Die Gefangenschaft des Selbstes
- Sunrise 2/1966
Es ist verhältnismäßig leicht zu begreifen, daß das universale Leben im Stein schlummert, in der Pflanze träumt, im Tier halb erwacht ist und im Menschen Selbstbewußtsein erreicht, aber diese Theorie als tatsächliche Regel in unserem täglichen Leben anzuwenden, ist nicht so einfach. Fest steht jedenfalls: daß im Verhältnis unserer Absorbtion mit dem physischen Empfinden und den materiellen Dingen der Trugschluß vom Getrenntsein des Lebens unser Gemüt ergreift, und in dem Maße, in dem wir die bloßen Sinneseindrücke ignorieren und unsere Gedanken sich in Mitgefühl mehr zu den in anderen Formen zum Ausdruck gekommenen Leben hinwenden, werden unsere begrenzenden Wände sich ausdehnen und uns frei lassen.
Ein Leben frei von selbstsüchtiger Sorge, und von jener höchsten unpersönlichen Ruhe, die keine Ebbe und Flut kennt, wäre von höchstem Wert, genug, um alle Menschen anzuziehen, danach zu streben. Doch wir können feststellen, wie wenige nur begonnen haben, nachzuforschen! Die große Mehrheit ist ein williges Opfer jenes Glanzes der Empfindungen, die als Vergnügen bekannt sind, und sie verschwenden darauf ihre Zeit und Energien in wilder Jagd. Immer wieder stellen sie fest, daß jedem vermehrten Genuß eine Reaktion der Niedergeschlagenheit folgt, so wie ein Schwimmer von einer Welle emporgehoben wird, nur, um tiefer in das nachfolgende Wellental zu stürzen. Dennoch lockt der Reiz so stark, daß die Menschen all ihre Kräfte auf das hoffnungslose Rennen verschwenden, bis der Winter des Alters ihre Wünsche erkalten läßt.
Einige scharfe Beobachter meinen sogar, daß auch der Schmerz seine faszinierende Macht über den Menschen ausübt. Und obwohl diese Vorstellung zuerst absurd zu sein scheint, ist sie dennoch eindrucksvoll. Jeder muß schon festgestellt haben, wie das Gemüt in müßigen Augenblicken die Erinnerung an längst vergessenes Übel aus dem Versteck hervorzuholen pflegt und im Gefühl des Verletztseins oder in krankhafter Selbstbemitleidung schwelgt. In der Tat, erst wenn der letzte bittere Tropfen getrocknet wurde, wird diese alte Trauer beiseite gestellt. Und selbst dann ist der Mensch wahrscheinlich genauso imstande, irgendein anderes eher schmerzliches als freudiges Erlebnis auszuwählen, um darüber zu brüten. Das schmeichelnde Kompliment, der scharfe Angriff, die rosigste Aussicht, die wir je gesehen haben, der schlimmste der Schrecken, unsere leidenschaftlichste Liebe, unsere heftigsten Abneigungen: die Paare des Gegensatzes sind heraufbeschworen und zu neuem Leben erweckt, denn beide sind gleich wirksam als Widerstand gegen jenes Sehnen nach Wachstum, das uns mit der Zeit befreien würde.
Wie es von lange inhaftierten Gefangenen bekannt ist, daß sie mit übertriebener Affektion an ihren ihnen wohlbekannten Zellen hängen, so schmiegen wir uns innerlich an die Persönlichkeit und pendeln zwischen unseren Neigungen und Abneigungen hin und her. Wir verbergen uns hinter unseren Gefängniswänden und fürchten uns, uns weiter hinaus zu wagen und in das größere Leben, das jenseits liegt, einzutreten. Man sagt, als der Dichter Wordsworth ein Junge war, wurde er manchmal so von einem Gefühl für das Unermeßliche überwältigt, daß er, wenn er zur Schule ging, seine Hand ausstreckt und die nächstliegende Wand oder den Baum berührte, um Kontakt zur wirklichen Natur zu schaffen; und somit war er imstande sein dahinschwindendes Bewußtsein über sich selbst, als ein untrennbares Ganzes, ins Leben zurückzurufen. Menschen, die in der Einsamkeit durch Landschaften von ungewöhnlicher Pracht und Erhabenheit wandern, haben oft ein ähnliches Erlebnis. Die Bereitwilligkeit jedoch, mit der viele von ihnen bei ihrer Rückkehr in den Alltag in den gesellschaftlichen Wirbel untertauchen, scheint von keinem anderen Motiv hervorgerufen worden zu sein als dem, ihre eigene wohlbekannte Selbstgefälligkeit wieder zu beleben, die durch die Berührung mit einer größeren, unpersönlicheren Welt etwas verschleiert worden war.
Es gibt Menschen, die diese Stufe in ihrer Entwicklung erreichen, sie sind stark genug, mit sich selbst zu ringen und durch entschlossenes Bestreben ihre niedrigeren Aspekte zu zwingen, einen ihnen gebührenden Platz einzunehmen und freiwillig den Interessen der Seele in allem, was das tägliche Leben anbetrifft, zu dienen. Für die anderen, die weniger heroisch sind, bleibt die Methode der Selbstüberwindung durch eine allmähliche Unterwerfung. Die von uns eingeengte Seite wird allmählich immer knapper gehalten, und es wird ihr nicht gestattet, sich derart große Mengen der mentalen Substanz und der Lebenskraft anzueignen, um ihr unausgeglichenes und unnatürliches Wachstum zu nähren; denn sowie das Persönliche zum Gegenstand unserer beständigen Interessen gemacht wird, wird es gemästet und vergrößert sich; Sobald wir jedoch aufhören, es zu füttern und uns mit größeren Gebieten beschäftigen, beginnt sein unabhängiges Leben schwächer zu werden und seine heftige, beharrliche Selbstbehauptung nimmt ab.
Von den Weisen wurde Schweigen als eine ganz spezifisch wirkende Kraft empfohlen, um die Kruste, in der wir eingebettet sind, aufzulösen. Von ihrem Standpunkt aus bedeutet Schweigen wesentlich mehr als nur das Sprechen zu unterlassen - eine Übung von geringem Wert, wenn das Gemüt nicht ebenfalls in Schranken gehalten wird. Intensive geistige Tätigkeit kann neben dem Schweigen der Stimme bestehen und die schöpferische intellektuelle Kraft kann sich darin erschöpfen, bildhafte Gedankengeflechte zu weben, in denen die eigenen Tugenden und Taten in glänzendem Kontrast zu dem düsteren Hintergrund der Schwächen unserer Mitmenschen stehen. Die Akrobatik des Gehirns zu kontrollieren, die Heftigkeit unserer Wünsche zu beruhigen und durch stete Anstrengung des Willens sich zur völligen Ruhe zu erheben, wo alle geistige und emotionale Erschütterung verlöscht - bedeutet jedoch, unsere erhabensten Kräfte in Anspruch zu nehmen. In der tiefen Stille jenes ewigen Schweigens lösen sich die Schalen auf, die uns umgeben und schwinden hinweg.
Die Heimat, aus der wir kamen und zu der wir zurückkehren müssen, ist nichts anderes als das Grenzenlose, die Freiheit des unendlichen Weltenraumes, der durch bloßes Durchbrechen der einschließenden Mauern des Selbstes, von denen wir umschlungen sind, gewonnen wird.