie Fließen von etwas uns innewohnendem aufzuhalten. Es stimmt, daß der Verstand ein Teil unserer Natur ist und seinen rechtmäßigen Platz hat. Der Verstand kann Ereignisse und Dinge auf seiner eigenen Ebene oder den Ebenen unter ihm studieren und prüfen. Aber alles, was über ihn hinausgeht, kann ihn nur zu Vermutungen und wilden Spekulationen verleiten, wie erhaben diese mit ihren hochtönenden Namen auch immer erscheinen mögen.
Früher schon wurden Versuche unternommen, die Sprache von den Krusten zu befreien, die sich in jeder Generation anhäuften. Viele Schriften enthalten bedeutende Symbole mit mehr Macht, als ihre 'Schöpfer' wußten - wie konnten sie auch alles erfaßt haben, was die nachfolgenden Generationen nachlesen wollten? Die bedeutendsten mystischen Schriftsteller, wie Meister Eckhardt, die Autoren der Ereignisse im Neuen Testament und des Tao-te-king, der Bhagavad-Gîtâ, der Stimme der Stille und viele andere verliehen ihren Werken eine dynamische Kraft. Sie sprechen selbst heute noch zu uns, die Macht ihrer universalen Ideen stellt mit jedem der Leser eine Art inneren Kontakt her.
Es wird berichtet, daß Plato am Anfang seiner öffentlichen Arbeit lieber mit den Leuten sprach, als seine Gedanken schriftlich niederzulegen. Später wurde er überredet zu schreiben und er wählte die Form des Dialoges, vielleicht wegen seiner anregenden Form. Er versuchte manche Beschränkungen durch die Anwendung von Mythen zu überwinden. Die lebendigen Geschichten, die er erzählte, und die ein andermal von ihm benutzten Analogien (wie der Wagenlenker als Symbol für das menschliche Wesen) besitzen noch immer die Kraft, die finstere Unwissenheit in ein klares Verstehen umzuwandeln.
Wiederum im Phaidros z. B. schließt er die bedeutende Mythe ein, die den Aufstieg der Seele zu ihrer Quelle nach dem Tode und ihre darauf folgende Rückkehr zur Wiedergeburt auf Erden erläutert. In dem gleichen Werk befinden sich anregende Stellen, die den Unterschied zwischen der irdischen und der himmlischen Liebe ausführlich darlegen. Aber der wichtigste Hinweis seiner Überzeugung ist vielleicht die Erklärung in seinem Siebenten Brief (im hohen Alter an die Angehörigen und Gönner des Dion von Syrakus gesandt), daß die höchsten Wahrheiten niemals niedergeschrieben werden können: "Ich habe keine Abhandlung über diese Dinge geschrieben noch werde ich jemals eine schreiben." Auch Plotin bekannte seine Abneigung Ideen niederzuschreiben, weil er die Wirkungen des Dogmatismus fürchtete. Er folgte Plato, wenn er sagte, daß die durch das miteinander Sprechen hergestellte persönliche Beziehung vorzuziehen sei, denn sie macht es jedem einzelnen möglich, die Tore des Verständnisses, soweit es ihm möglich ist, zu öffnen, und so die abtötende Wirkung der buchstäblichen Auslegung zu vermeiden.
Die frühesten Dichter und religiösen Lehrer trugen ihre Verse vor. Ihre Zuhörer behielten sie nicht als Worte, deren man sich genau erinnern mußte, sondern vielmehr wegen der in der Dichtung oder Darlegung enthaltenen Ideen oder Bilder im Gedächtnis. Auf diese Weise wurden die in den Lehren enthaltenen Gedanken Zeitalter hindurch überliefert. So war es im Orient wie auch im frühen und mittelalterlichen Europa, wo tausende von Zeilen, vielleicht nicht immer wörtlich, aber sicherlich in den unsterblichen Begriffen, wiedergegeben wurden.
Schöpferische Künstler waren imstande uns ihren Stempel aufzuprägen, weil die Macht ihrer Inspiration viel tiefer aus ihrem Innern kam, als das schlußfolgernde Gemüt - aus einer Ebene der Wahrnehmung, wo Ideen universaler Reichweite und Nutzanwendung zu finden sind. Und so kam es, daß manche Dichter die von der Ursache zur Wirkung fließende Strömung sich zu eigen machten und folgedessen zukünftige Zeitströmungen voraussagten. Wir brauchen daher niemals zu fürchten, daß die Erzeugnisse und Erfindungen des menschlichen Genius wirklich verloren gehen. Was hat es zu bedeuten, wenn sie möglicherweise zu Staub zerfallen werden? Material, das als unverderblich betrachtet wird, ist in Wahrheit durch Einwirken von Zeit und menschlichen Unvermögens zerbrechlich oder vergänglich. Und wenn alle Bücher, die je geschrieben wurden, in einem Augenblick vernichtet werden sollten, so würde der Mensch immer noch die Kräfte in sich haben, neue zu schaffen. Die Essenz all seiner Schöpfungen kam aus seiner Seele - dem Speicher seiner Vergangenheit, aber auch der Quelle seiner zukünftigen Größe.
Das Einzige, was der Erhaltung wert ist, wird im Menschen verwahrt, denn er trägt es in jenem Teil seiner Natur, der sich in der Entwickelung befindet. Seine Möglichkeiten sind daher unbegrenzt, und kommende Zeitalter werden weiterhin immer mehr seiner verborgenen Fähigkeiten enthüllen. Vielleicht ist es das, worum sich die Religion in Wahrheit bemüht: ein Mittel, um zu einer Eigenschaft in uns in Verbindung zu treten, die als der Gott im Herzen eines jeden Menschen, als der Christos in allen, symbolisiert wurde.