Frei von Furcht
- Sunrise 6/1964
Die Furcht ist einer der mächtigsten Einflüsse in unserem Leben. Sie ergreift, bewußt oder unbewußt, von uns Besitz und tritt in ungezählten Formen zutage. Da die Menschheit gegenwärtig durch eine schwere Übergangszeit geht, sind auch Gefahren damit verbunden. Aber, wenn wir zugeben, daß uns die Furcht in ihrem Bann hält, werden wir die Sicht für die großen Gelegenheiten, die uns eine solche Zeit anbietet, verlieren. Die Furcht, die viele Menschen wegen der Gefahr der totalen Zerstörung durch den Mißbrauch der Atomenergie zum Sklaven macht, ist eine negative Reaktion, die an sich genügen würde, die Flut jener positiven Kraft moralischer Verantwortlichkeit zurückzudämmen, die mit der neuen und aufsehenerregenden Wissenschaft und den technologischen Entdeckungen Schritt halten sollte.
Die Frage, was Furcht eigentlich ist, wurde von Philosophen und Psychologen verschiedener Schulen studiert, ihre Schlußfolgerungen können in folgenden wenigen Worten zusammengefaßt werden: "Die Furcht ist das fundamentale Gefühl, das den Menschen ergreift, sobald er sein 'Ich' rein negativ empfindet und er sich der Bedrohung durch das Nichts gegenübergestellt sieht. Den Menschen erfaßt die Furcht, wenn er seine Existenz so betrachtet, als hätte sie seinen ewigen Wert und sei dem Wesen nach dem Zufall unterworfen und ohne Bedeutung." Mit einfacheren Worten ausgedrückt, die Furcht tritt in Erscheinung, wenn der Mensch sich vollständig mit seinem vergänglichen "Ich" identifiziert, in übertriebenem Maße sich dieser Vergänglichkeit bewußt wird und vergißt, daß er in seinem Innern mit dem Göttlichen verwurzelt ist. Für einen solchen Menschen bedeutet der Tod Vernichtung. Daher ist im Grunde Furcht, ob anerkannt oder nicht, Todesfurcht - alle anderen Furchtempfindungen sind nur Modifikationen davon.
Es liegt jedoch kein Grund zur Verzweiflung vor. Denn ohne Zweifel ist es möglich, diese Furcht zu überwinden. Wer einmal zu der Erkenntnis kommt, daß der wahre Mensch mit seinem vergänglichen "Ich" nicht identisch ist, und daß der Mensch einen tieferen Kern des Seins besitzt, der niemals bedroht ist oder zerstört werden kann, ist frei von Furcht. Er weiß, daß der Tod nicht weiter reicht als bis zum vergänglichen "Ich", und er ist daher nicht übermäßig darum bekümmert, sondern fühlt sich in Wahrheit als ein untrennbarer Teil des ihn umgebenden Universums. Daher kann er Leben und Tod anerkennen, genauso, wie er in positiver Weise jeder Lage zustimmen kann, in der er sich befinden mag. Das bedeutet jedoch nicht, daß er glauben könnte, er sei von seiner eigenen Verantwortlichkeit befreit. Ganz im Gegenteil!
Ein solcher Mensch hat die spirituelle Haltung erreicht, die ermöglicht zu sehen, daß die Menschheit eine spirituelle Krisis durchschreitet. Der zunehmende Intellektualismus, der oft vulgäre und zuweilen raffinierte Materialismus und Egoismus, verbunden mit dem verminderten Sinn von Verantwortlichkeit, sind Symptome einer ernsthaften Krankheit. Aber er kann dem allen ins Gesicht sehen, ohne der psychologischen Lähmung, der Furcht, zum Opfer zu fallen. Ein solcher Mensch wird für die Welt und für seine Mitmenschen durch seine positive und furchtlose Haltung mehr tun als zwanzig Konferenzen über Abrüstung oder über Einschränkung der Anwendung von Atomenergie, die lediglich der Furcht entstammen. Sein Dienst für die Menschheit wird viel wirkungsvoller sein als die unweise Tätigkeit von zwanzig Personen, die mit der Zwangsvorstellung durchs Leben gehen, daß sie andern unverlangte spirituelle Hilfe geben müssen, während sie in ihrem hitzigen Eifer unterlassen, ihre eigene, am nächsten liegende Pflicht, zu erfüllen.
Im allgemeinen hat der Mensch noch nicht die Bewußtseinsebene erlangt, die erkennen läßt, daß er und seine Mitmenschen nun eine wirkliche Einheit sind. Aber wenn wir auf die Stimme derer hören, die die Menschheit führen, dann wird uns klar, daß sie - jeder auf seine Art - ein und denselben grundlegenden Wahrheiten Ausdruck verleihen.
Heute tritt immer deutlicher hervor, daß die einzige Möglichkeit zur Befreiung von der dunklen Gefahr unserer Zeit in der Erkenntnis liegt, daß die Menschen eine Einheit bilden. Das zu erkennen, ist die eine Seite, es aber in die Tat umzusetzen, ist etwas ganz anderes. Jeder von uns muß zuerst versuchen, das Begehren nach Macht durch Dienstbereitschaft zu ersetzen. Denn der einzige Weg, um zu einer positiven Haltung den Problemen und Gefahren dieser Zeit und vor allem unserer innewohnenden Furcht gegenüber zu gelangen, liegt in der Richtung, die uns in voller Ergebenheit zu sagen lehrt: "Nicht mein, (persönlicher) sondern Dein Wille geschehe." Wir werden keine Furcht haben, wenn wir nicht dem niederen menschlichen Willen des "Ich", sondern dem göttlichen spirituellen Willen folgen, der in jedem von uns aktiv ist, und wenn wir unser Vertrauen nicht in unser begrenztes persönliches Ego, sondern in das Große und Unergründliche Mysterium setzen, von dem wir alle ein geringer, aber wesentlicher Ausdruck sind.