Ein ehrlicher Mensch
- Sunrise 5/1964
Der Tag war vollkommen, die Bäume begannen ihre Frühlingsfarben zu zeigen, die Sonne schien warm, und die Luft war von köstlichen Düften erfüllt. Wir waren beizeiten zu unserem üblichen Samstag-Ausflug aufgebrochen mit dem Frühstück, das Pauls Mutter für uns in unseren Tornister gepackt hatte. Wie es unsere Gewohnheit war, hatten wir einen bestimmten Platz oben am Berghang als unseren Picknick-Platz ausgewählt. Dieser war ziemlich weit, so daß wir keine Zeit versäumten und stramm marschierten. Für gewöhnlich war Paul gesprächig, aber heute schien er über etwas nachzudenken. Er blickte weder nach rechts noch nach links, sah nicht die Schönheit der Bäume noch hörte er das freundliche Murmeln des Baches, der an unserem Weg entlang rann. Frühere Erfahrungen hatten mich gelehrt, zu warten, bis Paul zu sprechen anfing. Mein Stillschweigen hat sich immer gelohnt.
Wir waren einige Zeit lang emporgestiegen, und der Bach verlor sich jetzt unten zwischen den Felsen. Paul blieb mit einem tiefen Seufzer stehen, nahm einen Schluck aus seiner Feldflasche und indem er sich an mich wandte, fragte er: "Dee, wer und was ist ein ehrlicher Mensch?"
"Nun", erwiderte ich lachend, "ich möchte wissen, was dich so sehr beschäftigt. Was führte dich in diese Gedankenrichtung?"
Paul wartete einen Augenblick, betrachtete dann eine nahegelegene Baumgruppe und sagte: "Wir wollen zu jenen Bäumen hingehen, unser Frühstück essen, und ich will dir dann erzählen, was mich zu dieser Frage veranlaßte."
Als kleines Kind war Paul zart gewesen und nicht viel ins Freie unter Gefährten gekommen. Jetzt war er kräftiger und obgleich er gerne im Freien war, beschäftigte er sich doch oft mit Büchern aus Freude daran und auch, weil sie manche seiner Fragen beantworteten. Da ich wußte, was sie in der Schule durchgenommen hatten und daher annahm, daß seine Frage durch ein Thema gekommen war, das in seiner Klasse besprochen worden war, entschloß ich mich, einfach darauf los zu gehen.
"Erinnerst du dich an Diogenes im alten Griechenland, Paul?"
"Oh ja, er war ein Charakter, den wir in einer unserer Lesestunden behandelten. Ich glaubte, er wäre eine Mythe oder etwas derartiges, wie Pegasus, das beflügelte Pferd, das du ja auch kennst."
"Nein, Diogenes war eine wirkliche Person. Wie euer Lehrer euch erzählte, ging er bei Tag durch die Straßen von Athen mit einer brennenden Laterne. Als er von den lachenden Leuten gefragt wurde, was er tue, erwiderte er, daß er nach einem ehrlichen Menschen ausschaue."
Wir hatten unseren Picknick-Platz erreicht, und da ich fühlte, daß ich im Augenblick genug gesagt hatte, wendete ich mich unserem Frühstück zu und breitete das Essen auf dem mitgebrachten Pappteller aus. Ich wußte, daß ich Paul's Frage nicht beantwortet hatte, aber ich wartete.
"Erzähle mir mehr über Diogenes, Dee. Er scheint sehr interessant zu sein."
"Diogenes war kein Athener, sondern kam aus einer Stadt in Kleinasien, wo er ungefähr 412 v. Chr. geboren wurde. Sein Vater war ein Bankier, der, da er Geld unterschlagen hatte, aus seiner Heimat verbannt wurde."
"Oh," sagte Paul, und es war ein trauriger Ton in seiner Stimme, "dann haben sie das damals auch schon getan? Das muß für Diogenes hart gewesen sein, besonders wenn er noch ein Knabe war, als das geschah."
"Ich vermute, daß das einen Eindruck auf ihn machte, denn bei seiner Ankunft in Athen ging Diogenes zu dem Philosophen Antisthenes und bat ihn, sein Schüler werden zu dürfen. Anfangs lehnte es Antisthenes ab, aber später besann er sich, und Diogenes wurde einer seiner eifrigsten Schüler."
"Wer war Antisthenes," fragte Paul, "er scheint auch eine interessante Persönlichkeit gewesen zu sein."
"Antisthenes, der Zyniker, wie man ihn nannte, war einer der vielen philosophischen Lehrer, die die Seiten der griechischen Geschichte schmücken. Er lehrte eine mehr oder weniger einseitige Philosophie, die in der Hauptsache darauf begründet war, was er von Sokrates gelernt hatte. Er sagte, daß Glück zu erlangen, eine notwendige Folge der Tugend sei und daß man, um das Glück zu erlangen, den gewöhnlichen Dingen des Lebens gegenüber ungebunden und unabhängig sein muß."
"Nun, das erklärt, warum Diogenes solch seltsame Dinge tat," lachte Paul.
"Antisthenes' Schüler gingen ins Extreme, wenigstens taten es viele von ihnen. Sie verachteten die guten Dinge des Lebens und ließen die Gesetze und die Ethik ihres Landes außer acht. Antisthenes selbst jedoch lebte ein sehr asketisches Leben, was auch Diogenes tat, der alle Formen der Höflichkeit, die im gesellschaftlichen Umgang üblich waren, mißachtete, wie zum Beispiel Einladungen zu Festen und in die Häuser von Leuten, die ihn kannten. Von der einfachsten Nahrung lebend, übte Diogenes strengste Enthaltsamkeit und zögerte nicht, um Almosen zu bitten. Er ging bei jedem Wetter aus und zollte den Sticheleien seiner Landsleute keinerlei Aufmerksamkeit. Die Geschichte berichtet auch, daß er Anhänger hatte, aber ich kann dir nicht sagen, ob er jemals einen ehrlichen Menschen gefunden bat."
Ich wußte, daß es in Paul's Gemüt mehr Fragen geben mußte, denn ich hatte selbst eine Menge. Vor allem, was verstehen wir heute unter Ehrlichkeit? Unsere moralischen und ethischen Werte scheinen von Zeit zu Zeit zu wechseln. Wir sagen, daß Ehrlichsein frei sein von Betrug und Heuchelei bedeutet, aufrichtig und gerecht sein in unserem Umgang mit anderen. Vor allem bedeutet es, gegen sich selbst wahr zu sein. Sie muß individuell erlangt werden und ohne Erniedrigung und ohne im Staube zu kriechen.
Als ich mich nach Beendigung unserer Mahlzeit zu Paul wendete, erhaschte ich ein Lächeln auf seinem Gesicht.
"Nun, das war eine gute Mahlzeit, die uns die Mutter mitgegeben hat. Sie weiß immer genau, was bei einem Picknick gut schmeckt. Wir wollen ein wenig länger hier bleiben und uns etwas mehr unterhalten."
Meine Gedanken suchten eifrig nach mehr Beispielen, um sie Paul zu sagen, Beispiele mehr aus unserer jetzigen Zeit. Die amerikanische Geschichte hatte Washington und den Kirschbaum, und Abraham Lincoln, bekannt als ehrlicher Abbé, doch ich wollte etwas ganz Aktuelles.
"Jeder, der aufrichtig ist, sucht, wie Diogenes gesucht hat. Hier erzähle ich die Geschichte einer jungen Freundin von mir. Ihre Mutter hatte sie während ihrer Kindheit verzogen, und nachdem sie einige Jahre verheiratet war, stand sie einem eventuellen Verlust ihres Hauses und ihrer Familie gegenüber. Anmaßung und Selbstsucht und der Wunsch, alle Dinge für sich selbst leicht zu gestalten, waren die Ursache. Ihre Tante, die ihr helfen wollte, riet ihr, täglich aufzuzeichnen, so oft sie etwas tat oder sagte, das nicht ehrlich war. Anfangs widersetzte sich Cora, dann wurde sie hinterlistig und vielleicht um das Gesicht zu wahren, kaufte sie sich ein Tagebuch, ein verschließbares. Es dauerte einige Tage, ehe sie einen Eintrag machte. Am Ende der Woche war sie, entsetzt darüber, wie oft sie etwas gesagt hatte, das sie eine 'Notlüge' nannte, um die Dinge für sich selbst leichter zu machen.
Eine Woche verging und dann noch eine weitere, bevor Cora ihre Tante besuchte. Zögernd zeigte sie ihr das Tagebuch. Mit beschämtem Gesicht legte sie es ihrer Tante in die Hand. 'Öffne es und lies meinen schrecklichen Bericht.' Ihre Tante nahm das Buch, aber sie öffnete es nicht. 'Ich habe nie begriffen,' sagte Cora, 'wie oft am Tage ich der kleinen Peggy und dem Mädchen Dinge sagte, die nicht ganz wahr waren. Ich habe damit Schluß gemacht und viel darüber nachgedacht. Dann, nach ein oder zwei Tagen, fand ich, daß ich hingehen und mich entschuldigen und sagen müßte, daß ich ihnen nicht die Wahrheit gesagt hätte.' Das war der Anfang eines Wandels in Cora.
Ehrlichkeit und Tugend, Paul, waren immer ein Teil bei der Suche der Menschen nach dem Wahren und Schönen des Lebens. Zur Zeit der Ritter waren die Qualitäten für Ritterschaft die Führung eines reinen Lebens, niemals schlecht über andere zu reden und jene zu verteidigen, die ungerecht angegriffen werden. Eines Mannes Wort war bindend, was er sagte, tat er, und kein geschriebenes Dokument war notwendig.
In eurem Pfadfindergelübde ist ein Vorsatz enthalten, der dir helfen sollte, einen ehrlichen Menschen zu finden und selbst ein solcher zu sein: 'Ich will immer gedanklich und moralisch aufrichtig sein.' Das ist Ehrlichkeit gegen dich selbst und zwar, wie ich glaube, strenge Ehrlichkeit. Es ist schwierig, aber durch Ausdauer können Betrug und Heuchelei in Tugend umgewandelt werden und dann wird man im Reden und Handeln aufrichtig. Wie Shakespeare es in seinem Hamlet so wundervoll ausdrückt:
'Sei gegen dich selbst wahr, und es muß daraus folgen, wie die Nacht auf den Tag, daß du gegen niemand falsch sein kannst.'"
Die Sonne näherte sich dem Horizont, als wir nach Hause kamen. Hatte ich Pauls Frage beantwortet? Doch, ob ich sie nun beantwortet hatte oder nicht, er und ich hatten bis zu unserem nächsten Ausflug auf den Hügel eine Menge zu denken und daran zu arbeiten.