Der selbstsüchtige Instinkt
- Sunrise 4/1964
Der Grund, weshalb es so gefährlich ist selbstsüchtig zu sein, liegt vielleicht darin, daß wir gar nicht wissen, wie gefährlich es ist. Wir sind in diese Welt geboren und plagen uns ein Leben lang so gut wir eben können. Und weil dieser selbstische Instinkt, diese sich absondernde Selbstsucht, so offensichtlich ist, ist oftmals das Erste, was uns in den Sinn kommt, wenn wir einem Problem gegenüberstehen oder zwischen zwei Richtungen des Handelns zu wählen haben, daß wir ihr ohne zu fragen und ohne viel darüber nachzudenken folgen. So sinkt die von uns und von Millionen uns ähnlichen Menschen aufgebaute Welt immer tiefer herab in den Lauf gestörter Strömungen.
Andererseits kennt jeder von uns Menschen, die stark genug sind, diesen selbstsüchtigen Trieb zu überwinden, eine Tatsache, die beweist, daß der Mensch die Möglichkeit hat, selbstlos zu werden. Und wenn wir uns der Geschichte zuwenden, so können wir sehen, daß von Zeit zu Zeit Menschen aufgetreten sind, die nicht nur vollkommen selbstlos waren, sondern auch bemüht waren, die Menschheit Weisheit zu lehren.
Wir brauchen nur an einen von ihnen zu denken, einen, der uns am besten bekannt und dessen Name uns am meisten vertraut ist. Aus Berichten, die wir über ihn haben, geht hervor, daß er ganz außerhalb seiner Umgebung stand. Es ging eine Art Licht und Glanz von ihm aus. Menschen kamen zu ihm und mischten sich unter seine Jünger und baten um Belehrung. Und er tat es. Seine Botschaft für die Welt lautete: "Ihr alle seid Brüder. Ihr könnt nicht allein für euch selbst leben. Das Glück jedes einzelnen von euch hängt vom Glück aller ab. Getrenntheit ist eine Täuschung." Er sagte zu den Menschen nicht, daß sie sich erniedrigen sollen, sondern er sagte: "Ihr seid Götter, seid daher vollkommen."
Nun, entweder wir sagen frei heraus, daß er ein Narr oder ein Lügner war, oder aber, er meinte jene Worte todernst. Sie sind wahr, wenn auch das Gegenteil der Fall zu sein scheint. So wußte er bestimmt wesentlich mehr über uns, als wir selbst über uns Bescheid wissen und war mit Dingen vertraut und besaß Weisheit, die wir anderen nicht haben. Er sprach von einer Lehre, von den Mysterien des Himmelreiches, die man erfahren kann, wenn man den Willen des Vaters tut und den selbstsüchtigen Instinkt auslöscht.
Wäre Jesus der einzige Mensch seiner Art gewesen, der je erschienen ist, so würde seine Weisheit wunderbar genug gewesen sein. Dem kommt aber noch mehr Bedeutung zu, wenn wir die Geschichte betrachten und dabei sehen, daß er nicht der einzige Weise war, der so lehrte. Blicken wir auf die Zeit etwa fünf- oder sechshundert Jahre vor Christi und auf das, was sich damals in der Welt ereignete. In Nordindien ging ein junger Prinz aus seinem Palast und sah, daß die Welt voller Sorge war. Das bewegte sein Herz, bis er schließlich seinen Palast um des Guten willen verließ und seines Weges ging. Er wanderte als Bettler umher, um nach der Wahrheit zu suchen, die die Menschen von diesen sorgenvollen Dingen befreien sollte. Schließlich fand er die Wahrheit, dieser Prinz Gautama, und in seinem großen Mitleid ging er von Ort zu Ort, um der Welt die Wahrheit zu verkünden. Und die Menschen kamen zu ihm, wie sie es später bei Jesus taten. Sie wurden seine Jünger und wurden 50 Jahre lang von ihm unterrichtet.
Und was lehrte er sie? Wenn wir unsere Evangelien nehmen und aus ihnen alle Worte Jesu heraussuchen, so werden wir etwas von dem erfahren, was der große Vorgänger Jesu, der Buddha, seine Schüler lehrte. So haben wir nun jene zwei, die beide bezeugen, daß es eine Weisheit gibt, die sich die Menschen zu eigen machen können, und daß der Weg dahin über die Überwindung des selbstsüchtigen Instinkts führt.
Zu der Zeit als Buddha in Indien lebte und seine große Religion des Buddhismus gründete, lebten in China zwei Männer, die auf ihr eigenes Jahrhundert und auf die folgenden Jahrhunderte tief eingewirkt haben. Zu jener Zeit war China ein ähnlicher Kontinent wie Europa, der aus vielen Staaten zusammengesetzt war und deren verschiedene Regierungen damals oft miteinander Krieg führten. In einem dieser Staaten, Lu genannt, trat ein junger Mann auf, der, wie wir sagen würden, die Stelle eines Ministers des Innern versah. Er hatte seine eigenen Ideen, die er auf eine Weise verbreitete, daß ganz Lu in kurzer Zeit völlig frei von Verbrechen wurde. Sein Name war Konfuzius, und ich liebe ihn wegen der Erhabenheit und Einfachheit seiner Lehren und wegen des jahrhundertelangen Erfolges, den sie in der Welt hatten. Denn er lehrte, daß der Mensch von Natur aus gut ist.
Auch Lao-tse lebte in China, und die Religion, genannt Taoismus, hergeleitet von dem chinesischen Wort Tao, das soviel wie der Pfad oder der Weg bedeutet, erinnert an ihn. Zur gleichen Zeit lehrte ebenfalls ein Mann in Indien, und die Religion, die er gründete, wird Jainismus genannt. Außerdem lebte Zoroaster in Persien und predigte die Weisheits-Religion. Und Pythagoras, der Grieche, wandte sich nach Indien und Ägypten und lebte wahrscheinlich in England unter den Druiden. Er kehrte zurück und rief eine Religion der Wahrheiten, die er auf seinen Wanderungen gefunden hatte, ins Leben. Vermutlich zur selben Zeit verkündete der große mexikanische Lehrer Quetzalcoatl seine Religion und predigte öffentlich seinem Volke.
Es erscheint wunderlich, daß es zu dieser Zeit sieben große Männer in der Welt gab, die Wahrheiten lehrten, die ihrem Inhalt nach die gleichen waren. Natürlich unterrichteten sie innerhalb verschiedener Zivilisationen und lebten in unterschiedlichen Verhältnissen. Daher waren auch ihre Methoden verschieden, um den besonderen Bedürfnissen, die sie vorfanden, gerecht zu werden. Aber alle Lehren waren die gleichen. Nur zwei dieser Lehrer, Konfuzius und Lao-tse, die die Gelegenheit einer Zusammenkunft von geschichtlicher Bedeutung hatten, konnten auf die übliche Weise voneinander gehört haben. Und doch können sie alle zusammengekommen sein, und miteinander geplant haben, bevor sie anfingen zu lehren.
So waren diese bedeutenden Männer, und manch andere außer den Genannten, in der Geschichte keine seltenen und abgesonderten Erscheinungen. Sie scheinen alle zusammen eine reguläre Serie erleuchteter menschlicher Wesen zu bilden, deren spiritueller Ratschlag erstaunlich eindeutig war. Das ist logisch, weil sie alle dieselben Dinge, d. h. die Gesetze des Lebens beschrieben haben und wie sich diese Gesetze auswirken.
Wir erfahren, daß diese weisen Männer nicht durch irgendein außerhalb der Naturgesetze stehendes Wunder zu bedeutenden Menschen wurden. Das ist nicht der Fall. Im Gegenteil, sie bestanden auf der Unumschränktheit des Naturgesetzes. Sie standen zu allen Zeiten und an allen Orten als Beispiele auf dem Wege des Wachstums und zeigten einen Weg, den die Menschheit Schritt für Schritt beschreiten kann und der zu vermehrter Weisheit und zu größerem Verständnis führt.
Diese Lehrer wollten uns zu der Erkenntnis bringen, daß unwissentliche oder vorsätzliche Verletzung der Lebensprinzipien zum Leid führt. Wie könnte es auch anders sein? Sie zeigten, daß sich weder eine Zivilisation noch ein menschliches Leben auf der Grundlage der Selbstsucht erfolgreich entfalten kann. Sie lehrten, daß jeder Mensch in seinem tiefsten Innern einen mächtigen Gott birgt, den man zum Ausdruck bringen kann, und im Verlauf der Zeit, zum Ausdruck bringen muß.