Religion, Wissenschaft und der Geist des Menschen
- Sunrise 3/1964
Der Weg der liberalen Religion ist nicht leicht. Tatsächlich ist das Wesentliche unserer liberalen Religion, sich mit tiefen Fragen abzumühen, über die unfaßbaren Dinge nachzusinnen und die gewonnenen Erfahrungen miteinander auszutauschen. Jene von uns, die finden, daß wir die Offenbarung als eine Quelle der Wahrheit zurückweisen müssen, oder die autoritäres Regierungssystem nicht länger als Führer religiösen Glaubens anerkennen können, müssen offen mit der Schwierigkeit ringen, die Quelle der Wahrheit in uns selbst zu finden, und zwar sowohl individuell wie auch durch ausgetauschte Erfahrungen.
Die größte Schwierigkeit dabei ist vielleicht, daß dieses Forschen nach einem Glauben so sein muß, daß es sowohl den Diktaten der Vernunft, wie auch der Essenz unseres Geistes entspricht. Die Vernunft aufzugeben würde Blindheit sein, irgendwelche unserer tiefgefühlten spirituellen Eigenschaften aufzugeben, hieße unsere Menschlichkeit verletzen. Das uns angeborene Gefühl der Zweckmäßigkeit, unser Berührtwerden von Liebe und Schönheit und der Drang unserer Aspirationen sind schwer auszurotten, und wenn wir am menschlichsten sind, scheinen sie am natürlichsten zu sein. Ja, wir sind offenbar sowohl vernünftige, wie geistige Wesen - und darin liegt das Problem. Deshalb müssen wir, wenn wir die Verantwortlichkeit einer liberalen Religion auf uns nehmen, sie mehr als eine Gelegenheit zu persönlichem Wachstum als zur Erlösung betrachten und so gesehen mit Kampf und nicht mit Erquickung, mehr mit Herausforderung als mit Behaglichkeit zufrieden sein.
Diese zwei Seiten unserer Natur, unsere Vernunft und unser Geist, haben als ihre Hauptmanifestationen nach außen auf der einen Seite unsere Wissenschaft und auf der anderen unsere Religion. Zu lange jedoch waren unsere Wissenschaft und unsere Religion entweder in einer befremdlichen, unnatürlichen Spaltung der Erfahrung getrennt oder hielten einen peinlichen Streit miteinander aufrecht. Da ich glaube, daß die Religion und die Wissenschaft größtenteils unseren ästhetischen Vorlieben und intuitiv empfangenen Ideen entsprechend von Menschen gemacht sind, habe ich eine Zeit lang versucht, einige der Fäden zu finden, die diese zwei Facetten unseres Lebens zu einem Gefüge verbinden können. Beim Weben eines solchen Gewebes sollten wir nicht nach einem Ende des gespannten Verhältnisses ausschauen, sondern vielmehr auf die Erlangung eines besseren Verständnisses und einer Synthese des zukünftigen Wachstums beider.
Doch es war nicht immer so. Vor nicht langer Zeit, vor dem Aufstieg der Wissenschaft im sechzehnten Jahrhundert, waren wir alle Kinder Gottes, denen er seine größte Aufmerksamkeit schenkte, und die Welt gehörte ausschließlich uns. Die Welt der Natur existierte, damit sie vom Menschen erforscht werden möchte und er sich daran erfreuen sollte. Der Mensch existierte, damit er Gott erkennen könne und sich dessen für immer erfreute. Die fruchtbare Erde war das für uns speziell geschaffene Heim, über dem die Sonne schien, um uns Wärme und Licht zu spenden, der Mond, um uns zu bezaubern und die Sterne, damit wir unter ihnen geboren wurden. Dieses Paradies ist jetzt dahin, und wir finden uns an einem Ort der Qual wieder, wo wir auf einem der kleineren Planeten der Sterne mittlerer Klasse in den äußeren Bereichen der Milchstraße durch den Raum treiben und uns von Hunderten von Millionen anderer Sterne nicht unterscheiden. Raum und Zeit und das uns umgebende wogende Universum sind überwältigend. In einer Sternennacht den Himmel zu betrachten erfordert tatsächlich Mut, wenn wir uns dabei nicht selbstvergessen und versuchen unseren Gleichmut zu bewahren. Wir blicken schweigend hinaus in den Raum und zurück in die Zeit, denn die Wissenschaft hat uns aus unserem Hause herausgeführt. Kann weiteres Verstehen die Türe dazu wieder öffnen? Das ist, wie es scheint, unsere einzige Hoffnung.
Wenn die Vergangenheit ein Vorspiel ist, dann wird uns eine kurze Betrachtung des Weges, den wir gewandert sind, bei unserem Suchen helfen. Die große Verschiebung in der Betrachtung der Welt begann in Wirklichkeit im Jahre 1543 als Nikolaus Kopernikus, ein deutscher oder polnischer Astronom (wir wissen es nicht genau), sein Buch De Revolutionibus veröffentlichte, in welchem er erklärte, daß die scheinbaren Bewegungen der Sterne am Himmel, und die Bewegung der Sonne entlang des Himmelsgewölbes durch eine Drehung der Erde um ihre eigene Achse und durch ihre Umkreisung der Sonne entstehen, daß diese große und feste Erde in Wirklichkeit nicht der feste Mittelpunkt des Universums ist, sondern um die Sonne und durch den Raum wirbelt. Obwohl Kopernikus wirklich nicht die gut autorisierte Heilige Schrift untergraben wollte - tatsächlich widmete er sein Buch dem damaligen Papst Paul III, dessen Interesse und Schutz er anrief - wurde er wegen ihrer größeren mathematischen Einfachheit und Harmonie im Gegensatz zu der vorherrschenden ptolemäischen oder die Erde als Zentrum betrachtenden Astronomie von dieser Theorie gefesselt. Obwohl er selbst ohne Zweifel glaubte, daß seine Theorie richtig war, wurde sein System von Astronomen und Seeleuten über fünfzig Jahre lang mehr als ein mathematisches Instrument, denn als eine grundlegende Wahrheit hingenommen. Aber das Unheil war angerichtet und zur gegebenen Zeit nahm ein Gelehrter hier, ein anderer dort, seine Ideen an.
Als 1609 ein neues wissenschaftliches Instrument in der Welt eingeführt wurde, wurde diese Annahme ungestüm beschleunigt. In diesem Jahr erwarb Galileo Galilei, der Nachwelt unter seinem ersten Namen bekannte große Italiener, ein Teleskop und begann die Sterne zu betrachten. Als Galileo den Mond betrachtete, sah er viel mehr als nur seine Krater, Bergketten und großen flachen Ebenen. Er sah, daß das Gelände auf dem Mond dem der Erde sehr ähnlich, und er nicht die glatte und glänzende Himmelskugel war, wie die aristotelischen Gelehrten und die Kirche behaupteten. Weiteres Zeugnis für die Einheit des Universums häufte sich schnell an, wozu auch die Entdeckung des Erdscheins auf dem Monde gehörte. Die Erde war daher nicht nur unserem Monde ähnlich, sondern reflektierte wie die anderen Planeten das zentrale Feuer der Sonne. Sie war keine besondere Schöpfung, sondern einfach eine unter vielen. Seit Jahrhunderten wurden die Lehren von anerkannten Gelehrten auf wissenschaftlichem Boden zum ersten Mal ernstlich in Frage gestellt. Das alte Universum mit seiner Hölle unten, der Erde in der Mitte und das Ganze von einer rotierenden Himmelssphäre umgeben, durch die das Licht des Himmels schien, war dahin. Kein Wunder, daß sich viele der führenden Geistlichen jener Zeit weigerten durch Galileos Teleskop zu schauen, und er 1633 auf Grund des Urteils der Inquisition gezwungen wurde zu widerrufen.
Doch das hielt den Fortschritt des Wissens natürlich nicht auf. Wenn wir bei Sir Isaac Newton anlangen, der in dem Jahre geboren wurde in dem Galileo starb, war der Sieg endlich und vollständig errungen. An diesen bedeutenden wissenschaftlichen Genius erinnert man sich wahrscheinlich am besten wegen seiner Entdeckung des Gravitationsgesetzes durch die Beobachtung eines in seinem Garten vom Baume fallenden Apfels. Aber in Wirklichkeit führte die Entdeckung viel weiter. Seine Entwicklung des Begriffes der Schwere legt dar, daß dieselbe Kraft, die auf den Apfel wirkt, auch auf alle anderen Körper im ganzen Universum wirkt. Daß dieselbe Kraft oder Tätigkeit, die den Apfel zum Fallen bringt, auch den Mond in seiner Bahn um die Erde festhält und die Planeten auf ihrem Lauf um die Sonne. Mit diesem großen Sprung der Imagination vereinigte er das Universum vollkommen und damit verwandelte er unsere Erde in einen kleinen Zahn im Getriebe einer gewaltigen Maschine.
So revolutionär diese Entdeckungen waren, die Mathematik als wissenschaftliches Werkzeug zu gebrauchen war seine Entwicklung, die ihre größte Wirkung auf philosophisches Denken hatte. Seine geniale Veranlagung für Mathematik und sein Erfolg in ihrer Anwendung alle Arten naturwissenschaftlicher Ereignisse vorherzusagen und zu verbinden - vom Fallen eines Apfels bis zur Bewegung eines Sternes, der Biegung des Lichtes und der Entwicklung von Sehwerkzeugen, von der gegenseitigen Wirkung und Rückwirkung unter Körpern -, verwandelte die Mathematik nach und nach zu einem Prüfstein für die Wahrheit in der physischen Welt. Was mathematisch beschrieben werden konnte, wurde zu einer grundlegenden Wahrheit, was nicht beschrieben werden konnte, wurde, wenn nicht ganz falsch, zumindest weniger wahr. Das Forschen nach einem Verständnis der Natur und der göttlichen Gesetze wurde zu einem Forschen nach dem verborgenen inneren mathematischen Aufbau der Natur, Gott wurde ein Meister der Mathematik und ihn erkennen hieß seine Gesetze entdecken. Das war wirklich eine höchst erstaunliche Revolution im Denken. Von einer lebendigen Welt des Verehrers des Mittelalters, einer Welt, die von Schönheit und durch einen Zweck innerlich angeregt wurde, einer Welt, die eine vertraute Beziehung zu ihrem eigenen Schicksal und einen verständlichen Grund für ihre Existenz im Lichte jenes Schicksals hatte, wurde entdeckt, daß sie eine Illusion sei. Sie hatte kein objektives Dasein. Die wirkliche Welt war, wie durch die Wissenschaft enthüllt, eine Welt materieller Partikel, die sich in Übereinstimmung mit mathematischen Gesetzen durch Raum und Zeit bewegten. Die Welt wurde mehr als materiell statt spirituell, mehr als mechanisch denn teleologisch dargestellt.
Wenn das die wirkliche Welt ist, was ist dann mit all jenen anderen Eigenschaften, die in unserer eigenen unmittelbaren Erfahrung höchst lebendig und stark sind? Jene der Farbe, des Tones, der Schönheit, der Freude, der Hitze und Kälte, des Duftes und deren Anwendbarkeit für Zwecke und Ideale? Alle diese Dinge, die das eigentlich Wesentliche der scholastischen Welt bildeten und die Dinge waren, die sie lebendig, lieblich und spirituell machten, erkannte man als von unseren menschlichen Sinnen abhängig und deshalb als weniger wirklich und von untergeordneter Bedeutung. Und so wurde im menschlichen Denken fest der Begriff einer dualen Welt geschaffen, wie er durch Descartes "Dualismus" zuletzt triumphierend zum Ausdruck gebracht wurde - eine Welt, die eine ungeheure mathematische Maschine darstellte und fortbestehen und in Gang bleiben würde, auch wenn es überhaupt keine Menschen gäbe; und eine zweite, eine mitwirkende und untergeordnete Welt, in der unsere Vorstellungen, unser Wille, unsere Gefühle und unsere Aspirationen zu Hause sind.
Und so fingen wir an, unseren Himmel zu verlieren und mit ihm unsere unsterbliche Seele. Für viele nachdenkliche Menschen verschob sich die wirkliche Welt des Menschen von ihrer unsterblichen Seele hinweg auf die Entwicklung ihrer in ihrer Art einzigartigen Persönlichkeit hin, wie diese in der englischen Philosophie des 18. Jahrhunderts dargestellt ist. War es schon nicht des Menschen Pflicht, seine Seele zu retten und in den Himmel zu kommen, dann sollte er wenigstens seine ausgiebigen Möglichkeiten als einzigartiges Einzelwesen entwickeln. Aber auch das wurde durch drei andere Männer der Wissenschaft schließlich entkräftet - Darwin, Marx und Freud. Darwin verkündete die evolutionäre Eigenschaft des Lebens; Marx lehrte, daß wir das Produkt kosmischer Kräfte sind, die unser Leben und unsere Persönlichkeit gestalten; und Freud, daß wir das Resultat unterdrückter sexueller Begierden sind. Sie sagten alle dasselbe, nur auf verschiedene Weise: daß wir alle ein Produkt dessen sind, was vorausging und wir auf diese Weise nicht nur nicht verantwortlich, sondern auch unfähig sind, unser Schicksal selbst zu gestalten.
Eine ziemlich extreme Darlegung dieser Lehre über den Menschen und seine Lage wurde vor einiger Zeit von Lord Bertrand Russell in seinem Buch A Free Man's Worship beredt zum Ausdruck gebracht. Lord Russell schreibt,
Daß der Mensch ein Erzeugnis von Ursachen ist, die nicht voraussahen, was sie vollbrachten; daß sein Ursprung, sein Wachstum, seine Hoffnungen und Befürchtungen, seine Zuneigungen und Überzeugungen nur das Ergebnis zufälliger Anordnungen von Atomen sind; daß keine Inbrunst, kein Heroismus, keine Stärke des Denkens und Fühlens ein individuelles Leben über das Grab hinaus erhalten können; daß alle Mühsale der Zeitalter, alle Ergebenheit, alle Inspiration, alles noch so helle Leuchten des Genius dazu bestimmt sind, bei dem großen Tod des Sonnensystems ausgelöscht zu werden, und der ganze Tempel menschlicher Errungenschaften unvermeidlich unter den Trümmern eines untergegangenen Universums begraben sein muß - alle diese Dinge sind, wenn nicht ganz unbestreitbar doch so höchstwahrscheinlich sicher, daß keine Philosophie, die sie bestreitet, hoffen kann, sich zu behaupten.
Eine so trübe Philosophie verwirrte natürlich, obwohl von dem großen Gebäude wissenschaftlichen Wissens unterstützt, viele nachdenkliche Menschen. Selbst die starren Viktorianer, die diese Lehren predigten, verraten manchmal einen verzweifelten Wunsch, daß die Dinge nicht so sein möchten. Für den reifen und überlegenden Geist besteht das Gefühl, daß etwas nicht stimmt, daß die Wissenschaft vielleicht noch nicht weit genug vorgedrungen ist. Es überrascht daher nicht, zu beobachten, daß die Entdeckung, daß uns die Wissenschaft nicht länger zwingt an unsere wesentliche Nutzlosigkeit zu glauben, selbst von Männern der Wissenschaft mit lautem Beifall begrüßt wird.
Das erste Anzeichen, daß unsere früheren Begriffe nicht in jeder Hinsicht befriedigend waren, stellte sich um die Jahrhundertwende ein, als wir fortfuhren, unsere Forschungen in der Welt des sehr Kleinen wie in der Welt des sehr Großen voranzutreiben. Unsere früheren Bemühungen, eine mechanische Theorie des Lichtes aufzustellen, führte notwendigerweise zur Erfindung des Äthers als ein unbestimmtes und feines Fluidum, das den ganzen Raum erfüllte. Wenn das Licht, wie es schien, wellenförmig war, dann mußte es innerhalb von irgend etwas aus Wellen bestehen. Und so wurde der Äther etwa in der gleichen Weise erfunden, wie Newton die Schwerkraft entdeckte. Generationen lang wurde diese Mißgeburt mühsam bearbeitet, bis es Einstein schließlich gelang, sie mit seiner Relativitätstheorie zu verjagen. Das Licht wurde zu Wellen in nichts. Manche von Ihnen könnten natürlich sagen, daß das Licht doch nicht wellenförmig ist, sondern aus Partikelchen besteht; aber das wird unter gewissen Bedingungen auch nicht immer stimmen. Schließlich ging uns ein Licht auf, daß alles, was wir in Wirklichkeit über das Licht wissen, die Art ist, in der es unsere Meßinstrumente beeinflußt. Über seine wahre Natur wissen wir nichts. Auf diese Weise erhielt eine Wesenheit Eingang in die Wissenschaft, die nur durch die Erscheinungen ihrer äußeren Wirkungen und durch ihre mathematische Struktur bekannt ist. Diese Erkenntnis, daß das wissenschaftliche Wissen mehr auf das Verhalten, auf die Substanz, auf die Form und nicht auf das Material beschränkt ist, ist in der Entwicklung der neuen Weltanschauung, die wir jetzt erfahren, von grundlegender Bedeutung.
Dasselbe kann von der Elektrizität gesagt werden. Weitere Forschungen während der letzten dreißig Jahre haben gezeigt, daß das Elektron, der Grundbaustein aller Materie, wie das Licht, manchmal ein Partikel und manchmal eine Welle ist. Wenn das vernunftwidrig klingt, lenke ich Ihre Aufmerksamkeit auf Einsteins einfache Formel E = mc2, daß Materie und Energie gegenseitig umwechselbar und irgendwie ganz miteinander vermischt sind. Das unzerstörbare und feste Atom von Leukippos und Demokritos ist schließlich nach einer langen Reise durch die Geschichte zu einem kleinen Bündel Energie geworden. Statt feste, beständige Materie haben wir nur verschiedene Formen von Energie im Universum, die wir nur durch ihr Verhalten und in Ausdrücken des mathematischen Gefüges erkennen, das wir auf Grund ihres Verhaltens entwerfen.
Das mechanische Atom Bohr's, das als Miniatursonnensystem betrachtet werden könnte und von dem wir daher andeutungsweise etwas Bestimmtes ahnten, ist für die Wissenschaft als Tatsache nicht länger annehmbar. An seiner Stelle haben wir nun das unwahrscheinliche Schrödinger Atom mit seinen Energiewellen im multidimensionalen Raum - ein Atom, von dem es unmöglich ist, sich ein Bild zu machen, wahrhaftig ein Gedanke, so enorm wie kaum etwas.
In ähnlicher Weise beginnen wir durch die Relativitätstheorie in der Welt des sehr Großen zu begreifen, daß der Beobachter eine Hauptrolle spielt, daß die Zeit mit dem Raum vermengt ist und beide zusammen eine subjektive Beschaffenheit haben. Mich dünkt, zu den bedeutendsten Resultaten der Naturwissenschaft zählen nicht nur die Vernichtung von Hiroshima oder die Verheißung nuklearer Energie, sondern auch die philosophischen Folgerungen, die sich aus der Einführung des Beobachters in die physische Wirklichkeit ergeben. Entfernung, Zeit und Raum können nicht länger als von der sie beobachtenden Person unabhängige Absoluta betrachtet werden, sondern sie sind abhängig von dem Ort des Beobachters und in noch größerem Maße von der Art in der er die Wirklichkeit seiner Erfahrung zu beschreiben suchte. Die Wissenschaft muß sich der Bestätigung der erfahrenen Tatsache anpassen, aber es ist eine Tatsache, wie sie von Menschen erfahren wurde. Die unveränderlichen Gesetze der Wissenschaft gelten nicht mehr unumschränkt und unumstößlich, ganz gleich ob der Mensch da ist sie zu beobachten oder nicht, sondern bilden statt dessen die Art, in der der Mensch die Erfahrungen seiner Sinne geordnet und gruppiert hat, um ein Gefüge des Denkens zu schaffen, das mit der Art übereinstimmt, in der sein Geist arbeitet. Die Wissenschaft hat jetzt den Menschen in die Natur und die Natur in den Menschen gestellt, denn beide können nur in Ausdrücken des anderen beschrieben werden, bekommen nur auf diese Weise einen Sinn.
Zu diesen bedeutenden und tiefen Einblicken in die Welt des physischen Universums passen sicherlich die neueren Enthüllungen der Wissenschaften über das Leben. In den vergangenen Jahrzehnten haben wir natürlich auf dem ganzen Gebiet von der einzelnen lebenden Zelle bis zur Tätigkeit des menschlichen Gehirns viel über die Lebensprozesse gelernt. Das geschah mit Hilfe der Chemie und Medizin - Werkzeuge, die in der Vergangenheit erfolgreich waren. Wir haben zur Erforschung dieser lebenden Systeme Drogen, Elektrizität, chemische Reizstoffe, Lichtstrahlen und andere notwendige physische Mittel verwendet. Die Antworten darauf kamen in physikalischen und chemischen Reaktionen zu uns zurück: daß eine Zelle eine Art Miniaturreagenzglas ist und den Gesetzen der Chemie gehorcht, daß ein Tier eine komplizierte physische und chemische Maschine und das menschliche Gehirn ein Rechner ist. Doch was könnte man auch anderes erwarten? Die Antworten, die wir bekommen, werden durch die Art der Fragen, die wir stellen, bestimmt.
Obwohl ich nicht daran zweifle, daß es noch viele auf das Mechanische eingestellte Biologen gibt, scheint doch eine immer größer werdende Anzahl zu merken, daß diese Antworten die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit sind. Offenbar besteht das Leben nicht nur aus einem Bündel chemischer Prozesse, sondern ist gerade durch seine besondere Art nach vorwärts auf ein Ziel gerichtet. In jeder lebenden Zelle und in jedem lebendigen Organismus gibt es augenscheinlich eine organisierende, regulierende und auf ein Ziel gerichtete Anleitung, die nur von innen kommen kann und als eine grundlegende Tatsache des Lebens - überhaupt als die charakteristischste Eigenschaft des Lebens - anerkannt werden muß. Denken Sie einen Augenblick über das Verhalten oder die Tätigkeit jedes lebenden Dinges nach - Zellen, Pflanzen, Tiere, Menschen -, und Sie werden finden, daß das wahr ist. Alles Leben auf allen Ebenen scheint ausgeprägt zweckmäßig zu sein, ob wir es bis jetzt verstehen oder nicht. Das zu leugnen bedeutet als rein mechanistische Haltung eine Realität zu ignorieren.
Aber wie passen wir als Menschen in dieses Schema der Dinge? Während wir gemeinsamen Ursprungs mit allem Leben sein und ein natürliches, biologisches Verbindungsglied für unsere nach einem Ziele strebende Natur finden mögen, wie steht es mit unseren eindeutig menschlichen Eigenschaften des Wahrnehmens und des Bewußtseins? Sind wir als Menschen deutlich verschieden in der Art von anderen Tieren, die bis zu einem gewissen Grade Intelligenz zeigen? Ich glaube schon. Menschen, Schimpansen und Hunde zeigen verschiedenartige Grade der Intelligenz und gelegentliche Schimmer Selbstbewußtsein. Bis zu welchem Grade sind dann Intelligenz, Bewußtsein und Erkennen des Selbstes eine neu entstehende Eigenschaft des Lebens im allgemeinen? Sind wir mit unserem Wahrnehmungsvermögen und unseren Empfindungen ein zufälliges biologisches Ereignis ohne wirkliche Bedeutung, oder müssen wir irgendeinen äußeren, göttlichen Agenten rufen, um unsere Einmaligkeit, unsere inneren Gefühle, unser Bewußtsein, unser Gemüt, unseren Willen oder unsere Seele zu erklären? Das ist eine kritische Frage, denn obgleich das Leben im allgemeinen der bedeutsamste Ausdruck eines Planeten ist, können unsere Wahrnehmung und unsere Intelligenz nur eine wirkliche Bedeutung haben, wenn sie so natürlich wie das Leben selbst und nicht das Resultat irgendeines wunderlichen, zufälligen Ereignisses oder einer besonderen äusseren Vermittlung sind.
Wie schon gesagt, ein wichtiges Element des Problems ist, daß wir selbst ein Teil des Problems sind. Wenn wir es jedoch fertig bringen können, unsere Lage auf lange Sicht zu betrachten, finden wir, daß dieses Lebensmosaik - dieser sich entfaltende evolutionäre Aufwand - ein wundervolles stufenweises Vorrücken zu immer höheren Stufen der Zusammengesetztheit, der Empfindsamkeit, der Intelligenz und des Erkennens darstellt. In diesem Lichte betrachtet erscheint es wahrscheinlich, daß es die Gehirne und das Verhalten vieler höherer Tiere möglich machten, dem so nahe zu kommen, was der Mensch noch vor nicht langer Zeit war, daß wir uns selbst so sehen sollten, daß wir gerade über die Schwelle der Freiheit getreten sind - nicht als die erfahrenen Erforscher unseres neuen Reiches, sondern als im Sonnenlicht blinzelnde, eben erst befreite Gefangene. Um dies zustande zu bringen, scheinen viele besondere Umstände zusammengetroffen zu sein, einschließlich der Vergrößerung des Gehirns, der Erlangung der Sprache und der damit zusammenhängenden Möglichkeit der Mitteilung wörtlicher Aufzeichnung, der Verlängerung der Entwicklungsstadien der Kindheit, und nicht zuletzt die Bildung der Familie und der gesellschaftlichen Verpflichtungen, in denen beständig gegenseitige Anregung gegeben war. Das alles führte zu einer großen Steigerung all der Faktoren, die für den Anfang des Inerscheinungtretens des Bewußtseins und intelligenten Verhaltens verantwortlich sind. Es ist, als gäbe man verschiedene Metalle in einen Schmelztiegel und steigerte die Temperatur bis zu ihrem Schmelzpunkt. Das Resultat ist eine Mischung, die neue eigene und einzigartige Eigenschaften aufweist.
Was herauskommt, ist eine neue Art der Vorstellung und des Horizontes der allgemeinen Wahrnehmung. Das Gefühl der Zweckmäßigkeit, der Sinn für Schönheit, das intellektuelle Eindringen in die Materie und das spirituelle Forschen nach der Bedeutung hinter allem - das Suchen nach Gott - alle diese Dinge sind, obwohl sie auf Erden neu in Erscheinung treten, eine natürliche Folge unserer Vergangenheit und erscheinen als besondere Eigenheiten der beständigen Einwirkung der Materie auf das Leben und des Lebens auf den Geist. Nur als Ganzes genommen können wir dem einen Sinn beimessen.
Aber so großartig das für unseren eigenen Planeten sein könnte, können wir bei alledem dem Unendlichen gegenübertreten und erfolgreich bestehen? Das Universum umgibt uns, majestätisch in seiner Organisation, gewaltig in Raum und Zeit und wogend von Kraft. Was können wir in der Anordnung der Dinge möglicherweise zu bedeuten haben? Nicht nur wir als Menschen, sondern die ganze zerbrechliche Lieblichkeit des irdischen Lebens? Wenn all das, was wir mit all unserer glänzenden Verheißung, unseren Hoffnungen und Träumen sind, alles im Universum wäre, würde es doch, obwohl es so viel ist, als zu wenig erscheinen. Nur ein Leben auf einem Planeten hat ebensowenig Sinn, wie die Gottheit des Christentums auf nur einem Planeten.
Aber wir brauchen nicht länger das Gefühl zu haben, daß wir allein am Rande der Finsternis wehklagen oder bei irgendeiner individuellen übernatürlichen Unsterblichkeit Zuflucht suchen müssen. Wie Sie wahrscheinlich bemerkt haben, häuft sich in neuerer Zeit das Beweismaterial, das von dem natürlichen Ursprung des Lebens zeugt. Es wird jetzt als wahrscheinlich betrachtet, daß irgendwann in weit zurückliegender Vergangenheit die heiße chemische Suppe, die unsere ersten Meere und Seen bildete, unter der starken Energie eines durch keine schützende atmosphärische Schicht gefilterten Sonnenlichtes, mehr und mehr komplizierte Moleküle entstehen ließen, bis schließlich Aminosäuren, Proteine und andere Bausteine des Lebens gebildet wurden. Unter dem erregenden Einfluß der intensiven Energie von der Sonne sammelten sich diese Moleküle an, wurden größer und komplizierter, bis sie labil wurden und auseinanderbrachen, nur um den Aufbauprozeß von neuem zu beginnen, indem sie aus ihrer Umgebung Rohmaterialien sammelten.
Und so haben wir durch Ansammeln, Organisieren, Unbeständigkeit und Teilung einen sich wiederholenden Vorgang, bei dem Gleiches Gleiches erzeugt. Ein bedeutender Biologe sagte, man kann sich das Leben als Wasser, das lange genug in der richtigen Temperatur, in der richtigen Atmosphäre und im richtigen Licht gehalten wurde, vorstellen. Ich glaube, daß das zutrifft, und ich glaube es, weil es einen Sinn hat und ich es gerne so annehme. Neuerliche Forschungen in der Wissenschaft über den Virus und die zusammengesetzten Moleküle machen den Unterschied zwischen dem Lebenden und dem Unbelebten unbestimmt und veränderlich, so daß es für mich sogar möglich ist, tote Materie einfach als schlummerndes Leben zu betrachten. Wir sind ein Teil des Universums und gehören im wahrsten Sinne so dazu, daß wir seine wachsende Strahlenkrone darstellen. Das ganze, ungeheure, geheimnisvolle und subtile Universum wird zu einem einzigen, großen System, von dem wir nicht nur ein Teil sind, sondern bei unserer bis jetzt erreichten Stufe seine größte Errungenschaft. Auf diese Weise ist das Leben nicht ein Nebenprodukt, sondern eine Produktion; kein zufälliges Ereignis, sondern ein unvermeidliches Ergebnis eines lebendigen, schöpferischen, abenteuerlichen Universums.
Wenn das hier geschehen konnte, dann konnte es sich auch anderswo ereignen und hat sich auch ohne Zweifel ereignet. Daß intelligentes, bewußtes, empfindendes Leben im ganzen Universum existiert, erscheint als Gewißheit. Schließlich werden genau dieselben Elemente und Vorgänge, die hier auf Erden gefunden werden, überall gefunden wohin wir sehen, und nirgendwo wurde ein Element oder ein Vorgang entdeckt, die nicht hier auf Erden auch gefunden werden. Und das Universum ist so ungeheuer groß, daß, wenn auch nur einer aus einer Milliarde Planeten die rechten Bedingungen für die Entstehung des Lebens besaß, immer noch Hunderte von Millionen anderer Planeten übrig blieben, die in idealer Weise für dieses Abenteuer geeignet gewesen wären. Ja, wir sind nicht mehr allein und klagen am Rande der Finsternis, sondern kraft unseres Bewußtseins sind wir ein Mitglied einer ungeheuren Familie geworden. Das sollte uns den Glauben an unsere Bedeutung geben und uns befähigen eine Sonne zu überstrahlen. Denn was ist eine Sonne, wenn niemand da ist, ihre Wärme zu fühlen und ihren Glanz zu sehen?
So sind wir in diesem Vortrag einen schwierigen Weg gewandert und in ein Gebiet gelangt, das noch zum großen Teil auf keiner Karte verzeichnet ist. Es erscheint jedoch als wahrscheinlich, daß wir uns einer neuen Basis des Verstehens, einer neuen Verknüpfung des Wissens nähern, wo Materie und Energie, das Leben und das Unbelebte, das Gemüt und der Körper, das Spirituelle und das Wissenschaftliche sich verschmelzen und wir beginnen können, die Entfernung zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen zu verkürzen. Eine der Aufgaben der Wissenschaft ist, uns zu zwingen zuzugeben, daß wir bei alledem nicht wissen können was wahr sein mag, was uns aber hindern kann zu dem Schluß zu kommen, daß das, was wir nicht in konventionellen, materialistischen Ausdrücken erklären können eine Illusion sein muß. So ist den Argumenten der Boden entzogen, daß unsere Ideale, Beurteilungen von Werten und ästhetischen Erfahrungen bloße Nebenerscheinungen auf der Oberfläche der Wirklichkeit sind.
Unsere Wissenschaft und unsere Betrachtung der Natur können nicht länger vollkommen materialistisch orientiert bleiben. Das Verständnis dafür wächst, daß wir uns nicht mit der Natur als vom Menschen getrennt befassen, sondern mit einer Naturwissenschaft, wie sie vom Menschen durchdacht und geschildert wird. Das bedeutet nicht, daß wir eine subjektive Auffassung in die Wissenschaft legen und aus jedermanns Einfall oder Phantasie eine Wahrheit machen, sondern daß wir den Menschen in die Natur hineinstellen und die Wissenschaft als eine Brücke der Verständigung zwischen den beiden betrachten.
Begriffe, die der Mensch intuitiv empfängt, können nicht von unseren Erklärungen über die Natur getrennt werden; mentale Tätigkeiten gehören zu den unvermeidlichen Eigenschaften der Weltsubstanz. Wie Sir Arthur Eddington und andere beobachteten, ist alles Existierende, die äußere Welt und unser Gemüt, in seiner Natur homogen. "Der Stoff der Welt", sagt er, "ist Geiststoff", daß wir auf diese Weise ein Teil des physischen Universums sind, sollte uns an unsere Bedeutung glauben lassen. Wenn wir auf diese Weise das Göttliche auf die Erde herabbringen, dann um so besser.
Die Materie und ihre Bewegung durch den Raum sind nicht die einzigen Realitäten des Universums; genau so wirklich ist in unserem physischen Universum das Gemüt des Menschen mit seinen Aspirationen, seinem Wunsch nach Schönheit und seiner geheimnisvollen schöpferischen Eigenschaft. Des Menschen Macht des schöpferischen Denkens ist ein natürliches Produkt seiner Entwicklung; vermöge seines Bewußtseins wird er ein Teil des Universums.
Wenn wir es gelten lassen können, daß Denken, Wahrnehmung und spirituelle Harmonie im Universum so natürlich sind wie sichtbare Energie und greifbare Materie, dann ist unser Gewinn unermeßlich. Dann verschmelzen sich das Spirituelle und das Wissenschaftliche miteinander, und es ist unsere Aufgabe als Menschen, sie alle - die Materie, die Energie, das Gemüt und den Geist - als Facetten eines Ganzen zu sehen. Wir sind nicht mehr länger aus unserem Hause ausgeschlossen und bloße Beobachter auf der kosmischen Schaubühne; Wir sind von der Art der Natur des Universums und bilden die Essenz seiner Fortdauer.
Vor vielen Jahrhunderten schrieb Protagoras, daß "der Mensch das Maß aller Dinge ist und bestimmt, was existiert und was nicht existiert." Obgleich er wegen seiner Gottlosigkeit aus Athen verbannt wurde, können wir mit Recht seine richtige Erkenntnis bewundern. Unser inneres Zweckmäßigkeitsgefühl und die sich daraus ergebenden Eigenschaften der Hoffnung, Weisheit, Liebe und Schönheit zeigen alle, daß das Universum aus einem Licht gemacht ist und in einem Lichte leuchtet, das heller scheint als die Sonne, die ihnen Geburt gab. Das zeigt Ihren Wert und das Wesen Ihrer Unsterblichkeit als Träger einer flackernden Fackel, die erst vor kurzer Zeit hier auf Erden angezündet wurde. Ob Sie das nun den Weg zu Gott nennen, oder es anders ausdrücken wollen, ist nicht wichtig, denn die Bedeutung ist älter als die Sprache und verkörpert die ganze Vergangenheit, birgt alle Hoffnung und die ganze Verheißung eines lebendigen, schöpferischen, abenteuerlichen Universums in sich.
- Gehalten am 9. Juni 1963 in der West Shore Unitarian Church, Cleveland, Ohio.