Der menschliche Aspirant
- Sunrise 5/1964
In welchem Sinne können wir die Frage der sogenannten Geistesgaben verstehen? Ich glaube, daß es richtig ist, wenn man sagt, daß unser alter Freund, Apostel Paulus, für den Ausdruck "Geistesgaben" verantwortlich war. Er schloß in diesen Begriff solche Eigenschaften ein, wie Glaube, Vision und das Wissen um die Ausführung großer Taten, die damals Wunder genannt wurden, wie z. B. das Heilen und auch die Ausführung verschiedener anderer Handlungen von sehr guter und spiritueller Art. Doch er betonte in seinem Brief an die Korinther, daß, so ausgezeichnet und nützlich am richtigen Platz diese Dinge zweifellos sind, so gäbe es nichtsdestoweniger geistige Qualitäten, die all diese Gaben überträfen. Von der Gabe der Barmherzigkeit (in der Bibel so übersetzt) könnte das gesagt werden. Wäre es möglich gewesen, tatsächlich all diese anderen Gaben zu besitzen, so wären sie nichts wert, wenn sie nicht von Mitleid durchdrungen und erleuchtet wurden.
Deshalb müssen wir zu dem Schluß kommen, daß geistige Gaben, wenn sie etwas bedeuten, diejenigen sind, die dem menschlichen Wesen verliehen werden, das sein persönliches Leben aufgegeben hat und dadurch ein Instrument in der Hand seiner eigenen inneren und höheren Natur wird - in der Tat ein Kanal für die Kraft des Höchsten Geistes, um in die Welt hinauszuströmen. Alle Mystiker, die Schüler aller Zeiten, haben Zeugnis davon gegeben, daß, obwohl sie alles aufgegeben hatten, was vom persönlichen und weltlichen Standpunkt aus betrachtet werden könnte, das Leben lebenswert zu machen, sie nichtsdestoweniger vor allem jene Kraft anhäuften, um zu handeln, zu wollen, zu wissen und ihren Mitmenschen zu dienen. Sie traten in den gereinigten Tempel ihres eigenen Wesens ein, wenn sie einmal sich von ihrem physischen Leben losgelöst hatten und die Dinge aufgegeben hatten, die das Licht des Höchsten Geistes hinderten, in den gereinigten Tempel ihres Körpers einzuströmen.
Dies ist der Gegenstand des ganzen Lehrgesprächs der Bhagavad-Gîtâ. Wenn wir sorgfältig das erste Gespräch dieser wunderbaren spirituellen Allegorie studieren, werden wir darin die vier Merkmale finden, die uns einen Fingerzeig für die Symbole geben, die in diesem großen Epos angewandt werden. An erster Stelle ist natürlich der Göttliche Lehrer Krishna in den drei oder vier Aspekten des Höchsten, die er verschiedentlich annimmt und durch die er in seiner Belehrung für Arjuna wirkt. Krishna ist das Symbol des Höchsten. Er ist das Paramatman, das Selbst: jenes Selbst, welches in Ihnen, in mir und überall in allen Geschöpfen das gleiche ist, jenes Selbst, welches das Ziel all unserer Bemühungen, all unserer Bestrebungen, all unseres Suchens nach Wahrheit ist, unsere Antwort, wenn wir einmal das Werk getan haben, das uns befähigen wird, die Lehren der Götter und Menschen in unserem eigenen Herzen wahrzunehmen. Wenn wir nach den wahren spirituellen Gaben suchen, dann sollen wir uns der Bhagavad-Gîtâ zuwenden und sehen, ob wir die Leuchte der spirituellen Erkenntnis durch das Feuer entzünden können, das durch die Seiten jenes alten Buches brennt und schimmert.
Krishna ist dann der erste Charakter, dessen belehrenden Worten wir lauschen sollen, wie er seinen Schüler Arjuna lehrt; und Arjuna, wie er auf dem Schlachtfeld seines Wesens steht, auf dem Feld von Kurukshetra, ist das Symbol des höheren Gemüts. Er steht, wie alle spirituellen Pilger, auf dem Schlachtfeld seines eigenen Wesens: das Höhere Gemüt, die wirkliche Individualität in jedem von uns.
Dann haben wir den Charakter des Dhritarashtra, des blinden Königs, und wir können ihn als das niedere, ungeläuterte Gemüt betrachten: die Persönlichkeit in ihrer ganzen Reizlosigkeit. Er ist blind, er ist unfähig, etwas zu sehen.
Schließlich haben wir den vierten Charakter, Sañjaya, den brahmanischen Lehrer, der die Stimme des Gewissens darstellt, das den niederen persönlichen Menschen befähigt aufzuwachen und zu beginnen, den ersten Einflüsterungen und Eingebungen seiner eigenen höheren Natur zu lauschen.
Und so kommen wir zu der Frage, wie dann die Arbeit wirklich aussieht, die wir an uns selbst tun müssen, wenn wir Erfolg haben wollen im Entwickeln spiritueller Kräfte, die sich alle Menschen wünschen und sich mit Recht wünschen, nämlich ihr Inneres zu entfalten; denn dies sind die Kräfte und Fähigkeiten, die wir mit allen Menschen gemeinsam haben können. Diese Arbeit und dieses Training nimmt nichts vom Menschen, im Gegenteil, wenn einmal dieses innere Feuer im Herzen von einem unter uns entzündet ist, so wird er in ganz geringem Grad ein Kanal, durch den spirituelle und erneuernde Ideen in die Welt der Menschen strömen.
Wie aber sieht denn nun diese Arbeit aus? Ich will versuchen, Worte zu finden, um wenigstens einige Gedanken darüber zum Ausdruck zu bringen. Vor allem sollen wir uns nicht für diese Dinge interessieren, bevor wir nicht erkannt haben, daß es eine spirituelle Kraft gibt, mit der wir in Fühlung treten können; daß es in den Tiefen des Herzens oder im spirituellen Teil unseres Wesens etwas gibt, das, wenn wir nur lernen könnten, es wiederzugeben, es zu werden, zu manifestieren, wenigstens zu einem guten Teil unseres tätigen Lebens, uns als Individuen von großem Nutzen sein würde und ebenso jenen, die um uns sind. Wir erkennen, daß die spirituelle Kraft da ist, wenn wir sie nur erreichen können; aber dem besonderen Punkt auf der Leiter der Evolution, auf der wir stehen, entsprechend, sind wir in der gleichen Lage wie Dhritarashtra. Wir haben eine niedere Persönlichkeit, ein Gemüt und Gefühlsregungen, die mehr oder weniger turbulent sind, mehr oder weniger an den Gegenständen der Sinneswahrnehmung hängen, an all dem, was den äußeren Reiz der Erde oder Welt ausmacht. Diese Persönlichkeit ist möglicherweise in den Kampf um die Existenz verwickelt; oder wenn sie in Verhältnisse hineingeboren wurde, wo es einen solchen Kampf nicht gibt, dann hat sie es noch schwerer, denn sie muß mehr lernen, mehr aufgeben und hat weniger Antrieb zu handeln, was die Fähigkeit wachruft, die täglichen Pflichten zu erfüllen und zu lernen, wie man sie auf eine Art ausführt, die uns die Möglichkeiten eröffnet, die wahre Individualität zu erkennen - etwas ganz anderes, als was das Bewußtsein bis dahin erfahren hat, das wirklich und wahrhaftig das Grab persönlichen Lebens ist.
Und so erhebt sich das Individuum, oder vielmehr der persönliche Mensch, wenn er an dem Punkt erwacht ist, wo er die Existenz der inneren spirituellen Natur erkennt, und sich bemüht, nach den Alten Lehrern der Rasse auszuschauen. Er strebt, und irgendwo in den Tiefen seines eigenen Wesens beginnt er, die Einflüsterungen des Gewissens wahrzunehmen, ihnen zu folgen und gewisse einfache Dinge, die für andere hilfreich sind, vielleicht täglich zu tun oder einfache oder schwierige Pflichten auszuführen. Unverzüglich beginnt er zu veranlassen, daß die Einflüsterungen des Höheren Gemütes zu der Persönlichkeit gelangen; und dann fällt ihm vielleicht ein Buch, wie die Bhagavad-Gîtâ, in die Hände, und er beginnt zu studieren. Das niedere Gemüt wird nun gereinigt, die Gemütsregungen werden aufgerührt und, wenn er weiterstrebt, hat er vielleicht das Glück, in Gesellschaft anderer zu sein, die sich mit einem ähnlichen Studium beschäftigen.
Dann, eines Tages, kommt jenes Ereignis, wo das Streben des niederen Menschen ein Ausgießen göttlichen Lebens aus der inneren Herrlichkeit, die in ihm ist, heraufbeschwört, aus dem Vehikel jenes uferlosen Ozeans des spirituellen Lebens, der grenzenlos und schrankenlos ist und in dem alle Menschen leben und durch den sie inspiriert werden. Er erkennt, daß, um dieses Königreich des Himmels durch die Kraft seines erweckten spirituellen Willens zu gewinnen, er den Tempel des Herzens betreten muß. Er muß tief in seine eigene Natur eintauchen; und wenn er dies tut, dann wird jene aufleuchtende Antwort kommen, die bedeutet, daß dieser persönliche Mensch nicht mehr als ein mehr oder weniger ruderloses Schiff daliegt, sondern daß die Kraft seiner eigenen wahren Individualität in sein Herz als eine Flamme hinabsteigt. Von jenem Augenblick an hat er im wahren Sinne des Wortes seine Füße auf den Pfad gesetzt, der ihn zum Herzen des Seins selbst tragen wird. Er wird ihn zu der Quelle bringen, von der alle Impulse spiritueller Art in dieses Universum fließen.
Die höchsten Möglichkeiten für den menschlichen Aspiranten sind so weit entfernt, daß sie eigentlich kaum als vorwärtsstoßender Antrieb wirken. Der Mensch, der diesen Pfad betritt, wird schließlich sein eigener Meister, aber er hat eine sehr lange Pilgerfahrt vor sich. Es ist niemals ein Geheimnis daraus gemacht worden, daß dieser Status nicht durch einen einzigen Sprung in einem kurzen Leben erreicht wird, sondern stetige ergebene, selbstaufopfernde Anstrengung erfordert, einem klaren Ziel entgegen, wobei alle persönlichen Nebenerfolge wegfallen.
Irgendwie fühlt man, daß heute, wo die Spannung und der Sturm der Weltereignisse uns alle so nahe berührt, die Gemüter der Menschen sich nicht sehr um die hohe Metaphysik kümmern. Sie möchten wissen, wie ihr nächster Schritt ist; sie möchten wissen, was sie zu tun haben; und ich glaube, daß wir Erfolg in unseren Bemühungen haben werden in dem Maße, in dem wir eine praktische Botschaft geben können. Ich meine nicht im materiellen Sinn, sondern eine praktische spirituelle Botschaft für jene, die an spirituellen Dingen interessiert sind. Es gibt nichts von dem, was wir haben und von dem wir glauben, daß es im spirituellen Leben von Wert ist, was wir nicht mit anderen teilen können.