Nach den Sternen greifen
- Sunrise 2/1965
Mit den Erzählungen über Tapferkeit und Vollkommenheit sind jene über unglücklichen Neid und Berichte von einer beinahe-Unverletzbarkeit der nahezu Unsterblichen verbunden. An diesen besteht ein besonderes menschliches Interesse, weil wir uns in ihnen, seltsam genug, widergespiegelt sehen, wobei wir uns an Gelegenheiten erinnern, bei denen der von uns gehegte Ehrgeiz befriedigt wurde, bei denen Hoffnung oder Ideal innerhalb unseres Bereiches lagen, wir aber durch eine verborgene oder unbeachtete Schwäche eine Niederlage erlitten.
Die beiden klassischen Beispiele, mit denen wir am meisten vertraut sind, sind Siegfried und Achilles. Diese beiden Helden wären unüberwindlich gewesen, wenn nicht die "verwundbare Stelle" gewesen wäre.
Siegfried badete, wie wir uns erinnern, in dem Blute des Drachen Fafnir, nachdem er ihn erschlagen hatte. Es wurde angenommen, daß ihn dies unverletzbar machte, aber ein Lindenblatt war ihm auf den Rücken gefallen und weil diese ungeschützte Stelle vorhanden war, traf ihn später der Tod durch die Hände verräterischer Feinde.
Achilles wurde von seiner Mutter, der Meeresgöttin Thetis, in den Fluß Styx getaucht. Unglücklicherweise war es nötig, ihn an irgendeiner Stelle während des Untertauchens festzuhalten und so wurde seine Ferse seine verwundbare Stelle, selbst bis auf den heutigen Tag ein Symbol der Schwäche in der Stärke. Es wird auch von Thetis erzählt, daß Zeus und Poseidon sie liebten und sie zu gewinnen versucht hätten, wenn nicht eine Prophezeiung existiert hätte, wonach der Sohn einer solchen Verbindung mächtiger sein würde als sein Vater. Zum Schutze der Götter wurde deshalb Thetis mit Peleus, einem Sterblichen, verheiratet.
Hier haben wir ein allegorisches Bild von dem zweifachen Evolutionsstrom des Menschen, dem Grund seiner unaufhörlichen Anstrengungen, den Olymp zu erklimmen, für das Geheimnis der vielen Hindernisse, denen er auf dem Wege begegnet. Denn trotz des Sterblichen in ihm ist der Mensch mit der Fähigkeit ausgestattet, zu den Höhen fortzuschreiten, die sein elterlicher oder göttlicher Teil erlangt hat. Der Genius ist Beweis für diesen Antrieb, den nach oben gerichteten Drang, aber der Mensch soll seine Erbschaft nicht in Anspruch nehmen, außer durch seine eigene Anstrengung und dann auch nicht, solange er sich nicht von den oft verborgenen Schwächen gereinigt hat, die sonst zu seiner Zerstörung führen würden. Wenn das Schicksal, das ihn manchmal überwältigt, zufällig zu sein scheint, so hat er es in Wirklichkeit doch selbst gestaltet.
Es besteht eine sehr feine Beziehung zwischen der "verwundbaren Stelle" und dem Augenblick seines verhängnisvollen Handelns, eine poetische Gerechtigkeit in ihrem Resultat. Es gibt kein zufälliges Ereignis, es mag sich als Folge nicht beachteter Konsequenzen oder zu großen Vertrauens erweisen oder irgendeiner Lücke in der Kette unseres Denkens und folglich unseres Handelns. Selbst unsere Tugenden können, wenn wir ihnen erlauben mit uns durchzugehen, zu dem Element werden, das uns Unheil bringt, nicht nur für uns selbst, sondern auch für andere.
Man mag darüber spekulieren, welche Rolle die Götter in allem spielen - unserem sterblichen Blick ist so manches verborgen. Sind sie in irgendeiner Weise für das Eintreten der Ereignisse zur genauen Zeit verantwortlich, für das feine Abgestimmtsein der Wirkungen auf die Ursachen? Da sie mit unserem Abstieg verbunden sind, sind sie es nicht ebenso mit unserem Aufstieg? Sind wir bloße Bauern auf einem himmlischen Schachbrett oder - sind wir die Spieler: ist das Brett mit seinen abwechselnden Feldern ein Symbol des Sterblichen und des Göttlichen in uns und unseres oft ziellosen Umherwanderns zwischen den beiden? Es ist richtig, die Figuren sind immer die gleichen: Türme, Springer, Läufer, Königinnen, Könige, Bauern. Man vermutet, daß die Götter sie uns geliehen haben könnten und aus der Entfernung zusehen, was wir mit ihnen machen. Aber wir sind die Spieler, wir gewinnen oder verlieren durch die Züge, die wir wählen.
So kann uns selbst das Eintauchen in den Styx nicht retten, wenn wir den Lauf unserer Leben anders bestimmen. Achilles, der die Wahl hatte zwischen einem kurzen und tapferen Leben und einem langen aber ereignisarmen, wählte das erstere und starb kämpfend für die Eroberung von Troja, getötet durch einen Pfeil, der seine Ferse durchbohrte.
Was ist nach all dem die Bedeutung des Untertauchens, wenn Achilles doch seinen Weg im Leben wählen kann? Es stimmt, seine Ferse bildet einen verletzbaren Punkt für den tödlichen Pfeil, aber gerade das scheint eher als ein Mittel zur Verwirklichung seiner Wahl des Ruhms vor der Sicherheit als Hauptfaktoren in dem Drama. Das Eintauchen in den Styx scheint eine Warnung und eine Herausforderung darzustellen. Eine Warnung dagegen, daß man in ein Gefühl falscher Sicherheit eingelullt wird; eine Aufforderung, die Grenzen, die durch diese Sicherheit auferlegt sind, zu überschreiten. Beides ist notwendig, wenn wir nach den Sternen greifen.