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Das Suchen nach Recht

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Die meisten rechtschaffen denkenden Menschen stimmen darin überein, daß die Einführung neuer Gesetze und die Unterzeichnung neuer Verträge keine andere und bessere Welt schaffen werden. Das muß durch ehrwürdige Männer und Frauen geschehen, die willens sind, das, was sie für recht halten, auch zu tun. Aber selbst wenn dieser Wunsch ihnen allen gemeinsam ist, können sie darin übereinstimmen, was Recht ist?

Wenn wir uns die Suche des Menschen nach Recht vorstellen, so wie wir uns sein Suchen nach dem Guten vorstellen, nämlich in Übereinstimmung mit seiner eigenen Auslegung wahrer Güte, gibt es da inmitten des Aufruhrs alltäglicher, sich widerstreitender Regeln von Gesetzen und ihren Übertretungen, in einer von Haß und Arglist zerrissenen Welt, eine Lebensweise, eine brauchbare Vorschrift für Ethik und Moral, die die ganze Menschheit annehmen kann? Können wir den Schlüssel zu einem reichen Leben finden, das das Sehnen des Herzens nach einem Verbundensein mit dem Schöpfer, mit der Gottheit stillen kann?

Nie gab es in der Geschichte eine Zeit, in der die Menschen soviel hatten, wofür sie lebten. Nie hatten die Menschen soviel zum Leben oder lebten von solchem Luxus umgeben. Aber nie hatten wir so wenig wonach wir lebten. Wir befinden uns in einer Welt, in der alte Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt wurden. Früher war es einfach zu sagen, das ist recht und das ist unrecht. Unsere Religion, gleichgültig welche es war, gab uns eine Reihe Regeln, um danach zu leben. Man befolgte sie oder befolgte sie nicht. Es gab keine Schwierigkeit, sich zu entscheiden das Rechte zu tun, denn die Bibel sagte uns, was Recht ist. Wir waren in der Auslegung dieser Vorschriften von den Oberen der Kirche abhängig. Das gilt noch für jene, die mit dem Leben, wie es sie umgibt, zufrieden sind; aber wir befassen uns mit dem Menschen, der sucht, was er gegenwärtig nicht besitzt. Unser Problem ist die Formel zu finden, die universal ist.

Zuerst wollen wir mit einem Manne sprechen, der als Jude geboren und erzogen wurde, um später Rabbiner zu werden. Aber er war nicht zufrieden. Etwas in ihm fand im Glauben seiner Väter keinen Widerhall, und er fing an, nach einer Religion zu suchen, die seinen eigenen besonderen Nöten mehr entsprach. Für jene von uns, die Christen sind, mag es eine Überraschung sein, daß er sie in den Lehren Buddhas fand. Wir müssen uns verwundert fragen - warum?

Dann lesen wir von Lin Yutang, Sohn eines christlichen Geistlichen, der von den Lehren und Überlieferungen der Kirche umgeben aufwuchs. Er kam von China nach Amerika, um eine theologische Schule zu besuchen, lernte aber zu seiner Überraschung, daß die Kirchenväter hinsichtlich der verschiedenen Lehren, deren Annahme sie von ihren Gläubigen fordern, untereinander uneinig sind. Unfähig, sein Denken einer Theologie anzupassen, die er nicht mit den Lehren Christi in Einklang bringen konnte, nannte er sich lange Zeit einen Heiden. Viele Jahre genügte das und half ihm eine harmonische Beziehung zum Leben und zu dem ihn umgebenden Universum zu verspüren. Doch er suchte weiter. Sein kürzlich erschienenes Buch erzählt, wie er vom Heiden wieder zum Christen wurde, und in der christlichen Welt herrscht natürlich große Freude, daß er wieder zur Kirche seines Vaters zurückkehrte.

Wiederum finden wir einen Mann aus Indien, einen Hindu, der sein Vaterland verließ, als er erwachsen war. Sein Vater ließ neben den Überlieferungen und der Philosophie der Religion der Hindus auch das Christentum gelten. So besaß er ein großes Erbe an spirituellem Verstehen und spiritueller Würdigung. Er spürte den starken Einfluß dieser zwei großen religiösen Kulturen und entwickelte daher Achtung und Liebe für beide, obwohl ihn keine von ihnen restlos befriedigte. Deshalb nahm er von jeder jene Kostbarkeiten, die ihm entsprachen, und bildete sich seine eigene Religion, die ihn voll befriedigte.

Man mag sich wundern, warum diese drei Menschen, der Jude, der Heide und der Hindu, ihr Suchen an dem Punkt aufgaben, an dem sie es taten. Wir wissen, sie hatten eine gemeinsame Idee: alle suchten Gott oder das Göttliche als Antwort auf ihr Forschen. Die meisten von uns, die im Westen geboren wurden, sind im christlichen Glauben erzogen und es ist daher kein allzu großer Verdienst, daß sie Christen sind. Doch wir können fragen, ob die Kirche den rechten Weg des Lebens erklärt. Ist es möglich, daß die Lehren Christi unter der Superstruktur der von Menschen aufgestellten Glaubensbekenntnissen verloren gingen? Denn sicherlich stand keiner dieser Männer im Widerstreit mit den Lehren von Jesus.

Der Gerechtigkeit wegen wollen wir unterscheiden zwischen Christentum und Kirchentum. Mit dem letzteren meine ich jene organisierte Gruppe von Anhängern Christi, die behaupten an alle seine Lehren zu glauben, aber versäumt haben, sie wirklich zu leben. Wenn wir auch zugeben, daß dieses sogenannte Kirchentum oft beschuldigt wurde kindisch zu sein, primitive Begriffe von der Natur zu haben, Gegner der Wissenschaft und intolerant zu sein, so müssen wir dennoch sagen, daß es uns mit dem Begriff der Selbstlosigkeit und der Anteilnahme am Leben und Glück anderer etwas Gutes hinterlassen hat. Der in den Verzerrungen von Glaubensbekenntnis und Dogma noch wirklich vorhandene Geist Christi hat viel dazu beigetragen, den Menschen ein Gefühl für soziale Verantwortlichkeit zu geben. Das ist in der Lehre, daß der Mensch seines Bruders Hüter sei, mit inbegriffen.

Sie können nun fragen, ist das nicht ein Teil der Antwort auf unser Suchen? Mit welchem Maßstab können wir feststellen ob wir die wirkliche Lösung gefunden haben? Um zu unserem Juden, Heiden und Hindu zurückzukehren - jeder fand das für ihn "Richtige" in der Religion. Können wir deshalb sagen, daß mit der Zeit alle Menschen ihre Antwort in irgendeiner Religionsform finden werden? Ich glaube es, denn der Mensch ist im wesentlichen religiös. Wie uns Wiggam sagt, "Der Mensch muß religiös sein, weil das Universum, seine Geheimnisse, Begehren und Lockungen das menschliche Herz mit seinem Sehnen nach einer Antwort nie zur Ruhe kommen lassen." Hier besteht tatsächlich ein allgemeines Bedürfnis, ein grundlegendes Verlangen. Wenn sich der Mensch bemüht, eine bessere Lebensweise und ein Prüffeld für sein Suchen nach dem Wahren zu finden, was muß ihm da seine Religion bieten?

Vor allem dürfen die von ihm angenommene Lebensphilosophie oder die religiösen Überzeugungen, auf die er seinen Glauben setzte, den wissenschaftlichen Entdeckungen nicht entgegenstehen. Die Wissenschaft wird weiterhin gewisse angenommene Ideen in Frage stellen und anfechten und die alten Lehrer werden erschreckt ausrufen: "Die Wissenschaft wird die Religion zerstören." Aber wie töricht anzunehmen, daß wir Wahrheiten, die der Prüfung durch Erfahrung standhielten, ignorieren können. Wenn wir natürlich die Wissenschaft nur als ein Mittel zur Entwicklung immer größerer Schnelligkeit und größerem Komfort betrachten, oder als die anspornende Triebfeder und den glänzenden Schmuck der modernen Welt, dann nehmen wir ihren wirklichen Geist nicht wahr. Denn durch die Wissenschaft können wir von dem alten Aberglauben und den Dogmen der Vergangenheit befreit werden und zu einer tieferen und wahrhafteren Religion gelangen. Um unseren Gesichtskreis zu erweitern und unsere Sympathien zu vergrößern müssen wir bereit sein, die wissenschaftlichen Wahrheiten mit vernünftigem Denken zu prüfen. Die Wissenschaft hat sich für viele Menschen als eine schwierige Herausforderung erwiesen, weil sie auf Grund mancher Entdeckungen ihren Glauben an das verloren, was sie für recht und wahr hielten. Sie hatten zu lange an irgendeiner Idee gehangen, die sie aufgeben mußten, als sie auf die harten Tatsachen der Erfahrung stießen. Ich will das mit einer wahren Geschichte erläutern:

Eine junge Frau hatte einen Bruder, der Arzt war. Sie interessierte sich für seine Tätigkeit und begleitete ihn oft, um dabei zuzusehen. Eines Tages wurde ein sehr guter Freund von ihnen krank. Sehr besorgt wegen des Resultates folgte die junge Frau ihrem Bruder in das Laboratorium, um zu sehen ob er etwas entdeckt habe, das helfen würde, den Fall zu klären. Dort sah sie durch das Mikroskop die winzigen Paare dunkler Punkte auf der Glasplatte. Es waren Pneumokokken. Einige Tage später starb der Freund. Antibiotika standen damals nicht zur Verfügung und die medizinische Kunst konnte ihn nicht retten. Er war tot - der Fall war klar, der Ausgang unvermeidlich. Zum ersten Mal in ihrem Leben erkannte die junge Frau durch die Wissenschaft das Bestehen universalen Gesetzes und universaler Ordnung. Sie mußte sich in ihrem Denken vollkommen umstellen. Sie glaubte, sie hätte gewußt, was "recht" ist, aber als es der Prüfung ihrer eigenen verhängnisvollen Erfahrung nicht standhielt, mußte sie diesen Glauben beiseite legen für eine neue Wahrheit und ein neues Recht, die standhalten würden. Auf diesem und anderen Gebieten gibt es noch viel mehr vor uns liegende Antworten, genau wie es sicherlich viele unentdeckte spirituelle Gesetze gibt, die wir noch nicht verstehen.

Ich glaube, wir sollten uns mit der Suche nach Recht durch wissenschaftliche Entdeckungen drei Fragen stellen: Möchten wir wirklich die Wahrheit über Religion, Ethik und das Leben erfahren oder wollen wir nur beweisen, daß die Begriffe, die wir bereits haben, richtig sind? Sind wir gewillt, wenn wir auf eine neue Tatsache stoßen, die Überzeugungen eines Lebens, die geschichtlichen Überlieferungen und die Gepflogenheiten unserer Gesellschaftsklasse lange genug beiseite zu legen, um zu erkennen, ob diese neue Tatsache unseren Gesichtspunkt ändern sollte oder nicht? Und schließlich müssen wir uns fragen, ob wir an unser Vorhaben jemals ganz ohne geheimen Vorbehalt, ein Vorurteil oder Dogma herangetreten sind, um die Gründe für das Festhalten an unseren liebsten Ideen zu überprüfen? Mit anderen Worten, wollen wir wirklich die Wahrheit mit ganzem Herzen annehmen, wohin sie uns auch führt? Wenn wir es nicht fertig bringen vollkommen vorurteilslos zu werden, zweifle ich, daß wir die Antwort auf unser Suchen finden.

Ein altes Motto lautet "Wissen ist Macht". Aber Wissen ist nicht Macht, wenn es nicht dem Menschen eine neue Welt gibt, um darin zu leben; wenn es seine Füße nicht auf den Weg stellt, der ihn für immer im unpersönlichen Streben nach Vollkommenheit vorwärts führt. Wenn sich ein Mensch ernsthaft bemüht die Wahrheit zu finden, kennt er keine Furcht mehr. Er ist das erste Mal in seinem Leben frei - frei von Aberglauben, von Dogmatismus, von Bevormundung. Solange er diesen Punkt nicht erreicht hat, wird er beständig versuchen, irgend etwas zu beweisen; er wird immer nach etwas suchen, um zu beweisen, was er glaubt. Der ehrliche Sucher nach Wahrheit wird im Gegensatz dazu nicht versuchen, seine Ideen zu beweisen, er wird sie prüfen wollen. Das ist die Art der Jugend, aber zu viele Menschen, die ihr Gemüt in jüngeren Jahren offen halten, schließen es später mit einem Knall für den Rest ihres Lebens.

Wir müssen auch die soziale Nutzanwendung unseres Glaubens in Betracht ziehen. Wenn wir auf anderer Leute Ideen hören und bereit sind, unsere eigenen Begriffe frei und offen mit den ihren zu vergleichen, dann müssen wir auch an ihnen interessiert und ihrem Gesichtspunkt gegenüber duldsamer sein. Können sie sehen, wohin das führt? Wenn wir uns für unseren Mitmenschen interessieren, dann ist es ein kleiner Weg, unseres Bruders Hüters zu werden. Wir beginnen, seine Nöte wie unsere eigenen zu studieren. Wir werden unser Gemüt gegen nichts verschließen, weil es unserem Bruder nützen könnte. Und das führt uns nirgendwoanders hin, als zu der Goldenen Regel, die uns alle Religionen in der einen oder anderen Form gaben.

Der Mensch muß auf dem Wege eine große inspirierende Kraft finden, die ihm helfen wird, sowohl mehr Kenntnis vom Prozeß des Lebens als auch mehr Wissen über seine Verantwortung der Wohlfahrt aller gegenüber zu erhalten. Wir wollen es seine Religion nennen, denn das Universum selbst verlangt nach einer Interpretation. Wir suchen alle aus gleichem Grunde das Leben zu verstehen. Aber weil wir in Temperament, Geschmack, Gefühl, geistigen Fähigkeiten und ästhetischer Einstellung verschieden sind, wird kein theologisches System die Nöte aller beheben. Doch der Mensch braucht die Religion, ganz gleich welche Vorstellung er davon haben mag, denn sie erzeugt im menschlichen Gemüt das Bewußtsein, daß, ganz gleich wie hilflos die Hoffnung, wie unerträglich die Umstände, wie verwickelt die Situation ist, irgendwo, irgendwie ein göttliches Wesen, eine große verstehende Intelligenz, Gott, wenn Sie wollen, existiert. Das verschafft ihm ein Gefühl der Zugehörigkeit und gibt ihm Vertrauen, daß er in dem komplizierten System der Dinge einen Platz hat.

Wie das Suchen nach Gott ist das Suchen nach Recht beständig und unaufhörlich. Es ist ein Prozeß, so lang wie das Leben, so tief wie die menschliche Natur und so ausgedehnt wie die ganze Rasse. Diese Aufgabe der Selbstentwicklung als intelligenter Mitarbeiter aufzunehmen, ist das entscheidende ethische und religiöse Angebot des Universums für jeden, der die Kraft entwickelt hat, dieses Suchen zum Gegenstand seiner Religion, zum Beweggrund seines Denkens, zur Leidenschaft seiner Kunst, zur Dynamik seiner gesellschaftlichen Ziele zu machen. Jesus und die spirituellen Lehrer der großen Weltreligionen haben in unmißverständlichen Worten den Unterschied zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht, zwischen spirituellem Aufbau und spiritueller Zerstörung klargelegt. Wer Augen hat zu sehen und aufrichtig ist, wird die Bedeutung der alternierenden Wege erkennen, unter denen jeder Mensch als freier moralischer Agent wählen kann.

Schließlich nimmt daher der nach dem Recht suchende Mensch das Erbe der Sympathie und Barmherzigkeit an und wird ein intelligenter Partner an dem großen Entwicklungsunternehmen, eine bessere und glücklichere menschliche Rasse zu schaffen. Sein Suchen ist bei weitem die schwierigste Aufgabe, die es für Verstand und Herz des Menschen gibt, denn die Vervollkommnung des Menschen ist der höchste Traum seines eigenen Geistes. Das macht es notwendigerweise sofort zur dringendsten religiösen und ethischen Pflicht und zum Vorrecht der Sterblichen.