Gewogen – und zu leicht befunden?
- Sunrise 3/1965
Kürzlich wurde ein fünfzehnjähriges Mädchen in eines unserer Krankenhäuser eingeliefert. Es hatte, wie es sagte, eine halbe Stunde auf einen jungen Freund gewartet, der kommen sollte, um es auszuführen. "Er kam nicht, und so nahm ich die ganze Schachtel Schlaftabletten."
Wir sollten uns fragen, welche Vorstellung vom Leben dieses Kind gehabt haben mag, die zu einem derartigen Versuch führte, noch dazu aus einem solchen Grunde. Ebenso könnten wir billigerweise fragen, welches Lebensbild haben wir ihm als Eltern und "Erzieher" der Jugend vermittelt? Es muß in der Tat ein sehr sonderbares sein. Viele junge Leute scheinen auf falschem Wege zu sein, weil - sagen wir es offen - sie dem, was sie nicht als wahr erkennen, nicht zustimmen können noch wollen sie von der Furcht behindert sein, die uns zuweilen in unserer eigenen Generation in Schranken hält.
Wir sagen, das alles käme daher, weil sie nicht dieselbe Einstellung den Werten gegenüber haben, die wir in unserer Jugend hatten. Dies mag völlig wahr sein, aber ihre Ablehnung diesen Werten gegenüber ist nichts Mangelhaftes, sie sind für sie weniger wertvoll als für uns. Aber solange die Jugendlichen besonders heute, da sie viel früher als wir reif werden und weniger am "Gängelband" der Eltern hängen - solange sie und auch wir, nicht eine Art gesunder und befriedigender Vorstellung von unserem Lebenszweck haben, beginnen im Ernstfall unsere und ihre Schwierigkeiten. Zu gern möchten wir es darauf zurückführen, weil sie "mehr Wünsche" haben und weniger "glauben" als es bei uns der Fall war. Dies mag wiederum wahr sein, aber es mag wohl auch der Fall sein, daß sie sich nach mehr wirklichen Werten sehnen und gleichzeitig, weniger leicht als wir, an jene Dinge "glauben", von denen wir vorgaben, sie angenommen zu haben, die aber unsere Handlungen so oft Lügen straften, daß man kaum von Glauben sprechen kann.
Der immerwiederkehrende Vorwurf der heutigen Jugend ist der, daß sich die Eltern nicht in ihre Welt versetzen, daß sie beständig nörgeln und von ihr erwarten, daß sie scheinheilig denkt und handelt. Ist dies eine bloße Einbildung oder liegt eine gewisse Berechtigung dahinter? Einmal reden wir von der "Lederjackenbrigade", den "Teds" und den "Halbstarken" und im nächsten Augenblick nehmen wir selbst in veränderter Form vieles von der Lebensart der jungen Leute an! Der Lauf des neuzeitlichen Lebens hat auch unsere Kinder ganz von selbst mit sich hinausgenommen auf das weite Meer des Modernen (sogar bis in den äußeren Raum hinaus), während wir furchtsam unseren Kopf einziehen und nach der Vergangenheit seufzen - und keine Veränderung wollen. Doch die einzige Erscheinung in der Welt, die bestimmt keine Veränderung erfährt, ist die, daß alles dem Wechsel unterliegt. Wir als Erwachsene müssen erkennen, daß der schnelle Ablauf der weltlichen Begebenheiten gigantische Veränderungen hervorgebracht hat und täglich weitere hervorbringt - eine Erscheinung, die sich beständig fortsetzt, ob wir wollen oder nicht. Der neu hereinkommende Strom der jugendlichen Menschheit erzwingt ebenfalls eine Veränderung.
Jenen, die mit dem Herzen sehen, erscheint die heutige Jugend intuitiv wissender als wir es in ihrem Alter gewesen sind. Bei sorgfältiger Überlegung werden uns zwei Dinge klar: erstens ist ihr Hunger nach wahren Werten tatsächlich viel größer und tiefer, als es der unsere war; zweitens wird sie, wenn sie von uns keinen Hinweis bekommt, wo diese wahren und grundlegenden Werte zu finden sind, von ihrem Hunger veranlaßt, an all den unrechten Stellen zu suchen - was sie gerade tut, wie wir sehen. Wenn sie in unseren toten Dogmen und Glaubensbekenntnissen nichts findet, als die verstaubten Antworten des toten Buchstabens und heuchlerischer Übereinkommen, die nicht aufrichtig gehalten werden, so wird sie alles in Bausch und Bogen verwerfen. Und wenn sie am Ende nicht einmal zu einem Teil der Wahrheit gelangt, dann wird sie geneigt sein, das Leben selbst als bedeutungslos abzutun.
In ihrem Innern haben die jungen Leute ein wenig von dem wahren Wesen mitgebracht. Alles, was sie suchen ist, bildlich gesprochen, der 'Platz', an dem sie sich mit dem, was sie in sich tragen, verbinden können, um dann ihr Leben dort anzufangen, wo sie aufgehört hatten und als individuelle, spirituelle Wesen mit Aspirationen und Idealen für sie und mit ihnen zu leben. Werden sie diese in unserem täglichen Erziehungs- und Berufswettkampf oder in unserem verzweifelten Suchen nach einem Halt im Kampf um einen besseren Anteil an dem Gewinn vorfinden? Offenbar nicht; denn das würde ihnen nicht genügen. Können wir ehrlich verneinen, daß ein großer Teil ihrer anscheinend "kummervollen" Lage und Haltung in Wahrheit die der enttäuschten Menschen ist, die sich nach bestem Willen sorgen und abmühen?
Angesichts unserer abgenutzten Losungsworte, Glaubensbekenntnisse und Konventionen und unserer Selbstsucht sagt unsere Jugend im wesentlichen folgendes: "Wenn das im Leben alles ist, dann ist das Leben nicht viel wert." Wonach halten sie dann wirklich Ausschau? Diese Frage zu stellen heißt soviel, wie zu erwägen, wonach wir Ausschau halten und ferner, was es zu suchen gibt, das wir finden müssen, um unsere Gesundheit frisch und kräftig und unser Pflichtgefühl rein und stark zu erhalten.
Wir hungern nach der Perspektive, die uns die eigentümlichen Entwicklungen der Religion und der Wissenschaft in den letzten tausend Jahren weggenommen haben. Wir möchten einiges über unsere Vergangenheit und Zukunft, nicht als Körper, sondern als Seelen wissen, so daß die Ethik in höherem Maße eine Grundlage im Naturgesetz und im praktischen Leben haben wird und wir wieder mit Vertrauen in unsere Zukunft blicken können. Wir trachten nach philosophischer Gewißheit, die, nach dem Rechten strebend, schließlich das Rechte hervorbringen wird.
Es besteht weder für uns noch für die Völker irgendeines Landes, einer Rasse oder Zeit, eine Notwendigkeit zu theologischem Streit und gelehrten Auseinandersetzungen, um dieses Suchen zu einem Bild von langer Lebensdauer für uns und das Universum zu machen, in dem wir leben, und in dem wir als göttlich eingewurzelte menschliche Wesen fortfahren können zu wachsen. Einst wird diese erweiterte und universalere Ansicht vor ihren (und unseren) begierigen Augen stehen. Wir können diese gegenwärtige Phase der ewigen Reise der Seele auf dem rauhen Pfad der menschlichen Pflicht und des Bestrebens mit Stärke und Rechtschaffenheit betrachten. Die jungen Leute von heute wägen uns ab - mögen wir nicht "zu leicht befunden" werden in Gemeinschaft mit ihnen auf dem Wege des Fortschritts.