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Der Geist des Protestantismus

Es war am Vorabend des 1. November, der Abend, den wir als den Vorabend zu Allerheiligen kennen, wo 1517 eine Bombe über Westeuropa barst. In dieser Nacht schlug Martin Luther seine "95 Thesen" an die Kapellentür der Universität zu Wittenberg in Deutschland, wo er als junger Erzieher lebte. Der jugendliche Mönch hatte keine Ahnung, daß er etwas ganz Revolutionäres tat, als er diese Artikel bekannt gab; er dachte nicht daran mit der Kirche zu "brechen". Es waren einfach 95 Punkte des katholischen Glaubens und seiner religiösen Ordnung, bei denen er einige Bedenken hegte. Er wollte nichts weiter, als ein freundliches Gespräch mit den Studenten und der Fakultät zur Klärung seiner eigenen Meinung. Aber diese Erregung, die diese Tat des Zweifels auslöste, war die große Explosion, die nunmehr als die protestantische Reformation bekannt ist. Wie Erasmus es bezeichnete, es war mehr als eine Reformation, es war eine Revolution. Sie reformierte die katholische Kirche nicht, aber empörte sich gegen sie, ließ alles auseinander bersten und zog halb Europa mit sich.

Wie sah es nun an diesem Allerheiligen-Abend, den der junge Martin Luther sich aussuchte, in Westeuropa aus? Er sah eine gewaltige Kirche über alles religiöse Leben herrschen, angefangen bei den westlichen Gestaden Irlands und den eisbedeckten Gipfeln Norwegens, bis zu den äußersten Winkeln Rußlands und den sonnenbeschienenen Küsten des Mittelländischen Meeres. Eine mächtige Institution "haltend die Schlüssel Himmels und der Hölle", die den Glauben für alle gleich festlegt und jede Form religiösen Ausdrucks, außer ihrer eigenen, dementiert. Das große Ziel der römischen Kirche war den Menschen Sicherheit zu geben. Durch jahrhundertelange Erfahrung und die Beratungen der kirchlichen Konzile hatte die Kirche ein System von Sakramenten und Bußen ersonnen, die dem Menschen ein sicheres Durchschreiten dieser Welt in die nächste versprachen. Es befreite sie von der Gefahr persönlichen Nachprüfens und Nachdenkens hinsichtlich der religiösen Wahrheit, und behauptete, daß der einzige Weg, auf welchem man mit Gott vollkommen in Kontakt kommen konnte, der Gottesdienst eines Geistlichen war.

Luther stellte das alles in Abrede. Er schrieb eine ganze Anzahl Pamphlete, die zu Parolen der Reformation wurden: "Die Freiheit des Christen" zu verehren, anzubeten und zu denken wie er will; "der Christ ist sein eigener Herr und keinem anderen untertan, und dennoch ist der Christ Diener von allem und jedermann untertan." Daher verwarf er sofort den Anspruch der Kirche, Angelegenheiten des persönlichen Gewissens zu diktieren und zu befehlen. "Priesterschaft aller Gläubigen" war ein anderer Kampfruf, womit er meinte, daß jeder unmittelbar in Berührung mit Gott kommen könnte, und weder einen Priester oder Heiligen brauchte noch ein für ihn intervenierendes Sakrament. "Erlösung durch Glauben", so behauptete Luther, würde durch persönliches Suchen erlangt - durch die Bemühungen jeder einzelnen Seele, Gott zu vernehmen und so zu leben, wie Gewissen und Vernunft versichern, daß es Gottes Wille sei.

Alles drängte sich in eine Frage: Wer soll einem Menschen sagen, was zu glauben ist? Die römisch-katholische Kirche sagte: Der Sitz der Autorität ist in der Kirche - in den Darlegungen der Kirche, festgelegt auf den Kirchen-Konzilen, die unter der Führung des Heiligen Geistes handeln. Luther proklamierte, daß der Sitz der Autorität in jedem Menschen selbst ist, der die Schriften und alles im Leben, seiner eigenen Erfahrung und seinem eigenen Verständnis entsprechend prüft. Die zwei großen Postulate des Protestantismus sind: 1. Daß die Kraft Gottes für jeden in seinen eigenen Gedanken, seiner Erfahrung und seinem Gebet ist, und 2. Daß die Autorität jedes Menschen nach religiöser Wahrheit zu forschen in seinen eigenen Bemühungen liegt.

Es wurde gesagt, daß Luther den Sitz der Autorität nicht in das Bewußtsein jedes einzelnen legte, sondern daß er sie bloß der Kirche fortnahm, um sie in die Bibel zu verlegen. Das ist wahr - und das ist nicht wahr! - Luther lebte in einer Zeit, in der irgendeine Autorität erwartet wurde, und die Menschen wollten die Antwort dort finden, wo sie es nachlesen konnten. So sagte Luther zu den Menschen, als er der Kirche die Proklamationen entzogen hatte, sie sollten zur Bibel zurückkehren, um selbst die alten überlieferten Worte zu lesen. Darüberhinaus wagte er nicht zu gehen - in seinem Alter - , doch er wollte es absolut klarstellen, daß die Bibel von jedem im Lichte individueller Erfahrung und individuellen Verstandes gelesen werden muß. "Solange ich nicht von der Heiligen Schrift oder reiner Vernunft überzeugt werde", sagte er, "kann noch will ich irgend etwas, was ich geschrieben habe, zurücknehmen, denn es wäre nicht recht noch gefahrlos gegen das Gewissen zu handeln. Ich denke, daß Luther sich nicht im Klaren war, welches Ausmaß an Verwicklungen er damit heraufbeschwor. Die Folgen sind jedoch da, und führen unvermeidlich zum vollen Glaubensbekenntnis des Protestantismus: Daß der Sitz der Autorität für einen Christen in seinem eigenen Gewissen sein muß.

Welche Gaben brachte uns nun der Protestantismus? Eine davon ist eine verständliche Bibel. Während es nicht wahr ist, daß Luther die Bibel zur ausschließlichen Autorität erhob, so wünschte er dennoch, daß jeder sie lesen kann. Er stellte das Buch in den Mittelpunkt des kirchlichen Dienstes. Er wollte eine Bibel, die von allen verstanden werden konnte, nicht ein Buch in Mysterien verschleiert, das nur die Priester lesen konnten. Eine der ersten Arbeiten Luthers war die Bibel in sächsisches Kanzleideutsch zu übersetzen.

Seit jener Zeit sind eine Menge Bibeln in vielen modernen Sprachen nachgekommen. Angefangen bei König James (die natürlich eine moderne Sprachwiedergabe war, als sie damals erschien) bis zur verbesserten Auflage des Neuen Testamentes und des Goodspeed. Es ist kein Zufall, daß fast alle großen wissenschaftlichen Werke über die Bibel von protestantischen Gelehrten geschrieben wurden.

Eine Menge archäologischer Forschungen folgte, die neues Licht auf die Sitten und Gebräuche biblischer Völker warfen. Der Vergleich mit Dokumenten anderer Nahostländer hat jene Zeit der Geschichte in den Vordergrund gebracht, in der die verschiedensten Bücher, ihre Kriege, sozialen Anschauungen und politischen Ansichten geschrieben wurden - die alle die Bedeutung des Alten sowie des Neuen Testamentes klären. Auch die Entwicklung unserer Heiligen Schrift kam dabei zum Vorschein, und hat uns geholfen die Bücher mehr in ihre chronologische Reihenfolge zu bringen - die von dem Durcheinander, den die Überlieferung uns erbrachte, und die in den meisten veröffentlichten Bibeln fortbesteht, weit entfernt ist.

bild_sunrise_51965_s176_1Ein weiteres Geschenk des Protestantismus ist der wissenschaftliche Geist. Man könnte das für eine sonderbare Behauptung halten, und dennoch ist es wahr. Die früheren Wissenschaftler der Renaissance hatten tödliche Angst vor der katholischen Kirche, die alles tat, was sie konnte, um die Nachforschungen nach den Originalen zu verhindern. Galileo, z. B. wagte nicht, seine Werke vor seinem Tode zu veröffentlichen, weil er eine Verfolgung durch die Kirche befürchtete. Der aufrichtige Geist, der zur protestantischen Reformation führte, führte auch zur Wiedergeburt wissenschaftlichen Nachforschens: Der Wunsch des Menschen das Geheimnis der Natur in der Welt, in der er lebte, zu entdecken, sowohl physisch als auch in Relation zum Göttlichen. Bedauerlicherweise denkt jeder an einen Konflikt, den es zwischen der Wissenschaft und der Religion geben müßte, wenn sie Hand in Hand arbeiteten. Dabei würden beide bei der Suche nach der Wahrheit finden, daß das Universum physisch und geistig eins ist.

Ein anderes Geschenk des Protestantismus ist die heutige Demokratie. Ein bischöflicher Kaplan schrieb aus Italien nach Hause, nachdem er Gelegenheit hatte mit Menschen vielerlei Glaubens in Kontakt zu kommen: "Meine Erfahrung hat mich eines gelehrt: Es stimmt nicht, wenn man sagt, daß unsere Demokratie von der Christenheit ausgelöst und inspiriert wurde. Um bei der Wahrheit zu bleiben, muß eines gesagt werden, sie wurde durch die protestantische Christenheit ausgelöst und inspiriert." Und zwar deshalb: Die in die Neue Welt kamen - die ersten Siedler und Puritaner, die Quäker und die Neu-Amsterdam-Holländer, die Pennsylvanien-Deutschen und die Hugenotten Frankreichs - waren überwiegend Protestanten, die vor der Tyrannei flohen. Die Überzeugungen der Gründer dieser jungen Republik - vom Leben, von der Freiheit, der Gewissensfreiheit und Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und vor Gott - das waren Überzeugungen von Protestanten.

Nicht zuletzt war eine der schönsten Gaben des Protestantismus der Wunsch nach sozialem Dienst. Zwei der großen Losungen der Reformation sind: "Der gerechte Mensch soll nach seinem Glauben leben" und "Glaube ohne Arbeit ist Tod." Die Religion ist nur das halbe Evangelium, wenn sie nicht ein gemeinsames Handeln gegen Elendsviertel und Verschmutzung, Ungleichheit und rassische Diskriminierung, gegen Krieg und Haß, die zu Zwistigkeiten führen, und all die anderen sozialen Übel, die die Menschheit aushöhlen, mit sich bringt.

Man sagte, "Protestanten haben kein Glaubensbekenntnis. Sie würden nicht alle an dasselbe glauben. Folglich herrscht keine Einigkeit." Nein wir haben nicht irgendein Glaubensbekenntnis, wir haben Glaubensbekenntnisse - Dutzende davon, geschrieben von verschiedenen Menschen zu verschiedenen Zeiten, die die Gedanken ihrer Verfasser zu der Zeit, in der sie geschrieben wurden, wiedergeben. Viele von ihnen gerieten wieder in Vergessenheit, und keines wurde von allen Protestanten je gemeinsam abgegeben. Es gibt jedoch weit mehr Einigkeit unter den Protestanten, als man annehmen möchte. Presbyterianer, Methodisten, Baptisten, Kongregationalisten, Quäker, Episkopalisten, Unitarier, Universalisten - wir haben weit mehr gemeinsames als trennendes. Wir entdeckten diese Übereinstimmung immer mehr.

Ferner wurde gesagt, "Wenn der Protestantismus seinem Geist treu bleibt, kann er nicht sektiererisch sein." Das erscheint erstaunlich, wenn wir die Erfahrungen der letzten vierhundert Jahre in Erwägung ziehen. Doch der wahre Geist des Protestantismus liegt gerade darin: das Recht eines jeden Menschen zu glauben, zu beten, zu suchen und anzubeten, wie er will, das macht es uns unmöglich, einen anderen zu kritisieren, der sich von uns unterscheidet. Treue Protestanten verfechten die Einigkeit des Geistes, aber nicht die Gleichförmigkeit. Sicherlich ist es das, was die Welt braucht - Einigkeit, aber nicht Gleichförmigkeit.

In einer Zeit wie dieser, wo eine Tyrannei gestürzt wurde, nur um einer anderen den Weg freizugeben, ist es für uns alle von Nutzen "auf den Fels zu achten, von dem uns Hilfe kommt", und unser Erbe wieder neu zu entdecken und zu bewerten. Unser Glaube wurde geboren und unser Erbe in einer großen Wiedergeburt persönlichen Gewissens und Freiheit geformt. Es mag sein, daß Streben nach geistiger Freiheit wieder und wieder erkämpft werden muß. Aber der protestantische Geist muß immer den Begriff der Freiheit lebendig erhalten, was nicht Zügellosigkeit bedeutet, sondern Freiheit unter einem disziplinierten Gewissen ist. Es darf nicht nur verkündet werden, sondern es muß der Lehre Luthers gemäß gelebt werden, daß "der Christ" - nein, jeder Mensch an jedem Flecken unter der Sonne - "sein eigener Herr ist und keinem anderen untertan; doch der Christ" - nein, jeder Mensch - "Diener von allen ist" und moralisch verpflichtet das Wohlergehen und die Rechte und das Glück eines jeden anderen zu respektieren.

 

 

- The Neighborhood Church of Pasadena, California