Gemeinschaft des Geistes
- Sunrise 4/1965
Was ist Wahrheit? Ich für meinen Teil würde sehr vorsichtig sein, zu versuchen, eine endgültige Antwort zu geben. Manche erklären sie als ein Wissen über Gott oder über die Götter, andere als die alte Weisheit; einige nannten sie einfach den Weg. Wie verschieden auch immer ihre äußere Ausdrucksweise unter den vielen Religionen der Vergangenheit und Gegenwart ist, die Wahrheit selbst ist weder alt noch unzeitgemäß. Wir werden nie fähig sein, sie intellektuell einzufangen oder zu erklären, aber in unserer geistigen Natur muß ein Teil sein, der, wie ich glaube, die Essenz der Wahrheit verstehen kann und durch unmittelbare Anschauung erfaßt. Im Grunde ist daher Wahrheit etwas, das jeder Mensch in seiner Brust trägt. Niemand kann sie einem andern einflößen. Aber ebenso wie wir durch jemand, der sich dessen gar nicht bewußt ist, ganz unerwartet eine aufblitzende Erleuchtung empfangen können, wenn wir dafür empfänglich sind, so können auch wir in Augenblicken vollkommener Selbstlosigkeit ohne unser Wissen einem andern einen Schlüssel geben, den er benützen kann, um sein eigenes Herz aufzuschließen.
Kürzlich sprach ich mit einem alten Freund, und während er die "moderne" Neigung, mit dem passé zusammen auch manches Wertvolle zu verwerfen, beklagte, sagte er: "Ich glaube nicht, daß es darauf ankommt, zu welcher Religion sich ein Mensch bekennt oder ob er überhaupt einen bestimmten Glauben hat; wenn er das kleine Bißchen Wahrheit, das er kennt, lebt, so wird er eines Tages das Ziel erreichen. Wenn er sich aber nicht bemüht in diesem Geist zu leben, wenn er nicht das höchste Denken in seinem Gemüt pflegt und sich von seinen wohltätigen Impulsen leiten läßt, dann 'lebt er das Leben' nicht, das ihn mit der Zeit zu einem Neophyten machen würde. Du weißt, wir alle streben in Wirklichkeit danach, so zu werden, obgleich die meisten von uns es sich selbst gegenüber nicht gerne zugeben, viel weniger anderen gegenüber. Wenn du aber begreifst, daß das Wort "neue Pflanze" bedeutet, - wie du siehst, ist es griechisch - nun, so gibt es der Frage, was das Leben überhaupt für einen Sinn hat, eine neue Richtung. Aber hier ist das Geheimnis", fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu, "es ist nicht notwendig, mit jemandem darüber zu sprechen; Reden ist immer verkehrt und verfehlt seinen Zweck. Doch wenn wir leben, wieviel immer wir davon zu leben fähig sind, werden das andere fühlen und Nutzen daraus ziehen."
Er stand auf und ging hinüber zum Tisch. "Es ist wie mit den Zwiebeln, die du hier in der Schale hast. Du wirst sie nun bald einschlagen und an einem dunklen Ort aufbewahren, nicht wahr? Du könntest sie auch in den Boden stecken und das Leben in den Zwiebeln würde vorwärts und vorwärts drängen, bis sie schließlich, wenn der Frühling kommt, neue Schößlinge treiben. Ist es mit uns Menschen nicht ziemlich genau so? Wenn wir es fertig bringen, in diesen dunklen Zyklen unsere Pflicht zu tun, so können wir in der Zukunft damit rechnen, daß ein klein wenig Grün erscheint."
Alles war plötzlich sehr klar - jene Paradoxa: "Tätigkeit in Untätigkeit" und "ein Mensch muß werden, bevor er etwas erhalten kann." Wenn wir es lernen könnten, die schwierigen Perioden in unserem Leben zu benutzen, um tief in den Boden unserer Seele Wurzeln zu treiben, würden wir einen Vorrat an innerer Stärke ansammeln, und wir wären bereit, wenn die Zeit der Gelegenheiten kommt. Aber wir können nicht erwarten, eine gesunde 'neue Pflanze' zu erzeugen, wenn wir nicht während der Winterzeit im Dunkeln dem Lichte, der Sonne entgegengewachsen sind. Und gerade hier, glaube ich, werden wir in der Schule des Lebens mehr geprüft, als wir wissen. Erinnert diese Stille und Dunkelheit der Seele, diese Anonymität, dieses darauf bestehen, daß wir von den Folgen unserer Bestrebungen unberührt bleiben, nicht an die Lehren der Bergpredigt? "Selig sind, die da geistlich arm sind", "Selig sind die Sanftmütigen" - wir können die Predigt nicht lesen, ohne zu begreifen, daß arm und sanft im Geiste in Wirklichkeit bedeutet im Geiste reich, aber arm an Macht den persönlichen Willen zu beherrschen. So betrachtet, bekommen wir einen Begriff davon, was der Meister der Christen gehofft haben muß, in den Herzen seiner Jünger, seiner 'Neophyten', seiner 'neuen Pflanzen' zu erwecken. Ich bin überzeugt, daß die Seligpreisungen nicht nur schön anzuhörende und zu lesende Phrasen sind, durch die wir uns 'beglückt' und zufrieden fühlen. Ich glaube, daß sie direkte Belehrungen auf den ersten Stufen bei der Berührung mit unserem höheren Selbst sind.
Wir haben alle den Christusgeist in uns. Sagte Jesus nicht: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben", und, daß wir zur rechten Zeit das gleiche und mehr tun könnten als er? Und fühlt der Buddhist nicht ebenso, daß der wartende Buddha oder der 'Erleuchtete' in ihm wohnt? Genau wie der aus seiner geliebten Gîtâ rezitierende Hindu in Krishna seinen Wagenlenker, Führer und Freund sieht. Jeder Mensch ist der Empfänger beim "Herabsteigen des Heiligen Geistes" in seine Natur - wie hätte er sonst auf Erden geboren werden können? Jetzt ist es unsere Aufgabe, den Lauf unseres Lebens selbstbewußt so zu steuern, damit wir in Einklang mit jenem schützenden Selbst, dem Wissenden im Innern, sein können.
Seit wir im Garten Eden erstmals erkannten, wer wir sind, sind wir einen weiten Weg gewandert, aber durch alle Prüfungen und Gefahren zog sich jener goldene Faden, den wir nie verlieren dürfen, denn er verbindet uns durch unser edelstes Selbst mit der Gottheit. Die Verbundenheit ist in unserem Herzen zu suchen: kein Blatt Papier, kein Mitglieddiplom, kein formelles Glaubensbekenntnis kann klar dartun, was wir sind - jeder und alle sind Mitglieder einer weltweiten Gemeinschaft des Geistes, die das Getrenntsein auf unserem gegenwärtigen, unruhigen und unvollkommenen Globus weit überwiegt.