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Frühling

Der Frühling ist eine Zeit der Freude und Hoffnung. Die Lebenskräfte der Natur brechen wundervoll hervor und versprechen etwas von den künftigen Früchten. Es herrscht Freude über alles neu Geborene und Hoffnung, daß es reifen und eine reiche Ernte bringen wird.

Der Frühling ist die Zeit für Ostern: der Auferstehung des Lebens zum Lichte aus dem Schlafe des Todes in der Dunkelheit des Verborgenen.

Für die meisten Menschen erweckt ein Blick auf die heutige Weltlage nicht das Bild des Frühlings. Sie sehen das Gegenteil: Verfall und drohende Zerstörung. Ist diese Ansicht richtig?

Gewiß, es gibt Anzeichen, die beunruhigen könnten. Wenn eines vom anderen getrennt betrachtet und der Blick aus zu kurzem Abstand darauf gerichtet wird, so nehmen sie bedrohliche Ausmaße an, die unsere Augen mit Furcht erfüllen. Aber es ergibt ein verkehrtes, in keinem Verhältnis zur Sache stehendes Bild. Genauso, wie wir uns ein falsches Bild von dem machen, was sich auf unserer Erde ereignet, wenn wir uns nur durch das Fernsehen und die Zeitung informieren. Eine Welt des Unglücks und Elends, der Furcht und des Hasses, der Gewalt und des Schreckens, der Spannung und Drohung, des Verbrechens und der Leidenschaft entfaltet sich vor unseren niedergeschlagenen Augen. Und wenn wir den Eindruck gewinnen, daß heute die schlechten Nachrichten gegenüber dem, was sich früher ereignete, alles übersteigen, so sollten wir nicht vergessen, daß es in jenen Zeiten wirklich Entfernungen gab und die Nachrichtenübermittlung schlecht war. Außerdem, wie ein amerikanischer Sprecher sagte, als er sich auf die schlimmen Berichte im Fernsehen und in der Zeitung bezog: wenn wir alles Gute, alle die angenehmen und wohltätigen Vorkommnisse, die sich ereignen, mitteilen wollten, dann wäre der Tag zu kurz und die Zeitung zu klein, um alle Berichte darüber zu bringen.

Wir wissen alle, daß eine richtige Einschätzung der Werte nur aus einem gewissen Abstand erfolgen kann. Nur aus einer gewissen Entfernung können wir alle Umstände wahrnehmen, die im Ganzen eine Rolle spielen und wogegen diese Werte abgewogen werden müssen. Die Historiker wie die Philosophen wissen das. Wir brauchen einen größeren Weitblick, um die Dinge in der Perspektive zu sehen. Wenn wir diesen Blick haben, entrollt sich vor unseren Augen ein fesselndes Bild: der Durchbruch eines erweiterten Bewußtseins in der ganzen Welt. Eine lange und grimmige Schlacht wütete zuerst unsichtbar und dann offen, und sie dauert noch an; aber die ersten Schritte zum Sieg sind bereits getan, überall zeigen sich die ersten Schößlinge. Der Kampf um die Freiheit des Geistes! Freiheit von dem von unseren Vorfahren hinterlassenen Unrat, von der Kolonialherrschaft und der Rassentrennung, von den Dogmen der verschiedenen Glaubensbekenntnisse, von all den alten Geleisen, wo immer sie zu finden sind, in denen sich kristallisierte Gemüter im Kreise drehen. Ein Kampf um Anpassungsfähigkeit, Geradheit und Vorurteilslosigkeit, um bereit zu werden die Veränderung zu akzeptieren. Wie der Präsident der Vereinigten Staaten, Lyndon B. Johnson, in seiner Antrittsrede betonte: "Unsere Zeit ist eine Zeit der Veränderung, der raschen Veränderung."

Man könnte fragen, warum sollen wir uns diese optimistische Anschauung zu eigen machen. Weil es von lebenswichtiger Bedeutung ist, welche Haltung wir jener Veränderung, die der Gefährte des Wachstums ist, gegenüber einnehmen. Im Leben des Menschen und der Menschheit ereignen sich gewisse Dinge, die wir nicht umgehen können, weil wir in der Vergangenheit die Ursachen dafür gelegt haben. Diese Ursachen müssen sich in Übereinstimmung mit dem universalen Gesetz von Karma auswirken: keine Ursache ohne Wirkung und keine Wirkung ohne vorangegangene Ursache. Wir müssen die Ereignisse auf uns nehmen und können dagegen nicht viel tun. Aber wir können unsere Haltung ihnen gegenüber bestimmen und das ist so wichtig, daß es die ganze Lage beeinflussen kann. Sie kann etwas Negatives in etwas Positives verwandeln und umgekehrt; sie kann aus jedem Ereignis eine Gelegenheit zum Fortschritt machen.

Wenn wir dem Leben einen Sinn beimessen, können wir es nur als ein Mittel betrachten zu wachsen, sich zu entwickeln, herauszubringen, was im Innern ist. Das ist die Art, wie die Natur und das ganze Universum arbeiten. Deshalb wird es immer einen Frühling geben, eine Zeit, in der das, was sich im Innern, in der Dunkelheit, im Verborgenen entwickelte, in das Licht hervortreten wird. Daher ist jedes Ereignis, wie unwichtig es auch scheinen mag, eine Gelegenheit. Das zu sehen und den richtigen Gebrauch davon zu machen heißt die "Karmische Schrift" lesen. Es ist klar, daß wir das nicht mit unserem Intellekt allein tun können. Dazu ist auch die höhere Eigenschaft der Intuition notwendig und diese muß die Hauptarbeit übernehmen. Sie mag noch unterentwickelt sein und zu falschen Entschlüssen führen, doch das macht nichts: das Leben wird uns lehren, was falsch ist und unsere Intuition wird wachsen. Der wirkliche Lebenskünstler ist, wer die Karmische Schrift richtig liest und entsprechend handelt.

Das Leben wird interessant, sobald wir es als eine Aufforderung betrachten zu lernen: eine Aufforderung, allem, was uns begegnet, als Mann oder Frau, ob angenehm oder schmerzlich, entgegenzutreten. Das bedeutet, ihm auf solche Weise entgegentreten, daß dabei unsere besten Eigenschaften erweckt und richtig angewandt werden. Das ist gar nicht leicht, und wir müssen vielleicht unsere ganze Stärke aufbieten und versagen dann doch. Aber die Niederlage sollte uns nicht entmutigen, und wir sollten fortfahren, es immer und immer wieder zu versuchen. Durch die vergeblichen Anstrengungen gestärkt, können wir das nächste Mal vielleicht erfolgreich sein.

Wenn wir auf der gegenwärtigen Stufe der menschlichen Entwicklung den Frühling sehen können, werden wir die ihn begleitenden Ereignisse nach ihrem wahren Wert einschätzen. Wir werden sie als die weitesten Schwingungen des Pendels betrachten, die ein Teil der Bewegung sind, die die Uhr in Gang hält. Solange sie geht, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Antikonformisten, Tumulte in jungen Ländern, Revolten gegen die Kirchen - sie sollten uns nicht zu sehr beunruhigen: sie sind in dem ganzen Prozeß die Wachstumsschmerzen. Tatsache ist, daß es in dieser jüngeren Generation weit mehr entwickelte Egos gibt denn in der älteren, als diese jung war. Sie sind weiser, unabhängiger, haben mehr Selbstvertrauen, sind freimütiger und mehr denn je gegen Scheinheiligkeit. Sie wollen lieber selbst denken, selbst beobachten, und das ist der einzige Weg zum Wachstum. Sie wollen mit dem Kopf durch die Wand, aber sie haben Ideale und deshalb große Gelegenheiten. Sie wollen eben nicht sklavisch folgen, weder im Handeln und Denken noch in der Religion. Sie sind nicht niedergedrückt durch die Furcht vor der Atombombe, aber sie fürchten ihre Individualität durch 'Vermassung' zu verlieren. Das alles deutet auf einen Frühling für den freien Geist hin.

Das gleiche gilt für die jungen Nationen, die sich eben befreiten oder im Begriff sind, es zu tun. Sie haben gerade erst begonnen und haben noch einen langen Weg vor sich. Auch sie brauchen Hilfe und Unterstützung, aber die richtige, die ihnen helfen wird, sich selbst zu helfen, denn sie müssen ja wachsen. Und die Gläubigen, die die Kirchen verlassen, tun das nicht, weil sie nicht mehr religiös sind. Im Gegenteil: sie haben erkannt, daß kein Priester oder Geistlicher das ausschließliche Recht besitzt, die Vereinigung mit ihrem höheren Selbst, dem Gottesfunken im Kern ihres innersten Wesens zu vermitteln. Selbst die Trennung zwischen Religion und Wissenschaft - die nur Seite an Seite miteinander leben können, indem sich jede auf ihr Gebiet beschränkt - wird immer weniger scharf. Heute ist so mancher Wissenschaftler ausschließlich auf Grund seines Studiums der Materie und der göttlichen Intelligenz, die er im Wirken der Natur vermutet, zur Religion gekommen.

Laßt uns deshalb wachsam sein und den Frühling begrüßen, wo immer er sich zu zeigen beginnt, und Freude, Hoffnung und Vertrauen werden in Zukunft immer in unserem Herzen bleiben.