Spirituelle Bollwerke
- Sunrise 5/1964
Mit dieser Ausgabe des SUNRISE beginnt das 5. Jahr der Publikation. Das ist ein Anlaß, eine Betrachtung über unsere Anstrengungen anzustellen. SUNRISE wurde nicht geschaffen, um eine Idee oder eine Zusammenstellung von Ideen zu "verkaufen", sondern in der aufrichtigen Hoffnung, Suchenden eine durchdachte Übermittlung des Gedankenaustausches anzubieten, womit wir gemeinsam jene grundlegenden, festen Begriffe, die das spirituelle Bollwerk Zeitalter hindurch gewesen sind, erforschen könnten.
Die Zivilisationen entwickeln sich und werden durch ein erweitertes Bewußtsein groß und stark. Gleichzeitig aber brechen Zivilisationen als Folge eines schrumpfenden Bewußtseins zusammen und verfallen. Daher sind wir unseren Lesern und Mitarbeitern für ihren Beitrag zu unserem Bestreben, den reinen Geist freien Gedankenaustausches zu erhalten, dankbar, denn die Vorurteilslosigkeit ist es, die ohne Rücksicht auf Glauben oder Philosophie, auf Glaubensbekenntnis oder Nichtglaubensbekenntnis die spirituelle Gesundheit des Menschen sichern wird.
In den vergangenen Monaten haben wir verschiedene Themen besprochen, die den meisten Heiligen Schriften gemeinsam sind. Hauptsächlich das wohlbekannte Gesetz des Ausgleiches, das Gesetz von Ursache und Wirkung oder Karma; seine Zwillingslehre über Reinkarnation oder die wiederholten Geburten der Seele (in menschliche, nicht in tierische Formen, wie manche irrtümlich annehmen) und die ergänzenden Grundbestandteile der menschlichen Konstitution als eine natürliche Erweiterung der Einteilung in "Körper, Seele und Geist", wie sie Paulus gemacht hat. Manche mögen fragen, ob das Wissen über all diese Dinge wohl einen Wert hat? Hilft es uns, ein besseres Leben zu führen? Oder, was noch wichtiger ist: Gibt es uns die Stärke und den Weitblick, um dem Druck einer schwierigen Zeit widerstehen zu können?
Wir werden jedoch den Anschluß völlig verpassen, wenn wir zulassen, selbst gänzlich dem intellektuellen Zauber zu verfallen, den gewisse Aspekte dieser alten Traditionen, besonders in ihren technischen Verzweigungen, in sich haben, denn das ist nicht ihr Zweck. Diese Heiligen Schriften wurden der Nachwelt nicht erhalten, um unsere intellektuellen Gaumen zu kitzeln. Sie wurden von Zeit zu Zeit periodisch herausgegeben, weil hinter jedem Aspekt universalen Wirkens ein ethischer Begriff steht, den wir nicht nur beachten müssen, sondern der beispielgebend für unser tägliches Leben ist.
Das alles ist bezeichnend für die Tragödie, daß wir jahrhundertelang, in der Tat viele Jahrhunderte lang, den Überblick über die Struktur des Universums, mehr noch, den Platz des Menschen, der zwar einzigartig, aber dennoch natürlich, inmitten einer weit größeren Bestimmung ist, nicht gesucht haben. Wir waren durch falsche Erziehung, nicht durch eigene Wahl, gewohnt, uns als Würmer im Staube zu betrachten, anstatt als potentielle Götter. Uns wurde weder über die natürliche Zusammenarbeit, die in allen Reichen über und unter dem Menschen wirksam ist, etwas gelehrt noch darüber, daß das Menschenreich wieder die Mittel und Wege entdecken muß, um im Laufe der Zeit ein selbstbewußter Mitarbeiter der Natur zu werden. Mit einfachen Worten: Wir sind nicht so erzogen worden, um verstehen und mit der Tatsache arbeiten zu können, daß Bruderschaft die tätige Natur und die Natur Bruderschaft ist. Eines Tages werden die Völker der Welt das Sondersein, das die Menschheit auseinanderreißt, ausmerzen, und sie werden wirklich mit der Tatsache der Bruderschaft arbeiten. Wenn wir einen Blick in die Zukunft werfen könnten, dann würden wir feststellen, daß die Zeit nicht mehr weit entfernt zu sein braucht, wo wir wirksamen Frieden und Eintracht unter den verschiedenartigen, jedoch nicht separierten Völkern der Erde finden können.
Wir können das Universum als einen riesigen Schulraum bezeichnen, in dem leider einige Schüler einander mit Argwohn betrachten oder einen offenen Kampf um ein heißbegehrtes Ziel oder um einen Preis führen, während die restlichen Schüler wirklich bemüht sind, Frieden zu bewahren und auf friedliche Art fortzuschreiten. Eine äußerliche Führung gibt es jedoch nicht, auch keine feste Form spiritueller Instruktionen, die Erleuchtung bringen könnten. Der einzige Lehrer ist das Leben selbst.
Alles ist ein Teil des gewaltigen Zyklus evolutionären Wachstums des gesamten Universums, von dem der Mensch ein geringfügiger, aber doch wesentlicher Teil ist. Bis wir die verantwortliche Rolle erkennen, die der Mensch spielt, und bis wir erkennen, daß es seine Pflicht ist, bewußt zu wählen, welche Qualität des Denkens und Bemühens er jeder Handlung zu Grunde legen soll, werden wir einige der feinsinnigen, aber einfachen Dinge vermissen, die zur Verfügung stehen, um uns bei der Lösung unserer Probleme zu helfen.
Wir brauchen nicht entmutigt zu sein, denn trotz unserer Verwirrung, trotz unseres Mangels an Wissen und der Überschätzung unseres unbedeutenden Selbstes, empfindet die Menschheit im allgemeinen die Eingebungen ihres göttlichen Selbstes immer besser. Nicht einer ist unter uns, der nicht die wärmende Glut einer wohlvollbrachten guten Tat verspürt hätte. Wenn wir das fühlen, so ist es ein Ausdruck der Dankbarkeit des Göttlichen im Innern.
Der Rahmen der alten Überlieferungen umfaßt sowohl die tiefste Philosophie als auch die reinste Ethik. Am Herzen aller Dinge ruht das Göttliche - im Innern, im Äußeren, oben und unten. Jene Göttlichkeit ist bemüht, sich zum Ausdruck zu bringen, damit sie die Umgebung, in der ihr Einfluß Geltung hat, bereichern kann. In dem reichen Plan der Evolution gibt es ein Gesetz oder eine Beschaffenheit der Natur, die unveränderlich ist - das Gesetz der Aktion und Reaktion, das Gesetz von Ursache und Wirkung. Wenn wir die Wirkungsweise dieses Gesetzes beobachten, erkennen wir unmittelbar eine Göttlichkeit, die uns die Richtung für unser Ziel gibt, und es wird uns bewußt, daß die Erfahrungen, denen wir von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr begegnen, Wegweiser dafür sind, was die Seele zu ihrem Wachstum benötigt. Eng und unwiderruflich mit diesem Gesetz des Ausgleichs verbunden ist die Notwendigkeit wiederholter Erfahrungen für die Seele bei ihrem ewigen Suchen nach Vervollkommnung, Wachstum und Erfüllung. Allein durch die zyklische und fortgesetzte Wiederkehr der Seele in diesen Schulraum des Lebens, kann die Göttlichkeit im Menschen ihre Mission der Bereicherung erfüllen.
Es ist ein schönes Bild, denn die feine, gerechte und ausgleichende Wechselwirkung von Ursache und Wirkung, die wechselnden Zyklen von Erfahrung und Ruhe gewähren die stete Entfaltung der göttlichen Eigenschaften im Herzen eines jeden von uns.
Wir können sicher sein, daß die Wächter der Menschheit sich nicht so sehr bemüht haben würden, ein Wissen über diese alte Weisheit in ursprünglicher Form, ob in Mythe, Legende, Symbol oder Stein, zu bewahren, nur um die Neugier einiger Weniger zu befriedigen. Dieses umfassende Bemühen entstammt dem mitleidsvollen Impuls, Stärke, Einsicht und Führung zu geben und die glimmende Intuition des Menschen zu entfachen. Wir brauchen nur in den "Hohlraum der nächtlichen Kugel", wie Omar Khayyam es nennt, zu blicken, um dort Harmonie zu sehen und zu erkennen, daß jeder Einzelne von uns nicht nur die Möglichkeit, sondern die erhabene Pflicht hat, ein bewußter Arbeiter auf dem Gebiet menschlicher Erleuchtung zu werden.