Internationales Bewusstsein
- Sunrise 5/1964
Der höhere Internationalismus ist für den Menschen das, was die überwölbende Schönheit des Regenbogens in der Natur ist. Jeder Wassertropfen und jeder Lichtstrahl hat die potentielle Vollkommenheit der sieben Grundfarben des himmlischen Gewölbes in sich. Die Natur zeigt hier in großer Schrift die universale Wahrheit des: "wie oben, so unten." Das gleiche Wasser ohne das segensreiche Sonnenlicht, bildet Sturmwolken. In der gleichen Weise hat jede menschliche Einheit die innewohnende gewinnende Schönheit der Charakterfärbung, die, geeint in rassischer Gebundenheit, einen lebenden Regenbogen der Verheißung außerhalb der stürmischen Mächte der niederen Natur darstellt.
Wie die winzigen Zellen in unseren Körpern sich teilen, sich aber in dem größeren Bewußtsein einer organischen Funktion vereinigen und wie die einzelnen Organe für des Körpers Wohlergehen zusammenarbeiten, so verbinden sich die menschlichen Einheiten in der Bildung des familiären Lebens, und die einzelnen Familien schließen sich zur besseren Wahrung nationaler Interessen zusammen. Der gesamte evolutionäre Lauf des Fortschritts ist auf die Vereinigung der Nationen in eine universale Bruderschaft gerichtet.
Alle Nationen sind in einem Netzwerk materieller Interessen gefangen. Daß gerade diese Interessen harmonische, gegenseitige Beziehungen verlangen, beweisen die chaotischen Nachkriegsverhältnisse nur zu gut. Zu den alten Gepflogenheiten des Handels, des Transportes, der Reise und der industriellen Arbeit, kommen Flug- und Funkwesen, die uns über die runde Erde von Pol zu Pol miteinander eng verketten. Man sagt, daß die Funkwellen mit der Geschwindigkeit des Lichtes in einer 14. Sekunde halb um den Globus laufen. Daher ist in Wahrheit dieser Bruchteil einer Sekunde der äußerste Abstand zwischen zwei beliebigen Personen in ihrem gemeinsamen planetarischen Heim.
Die Funkwelle beweist greifbar, was die Alten im engeren Sinne mit der "Ketzerei des Sonderseins" meinten. W. Q. Judge sagte: "Die Natur hat nur eine Nation entwickelt, ihr Name ist Menschheit."
Verschiedene Gemüter und Herzen sehen und fühlen unvermeidlich dieselben Dinge unterschiedlich. In der Tat, widerspricht nicht oft das eigene Denken und Fühlen seinen Ansichten und Empfindungen zu einem anderen Zeitpunkt, - wobei jede Veränderung für diesen Augenblick die Wirklichkeit zu sein scheint? Keiner bezweifelt die Aufrichtigkeit seiner vergangenen oder gegenwärtigen Überzeugung. Warum sollten wir da nicht diese Toleranz gegen uns selbst auch auf andere anwenden, auf Menschen und Nationen? Das höhere Menschsein verlangt, daß wir vielen Dingen, in denen keine Übereinstimmung besteht, zustimmen müssen, wenn wir uns in wesentlichen Dingen einigen wollen. Und wir müssen uns einigen, oder die verderblichen Konsequenzen erdulden.
Gegenwärtig beschränkt sich der internationale Kontakt weitgehend auf materielle Beziehungen. Handel, Industrie, Transport und - Diplomatie? Ist es nicht so, daß der internationale Herzschlag unter der ethischen Goldtresse der Diplomatie zu wenig echt und natürlich ist, als es die Wohlfahrt der Welt erfordert? Wie wenige von denen, die ihre Länder auf internationalen Konferenzen 'vertreten', haben volles Mitgefühl und Verständnis für die Länder, die anders sind als ihr eigenes. So selten sieht man das Bild, daß die ganze menschliche Familie für das Wohl aller zusammenarbeitet. Würden die internationalen Beziehungen auf einem höheren menschlichen Niveau liegen, so gäbe es in der Regelung materieller Angelegenheiten weit weniger Schwierigkeiten. Die Menschheit würde die Regelung zum Nutzen des Allgemeinwohls verlangen.
Gerade die Verwirklichung dieser wünschenswerten Wiedervereinigung der menschlichen Familie erfordert eine Kleinarbeit, die sich regeln wird, wenn wir wirklich zusammenkommen wollen. Überall dort, wo ein starker Wille ist, ist auch ein Weg. Und wahrer Patriotismus ist mächtiger als Politik.
Bloße Geschäftsverbindungen haben als Grundbestandteil den Wettbewerb, der darauf hinzielt, das zusammenhaltende Band aufzuheben. Denn wenn sich morgen ein besserer Markt für Ein- oder Verkauf bietet, so verhindert keine Gefühlsregung an den vergangenen Geschäftsverkehr eine Änderung. Selbst auf religiösem Gebiet erscheint das Element des Wettbewerbs, das in der Persönlichkeit verankert ist, als Intoleranz oder Gleichgültigkeit oder Nichtverstehen wollen. Kunst und Wissenschaft zeichnen ihre eigenen Welten ohne Rücksicht auf nationale Grenzlinien auf. Es sind gute Aufzeichnungen, so lange sie anwendbar sind. Aber sie werden von der Mehrheit nicht anerkannt und in Kriegszeiten überstimmt. Darüber hinaus sind diese Berufsschaffenden selbst noch nicht zu der Stufe eines gemeinsamen Bemühens herangereift, um der übrigen Welt zu zeigen, daß es eine Wissenschaft vom Leben und eine Kunst zu leben gibt.
Der Mensch muß ein gewisses Maß internationalen Bewußtseins entwickeln, um einzusehen, daß die Seele eines Volkes sich auf ihre eigene Weise langsam bis zu dem Punkt entfaltet hat, an welchem sie ihren nationalen Ausdruck finden kann. Jede Volksseele muß ihren nächsten Schritt vorwärts von ihrem eigenen Standpunkt aus tun, nicht von irgend einem anderen aus. In ihrer Religion ist das Wesentliche nicht der Name der Gottheit, an die ein Volk glaubt, sondern die Art der Tugenden, die es ausübt. Gerechtigkeit, Friede und gegenseitige Hilfeleistung sind sichtbare Zeichen der Tätigkeit der höheren Natur. Diese sind nicht lokal begrenzte, sondern universale Tugenden, die in jedem Volkscharakter, in dem wir sie finden, mit neuer Stärke auftreten.
Wir sind mikroskopisch, biologisch, psychisch, zu sehr spezialisiert und analysiert und dann nicht wieder richtig zusammengesetzt. Es hat schon zu viele Trennungen und Verschiedenheiten in der Religion, der Wirtschaft, der Wissenschaft und vor den Scheidungsgerichten gegeben. Dieses Jahrhundert sollte einen zusammenwirkenden Grundton anschlagen, denn, sind wir nicht alle Pilger auf dem gemeinsamen Wege zur Vollkommenheit?
Ein internationaler Bewußtseinszustand, der weit davon entfernt ist, den Sinn für nationale Individualität herabzumindern, würde ihn erweitern und stärken. Denn es ist der natürliche Verlauf der Entwicklung, mehr und mehr die innewohnende Gemütsseele der Selbstheit zu erweitern, zu entfalten und auszudrücken. Kultivierte Naturen haben mehr Punkte in der Übereinstimmung entfaltet als unwissende und unzivilisierte Menschen. Jedoch ihre Kultur macht sie auch individueller. Desgleichen sind die feineren Typen eines nationalen Charakters hervorragendere individuelle Erscheinungen. Schon aus der Größe ihres Menschseins heraus werden sie eine breitere gemeinsame Grundlage für internationale Interessen und Verständigung aufweisen.
Jeder einzelne ist selbst verpflichtet, sein eigenes Wesen im Verlauf der natürlichen Entwicklung so zu vertiefen und zu erweitern, daß er seine Rolle in jeder Nation, in die er hineingeboren wird, gut spielen kann. Bedeutet nicht nationale Isolierung genau so einen sittlichen Verstoß, wie eine kleinliche Persönlichkeit? Ein guter Schauspieler mit einem großen Repertoire ist interessanter und bewundernswerter, als einer, der nur eine Rolle gut spielen kann. Ebenso gibt der innere Mensch, verhüllt durch die Maske seiner Persönlichkeit einen größeren individuellen Ausdruck spirituellen Bewußtseins, wenn er, wie der geschliffene Diamant, das Licht des wahren Seins von vielen Aspekten seines Charakters aus wiederspiegelt.