Die schwierigste aller Wissenschaften
- Sunrise 3/1964
Lucius Annaeus Seneca (ca. 3 v. Chr. - 65 n. Chr.), Staatsmann und Philosoph, war einer der hervorragendsten lateinischen Schriftsteller im Silbernen Zeitalter Roms. Er war, wie viele römische Schriftsteller, kein Italiener und wurde zu Cordova in einer berühmten spanischen Familie geboren. Er war in Stoizismus, Rhetorik und Rechtswissenschaft geschult, trat in die Staatswissenschaft ein, häufte ein großes Vermögen an, war eine Zeitlang verbannt, kehrte als Privatlehrer Neros zurück, der ihn später verstieß und schließlich von ihm forderte, sich selbst das Leben zu nehmen, was er auch tat. Seneca schrieb über verschiedene Themen, wie Redekunst, Wissenschaft und Satire. Seine moralischen Abhandlungen sind es jedoch, auf denen sein Ruf mit Recht beruht. Es sind in der Tat stoizistische Predigten, die bezwecken, die Tugend zu vergrößern und die deshalb so bemerkenswert sind, weil sie den modernen ethischen Vorstellungen zuvorkommen. Die folgenden Auszüge aus seinem Essay "Über die Kürze des Lebens" sind der ausgezeichneten Übersetzung von Moses Hades entnommen, die als broschierte Ausgabe herausgegeben wurde. (Doubleday and Co. 1958) - Der Herausgeber
Allgemein beklagen sich die Menschen darüber, Paulinus, daß die Natur geizig ist: die uns zugeteilte Spanne ist kurz, und die uns verliehene Frist fliegt mit solch schwindelerregender Eile dahin, daß alle, außer einigen wenigen, sie erschöpft haben, gerade, wenn wir zu leben anfangen. ... Nicht, weil wir so wenig Zeit haben, sondern, weil wir soviel Zeit verlieren. Das Leben ist lang genug und der uns zugewiesene Teil für unsere meist ehrgeizigen Ziele völlig ausreichend, wenn wir es sorgfältig anlegen. Aber, wenn es durch Luxus und Gleichgültigkeit verschwendet und so gelebt wurde, daß es zu keinem guten Ende führte, erkennen wir, daß es entflohen ist… ehe wir es bemerkten, war es dahin. Es ist so: das Leben, das wir erhielten, ist nicht kurz, sondern wir machen es kurz, wir sind nicht schlecht versorgt, sondern gebrauchen das, was wir haben verschwenderisch.
Manch einer würde sagen "Nach meinem fünfzigsten Lebensjahr werde ich mich zurückziehen und ausspannen; mein sechzigstes Lebensjahr wird mich von meinen Verpflichtungen befreien." Und welche Garantie hast du dafür, daß dein Leben länger dauern wird? Bist du nicht darüber beschämt, für dich nur das letzte Ende des Lebens zurückzubehalten und nur soviel Zeit auf großmütige Gedanken zu verwenden als man im Geschäft nicht brauchen kann? Wie spät ist es doch, erst eine Stunde vor dem Dahinscheiden mit dem Leben beginnen zu wollen!
Überdies wird allgemein zugegeben, daß kein Ziel von einem Menschen verfolgt werden kann, der anderweitig beschäftigt ist, denn das Gemüt kann nichts gründlich aufnehmen, wenn seine Interessen fragmentarisch sind, sondern es speit alles aus, was hineingestopft wurde. Die unbedeutendste Angelegenheit des in Anspruch genommenen Menschen ist das Leben; es ist die schwierigste aller Wissenschaften. Experten anderer Disziplinen sind zahlreich und überall; einige von ihnen, völlige Knaben, waren in der Lage, sich so gründlich zu beherrschen, daß sie selbst den Lehrer spielen konnten. Die Wissenschaft des Lebens erfordert das ganze Leben, und die Wissenschaft des Sterbens, die du noch erstaunlicher finden magst, erfordert ebenfalls ein ganzes Leben. Viele vortreffliche Menschen haben ihre ganze Belastung aufgegeben, haben Reichtum, Geschäft und Vergnügen entsagt und haben sich nur ein Ziel gesetzt, den Rest ihrer Zeitspanne, der noch bleibt, zu lernen wie man leben soll. Jedoch die größere Anzahl stirbt mit dem Bekenntnis, daß sie diese Kunst noch nicht gelernt hat. … Glaube mir, der Mensch muß stark sein und muß sich hoch über die menschlichen Schwächen erheben, wenn nichts von seiner Zeit verschwendet werden soll.
Du kannst daher weder ein weißes Haupt noch Runzeln als Beweis für ein langes Leben annehmen; der Mensch hat eine lange Zeit existiert, doch nicht eine lange Zeit gelebt. Könntest du dir einen Mann vorstellen, der eine lange Seereise antreten wollte und der unmittelbar beim Verlassen des Hafens in einen wilden Sturm geriet und von wechselnden Windstößen aus entgegengesetzten Richtungen hin- und hergeworfen würde, so daß er sich auf der Stelle im Kreise bewegte? Jenem Mann wäre keine lange Reise, wohl aber eine lange Irrfahrt beschieden gewesen.
… auf die Zeit wird kein Wert gelegt; die Menschen verwenden sie so sorglos, als ob sie nichts kostete. Aber siehe, wie dieselben Menschen ihre Ärzte anflehen, wenn sie krank werden und den Tod vor Augen sehen, siehe, wie sie bereit sind alles für das Leben hinzugeben, wenn sie von einer tödlichen Bürde bedroht sind! So ausgesprochen unvereinbar ist ihr Tun. Könnten die Menschen ihre künftigen Jahre überblicken und diese so genau zählen wie die vergangenen, welche Unruhe würde das bei denjenigen hervorrufen, die sehen, daß ihnen nur noch wenige Jahre verbleiben; wie sparsam würden sie mit ihnen umgehen!
Die Zeit enteilt. Sie wird sich weder wiederholen, noch wird sie ihrem Lauf Einhalt gebieten; sie macht keinen Lärm und entflieht unbemerkt. Ihr Gang geht lautlos vor sich; sie gewährt keine Zugabe, weder auf königlichen Befehl, noch auf allgemeinen Applaus hin. Sie wird ohne Ablenkungen und ohne langsamer zu werden den Kurs verfolgen, der ihr an ihrem Anfangspunkt zugewiesen wurde.
Gewisse Menschen, die mit ihrer Voraussicht prahlen, sind immer mit Arbeit beschäftigt, damit sie in der Lage sind besser leben zu können; sie verwenden ihr Leben dazu, um Vorsorge zu treffen. … Die Erwartung ist das größte Hindernis im Leben. Indem man das Morgen vorwegnimmt, verliert man dabei das Heute. Wirke du mit dem, was in der Hand des Schicksals liegt, doch nimm Abstand von dem, was in deine eigene gelegt ist.
Das Leben zerfällt in drei Abschnitte - Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Davon ist die Gegenwart vergänglich, die Zukunft ungewiß, die Vergangenheit unveränderlich. Die Vergangenheit ist der Teil, über den das Schicksal die Macht verloren hat; sie kann keiner menschlichen Kontrolle unterworfen sein. … Die gegenwärtigen Tage kommen einer nach dem andern und Minute für Minute an jedem Tag, aber alle vergangenen Tage werden auf dein Geheiß hin erscheinen und dir erlauben, sie zu prüfen und je nach deinem Willen bei ihnen zu verweilen. Vielbeschäftigte Menschen haben dafür keine Zeit. In alle Abschnitte der Vergangenheit abzuschweifen ist das Privilegium eines ruhigen und unbeschwerten Gemütes, aber die Gemüter der Vielbeschäftigten können, als ob sie durch ein Joch gehindert würden, sich nicht umwenden und zurücksehen. Und so gleitet ihr Leben in einen Abgrund. ... Die Gegenwart ist derart flüchtig, daß es für manche scheint, als gäbe es sie nicht. Sie ist immer in Bewegung, fließt ungestüm dahin, hört auf zu sein noch ehe sie erschienen ist und wird nicht länger verhalten wie das Firmament oder die Sterne, deren unaufhörliches Wandern es ihnen nicht erlaubt an einer Stelle zu verweilen. Geschäftige Menschen sind nur an der Gegenwart interessiert, und die Gegenwart ist so vergänglich, daß man sie nicht greifen kann. …
Die einzigen Menschen, die wirklich Muße haben, sind diejenigen, die Philosophie studieren. Sie allein leben wirklich. Nicht nur ihr Leben ist es, für das sie sorgsame Verwalter sind: sie machen jedes Alter zu dem ihrigen und werten all die vergangenen Jahre aus. Sofern wir nicht undankbar sind, es geschah uns zuliebe, daß die berühmten Gründer göttlicher Schulen des Denkens ins Dasein traten und für uns einen Lebensweg vorbereiteten. Durch die Anstrengungen anderer werden wir zu den größten Schätzen geführt und heben diese aus der Dunkelheit, in der sie vergraben waren, zum Licht. Kein Zeitalter ist uns verboten; zu allen haben wir Zutritt, und wenn wir uns entschließen, die engen Grenzen der menschlichen Schwächen durch die Erhabenheit des menschlichen Gemüts zu überschreiten, dann haben wir eine weite Zeitstrecke zu durchstreifen. Wir können mit Sokrates streiten, mit Carneades zweifeln, uns auf Epikur verlassen, mit den Stoikern die menschliche Natur übertreffen und sie mit den Zynikern herausfordern.
Diese werden dir den Pfad zur Ewigkeit erschließen und werden dich zu einer Höhe erheben, von der niemand herabgeworfen werden kann. Dies ist die einzige Bedeutung des Hinauszögerns deiner Sterblichkeit, vielmehr von ihrer Umgestaltung zur Unsterblichkeit. Ruhm, Denkmäler und all das, was der Ehrgeiz mit Inschriften und hochaufgerichtetem Stein verkündigte, ist schnellem Untergang geweiht; es gibt nichts, was der Zahn der Zeit nicht zerstört und ausrottet. Doch was die Philosophie verleiht ist unüberwindlich; die Zeitalter können die Erinnerung an sie nicht austilgen oder ihre Kraft vermindern. Jede folgende Generation wird sie in immer höherem Maße verehren; was in der Nähe liegt ist Gegenstand des Neides, doch aus der Ferne können wir ohne Vorurteil bewundern. Deshalb ist das Leben des Philosophen umfassend, er ist nicht blockiert und eingeschränkt wie andere. Er allein ist von den Begrenzungen der Menschheit befreit; alle Zeiten stehen ihm, wie einem Gott zu Diensten. Ist die Zeit vorüber? Er hält sie in der Erinnerung fest. Ist jetzt die Zeit gegenwärtig? Er nützt sie. Wird sie noch kommen? Er kommt ihr zuvor. Die Verschmelzung aller Zeiten zu einer einzigen verlängert sein Leben.
Nimm deine Zuflucht zu diesen heiteren, sicheren und größeren Bereichen ... diese heiligen und erhabenen Studien werden dir das Wesentliche, den Willen, die Umgebung und die Gestalt Gottes veranschaulichen, welches Schicksal deine Seele erwartet, wo uns die Natur zur Ruhe legt, wenn wir vom Körper befreit sind, was die Macht ist, die ... den genauen Lauf der Sterne leitet und andere ähnliche Begebenheiten, die voll großer Wunder sind. Möchtest du nicht die Tiefe verlassen, und dein Gemüt diesen Dingen zuwenden? Ihnen mußt du entgegengehen, während dein Blut warm ist und deine Wahrnehmungen scharf sind. Bei dieser Lebensweise erwarten dich eine Menge schöner Erfüllungen, Gefallen finden an den Tugenden und an deren Ausübung, Vergessen der Leidenschaften, die Erkenntnis vom Leben und Sterben, ein Leben voll tiefer Ruhe.