Der mystische Tempel Salomos
- Sunrise 4/1964
Salomo war ein Weiser, ein Mensch, nicht so sehr weise in der Weisheit dieser niederen Welt, als in der Weisheit der höheren Welt, der echten Weisheit. Wenn er wirklich den Tempel erbaut hätte, den die Menschen meinen, wenn sie über den "Tempel Salomos" sprechen, so kann man nur fragen, was in aller Welt denn aus diesem seltsamen Tempelbau geworden ist. Das Altertum, mit Ausnahme der jüdischen Bücher, weiß überhaupt nichts davon.
Wie kommt es, daß die Gelehrten unter den Römern, Griechen, Ägyptern und anderen Völkern, die eine der Hauptverkehrsstraßen Kleinasiens benutzten, niemals diesen wundersamen Tempel erwähnten? Heute sind keine Spuren mehr davon vorhanden, außer einer Legende, daß der jetzige Tempel von Jerusalem an seinem Standort erbaut worden sei. Es wird uns auch erzählt, daß dieser Tempel von gewissen Arbeits-Priestern, Bauarbeitern, Maurern, Zimmerleuten und anderen erbaut worden sei, und doch hörte man keinen Laut eines Werkzeugs. Zeigt uns nicht gerade diese Beschreibung offensichtlich, daß dieser Salomonische Tempel keinesfalls ein physischer Bau war, sondern sozusagen ein mystischer Tempel in den Himmeln.
Wie ist das Universum von den kosmisch Schaffenden, den kosmischen Geistern, den kosmischen, Tag und Nacht wirkenden Arbeitern und Architekten erbaut worden? Wie ist es erbaut worden? Ohne den Klang von Werkzeugen durch kosmische Weisheit erbaut, durch kosmische Weisheit und Liebe immerwährend an seiner Stelle gehalten, ist es als kosmisches Gefüge unaussprechlich schön.
Wie ist der Körper des Menschen gebaut, der Tempel, der heilige Thron, der in seinen höchsten Teilen das Allerheiligste der inneren Gottheit ist? Er wurde in der Stille erbaut, ohne den Laut eines Werkzeuges, weder den Klang des Hammers noch den des Meißels noch den des Schlegels.
Unter den Initiierten war es ein allgemein bekanntes Zeichen, wenn ein bestimmtes großes Wesen eine 'Stadt' gründete, es eine esoterische Schule gründete, und wenn es einen 'Tempel' in dieser Stadt erbaute, so eröffnete es ein Heiligtum für die Initiation - den Tempel in der Stadt, das Heiligtum, das Allerheiligste innerhalb der Schule.
Salomo heißt im Hebräischen Friede, Ruhe. Wißt ihr, daß die geheime Weisheit der Hebräer, genannt die Kabbalah, das Gebäude des Universums ebenfalls als einen Tempel darstellt; nicht wörtlich, sondern dem Sinn nach? Aus dem unbeschreibbaren Uranfänglichen Punkt geht Adam Kadmon hervor, der Uranfängliche Hierarch des kommenden Universums; und Adam Kadmon entströmen neun und zehn Sephirots, die Hierarchien der Engel, der untergeordneten Architekten und Erbauer, die Bauherren, die Maurer, die Zimmerleute des Universums, die den Tempel im Schoße von Ein Soph, dem Grenzenlosen erbauen - ein Universum.
Was war dieser mystische Tempel Salomos anderes als die Hierarchien der Engel des Universums, die ohne den Laut von Werkzeugen das edelste Werk erschufen, das die Götter vollbracht haben. Der heiligste Sinn, die schönste Bedeutung dieses Salomonischen Tempels ist die einer neuen Offenbarung der alten Gott-Weisheit für die Menschheit. So können wir ihn die Kabbalah der Juden nennen, welche Salomo damals erstmalig herausgab. Wie viel schöner, wie viel mehr der Verehrung wert ist dies: das, was den Menschen vom Menschen zu einem Halbgott macht, weil es entschleiert, offenbart, den Gott in ihm hervorbringt. Gibt es eine höhere Religion als diese? Es ist das Ziel und der Zweck all der größten spirituellen Menschen des Altertums: den Gott im Menschen ans Licht zu bringen.
Und vielleicht erinnert ihr euch, worauf ein anderer Jude, der große Avatâra Jesus hinwies, auf die edelste Weise zu beten, auf die heiligste, den Gottheiten annehmbarste Art? Im wesentlichen war es dies: Wenn du dein Herz in Dankbarkeit enthüllen willst, trete ein in das Allerheiligste, die geheime Kammer in dir selbst, wo Friede und Stille und Gottesdienst wohnen. Mache es nicht wie die Pharisäer in den Kirchen, den Synagogen, den Tempeln, die öffentlich mit vielen Worten anbeten. Doch trete ein in das Allerheiligste, in dein eigenes Herz, wo die Gottheit wohnt.
Dort ist der Tempel. Die, welche es wünschen, mögen öffentlich in Kirchen, in Synagogen, Tempeln und Kathedralen anbeten. Die wahren Anhänger Jesu, die wahren Anhänger der großen Initiierten aller Zeiten, mögen solche Orte besuchen; aber wenn ihnen ihr Gottesdienst am höchsten und teuersten ist, werden sie in sich gehen, in die innere Kammer, Gott im geheimen und in Frieden, in der Stille mit beruhigten Sinnen dienen, denn in der Stille ist die leise, kleine Stimme.
So ist der Tempel Salomos nichts anderes als eine Version der universalen Allegorie, die auf der ganzen Welt und allen Völkern bekannt ist.