Der Mensch, sein eigener Offenbarer
- Sunrise 2/1966
Die Überlieferung berichtet, daß es einst ein Goldenes Zeitalter gab, in dem alle Menschen eine Sprache redeten und Intoleranz unbekannt war. Aber das Element der Zwietracht fand Eingang und richtet in der Welt immer noch Verwüstung an. Die Archaische Philosophie drückt es etwas anders aus, indem sie sagt, daß - einem universalen Gesetz der "Evolution und Involution" zufolge, der menschliche Geist seinen Zustand der Unschuld verließ, um zur Erneuerung der Welt und zur Erweiterung seiner eigenen Erfahrung in die Materie hinabzusteigen, wodurch sich die Rasse schließlich durch die Sphäre des Chaos zu den goldenen Höhen der Harmonie emporarbeiten wird. Die Zwietracht wurde als eine zeitweilige Erfahrung, als Eigenart dieser Stufe unseres Wachstums betrachtet, für jeden überwindbar, der in seinem eigenen Herzen nach der Quelle wahrer Weisheit sucht. Das Anwachsen des Materialismus, gemeinsam mit übertriebenen Gefühlsausbrüchen und einer verfallenden Religion, haben den praktischen Verstand veranlaßt, alles mißtrauisch zu betrachten, was an Metaphysik grenzt. Tatsache ist jedoch, daß ohne ein umfassenderes Wissen über die zusammengesetzte Natur des Menschen, das Phänomen der spirituellen Erleuchtung nicht erklärt, und nicht dort eingeordnet werden kann, wo es wirklich hingehört.
Den Alten zufolge ist der Mensch eine in einem Körper inkarnierte Seele und mit ihm durch das Gemüt verbunden, welches zweifach ist, wobei das niedere Gemüt nur eine Funktion des Körpers darstellt, während das höhere die Essenz der Seele widerspiegelt, das wirkliche und dauernde Selbst, welches das menschliche Ego überschattet. (Das Wort Seele wird von den verschiedenen religiösen und philosophischen Schulen ungenau gebraucht für irgendwelche oder für alle Zustände des menschlichen Bewußtseins, die über dem animalischen liegen.) Wenn wir den Ausdruck gelten lassen, der einen Zustand beschreibt, der in der Mitte zwischen wahrer Göttlichkeit oder Spiritualität und dem rein Animalischen oder dem Materiellen liegt, können wir auf jene höhere Erleuchtung blicken - die die inspirierende Kraft hinter jeder wahrhaft schöpferischen Anstrengung ist - ein Zustand, in dem das Gemüt das Licht des Göttlichen klar widerspiegelt. Der Mensch, der damit zufrieden ist, wie ein Tier zu leben, degeneriert, denn Animalismus ist für den Menschen tatsächlich unnatürlich und entehrend. Unverkennbar ist es seine Mission, sich zu erhabeneren Zuständen zu entwickeln, als er gegenwärtig meistern kann. Dazu ist er mit den feineren Fähigkeiten des Gemütes ausgestattet und kann sie gebrauchen wenn er will: er kann zu großen Höhen emporsteigen oder tiefer als die Tiere sinken.
Es kann schon sein, daß das Gemüt den Menschen veranlaßte, "in die Hölle hinabzusteigen", wie es die Mysteriendramen schildern, damit er gezwungen wäre, sich durch eigene Anstrengungen von den Täuschungen der Sinne zu befreien und sich so zur Selbsterkenntnis zu erheben. Und wenn er sich selbst täuscht? Mit der Zeit wird er lernen, daß seine Begrenzungen selbstauferlegt und seine Möglichkeiten zum Fortschritt unbegrenzt sind. Die Täuschung kommt daher, weil die Bilder verzerrt gesehen werden: Die Sehnsucht ist die Triebkraft, die den Spiegel des Gemütes so einstellt, daß er das Licht des inneren Gottes "aufleuchten" lassen kann - die wahre Bedeutung von Epiphania. So ist moralisches Verhalten oder Selbstdisziplin die erste Pflicht des Menschen; davon hängt sein Fortschritt ab, denn der die Wahrheit reflektierende Spiegel bleibt von sich aus nicht unbewegt.
Die Zivilisation mit ihrer Pflege der Künste und Wissenschaften, Religionen und Philosophien, ist ein Mittel zu diesem Zweck. Tatsächlich ist die menschliche Geschichte ein langer Bericht über den Aufstieg und den Verfall einzelner Menschen und ganzer Rassen in ihrem Bemühen in diesen Richtungen. Gewisse Völker waren für die Anziehungskraft der einen oder anderen Kunst besonders empfänglich: für Musik, Literatur, Malerei, Bildhauerei oder Dichtkunst. Andere folgten eifrig dem Ruf der Religion. Wir könnten sagen, eine Nation hat eine überwiegend künstlerische, religiöse oder wissenschaftliche Veranlagung, aber zur Zeit ihres Erwachens oder ihrer Renaissance scheint in ihr eine Gruppe von Seelen geboren zu werden, die, jede auf ihrem Gebiet, für eine Wiederbelebung alter Ideale zusammenarbeiten. Der Zivilisationsprozeß hängt, wie es scheint, sehr von der periodischen Wiederentdeckung dieser Ideale ab, und in diesem Sinne können die Künste als ein Hauptfaktor in der Evolution des Menschen betrachtet werden. Sie bilden die Hilfsmittel, durch die die alten Wahrheiten erneut ans Licht gebracht und nutzbar gemacht werden können.
Wir sind alle Schüler in der Schule des Lebens und müssen viel lernen; aber wir können aus allen Ideen, denen die großen Lehrer aller Rassen und Zeitalter Ausdruck verliehen, Nutzen ziehen, um unsere eigenen Ideen über die verschiedenen Zweige des Baumes der Weisheit zu klären. Eines ist gewiß: wir erleben heute drastische Veränderungen. Soviel ist bereits zerstört gewesen, daß die Arbeit des Wiederaufbaues einen immer imponierenderen Umfang annimmt, je mehr die Tage zu Jahren werden und die Institutionen und Traditionen von gestern verschwinden. Doch obgleich sich alle Formen ändern, die Prinzipien der Zivilisation bleiben unverändert. Die Kräfte der Zerstörung tun ihr Werk, aber jene der Wiederherstellung sind ebenfalls versammelt und bringen sich in allen Richtungen als Erneuerung zum Ausdruck.
Es ist durchaus möglich, daß unsere gegenwärtigen Prüfungen dazu beitragen können, unsere Augen für das tatsächliche Vorhandensein spiritueller Kräfte in einer materiellen Welt zu öffnen und uns zu befähigen, die tiefer liegenden Quellen schöpferischer Kunst, die mit der in uns latenten Spiritualität verbunden sind, wahrzunehmen. Ich glaube, wir sind mit der augenblicklichen Beschäftigung, uns durch eine Tätigkeit, die nur unseren sinnlichen Wahrnehmungen Vorschub leistet abzulenken, mehr und mehr unbefriedigt. Auch mit dem technischen Fortschritt allein sind wir nicht mehr zufrieden. Können ist in jedem künstlerischen Bemühen notwendig, aber es sollte ein Mittel zu edlerem Zweck sein. Es sollte Verständigung hervorrufen. Natürlich gibt es in diesen Dingen keine allgemeine Übereinstimmung, sonst wäre die Welt voller Frieden und alles wäre in Ordnung. Glücklicherweise sind die Künste keine Ursache für Krieg; und das unterscheidet ihr Streben von dem der Religion.
Da weltumfassende Verbindungen den Bereich menschlicher Sympathien erweitern, werden wir in unserer Beurteilung jener, die wir früher (und oft irrtümlicherweise) als Wilde oder Barbaren bezeichneten, vorurteilsfreier. Das Wachsen der Erkenntnis trägt bei, klar zu machen, daß es fast unter allen Völkern, selbst unter den rückständigsten, Überlieferungen und auch Beweise von früherer Größe gibt. Diese Tatsache untergräbt die Theorie vom allmähligen oder ununterbrochenen Aufstieg des Menschen und spricht für den zyklischen Aufstieg und Verfall der Kulturen der Rassen. Die Künste und Wissenschaften, wie auch die großen religiösen und philosophischen Systeme beginnen zu verfallen und nahezu zu verschwinden, nachdem sie ihren Gipfelpunkt erreichten, um anderswo unter anderen Rassen, die gerade eine Renaissance oder eine Wiedergeburt durchmachen, neu belebt zu werden. Das kommt gewöhnlich rasch und nicht durch einen langen, sich dahinschleppenden Vorgang zustande.
Mit der Zeit kommen wir vielleicht soweit, die Zivilisation als ein Werk der Evolution zu betrachten, die durch Weisheit oder höchste Intelligenz gelenkt wird und die dem Menschen beständig die Wahrheiten der Natur enthüllt, nach denen er strebt. Bei seinen Versuchen, sie seiner beschränkten Anschauung anzupassen, was für die Wohlfahrt seiner Art notwendig ist, verfälscht und entstellt er sie aber immer wieder. Die Theorie der Offenbarung ergänzt die der Evolution. Der Grund, warum sie oft als ihr entgegengesetzt angesehen wird, ist, daß die Quelle der Offenbarung außerhalb des Menschen in eine unmögliche Art Gott verlegt wurde, der zugleich persönlich und absolut ist, und das ist natürlich unverständlich. Der Mensch ist eine Art Epitome des Universums, der in sich die höchsten und niedersten, die spirituellsten und materiellsten Sphären des Seins vereint. Auf diese Weise ist er fähig, die Mysterien seines eigenen inneren Lebens, dem in ihm wohnenden Gemüt, und damit allen anderen Menschen zu enthüllen. Und auf diese Weise ist er selbst der Offenbarer, der Empfänger der Weisheit und der enthüllten Mysterien.