Die Welt heute
- Sunrise 3/1964
Noch nie zweifelte ich daran, daß im Ablauf der Jahre, durch die man schreitet, ein Sinn liegt, und die Gedanken der Menschen mit dem Umlauf der Sonnen erweitert werden. - Tennyson
Bei den Überlegungen für ein passendes Wort des Herausgebers für das erste Heft des Jahres 1964, gingen unsere Gedanken zur ersten der 148 herausgegebenen SUNRISE-Nummern, die im Oktober 1951 veröffentlicht wurde, zurück. Die unmittelbare Reaktion war die Dankbarkeit an Sie, unsere Leser, da Sie es uns durch Ihre Unterstützung und Ermutigung ermöglichten, die Ergebnisse unserer Forschungen mitzuteilen. Der Geist Ihrer vielen Anerkennungsbriefe kann nur durch die Dankbarkeit, die wir für Ihr anhaltendes Interesse empfinden, aufgewogen werden.
Die nächste Überlegung forderte eine sorgfältige Überprüfung unseres Vorsatzes im Lichte der Gegenwart. Wir kamen dabei überein, daß es nicht notwendig sei, unsere Ziele zu ändern, sondern vielmehr uns verstärkt der Verpflichtung unserer Aufgabe zu widmen, und für eine verbesserte Beziehung zwischen allen Völkern zu wirken, indem wir dazu beitragen, daß wir uns selbst als Einzelwesen verstehen, und in tieferem Sinne, eine größere Anerkennung der Pflichten eines jeden einzelnen allen Menschen gegenüber erreichen.
Ein erster Schritt auf dem Wege dieser verstärkten Bemühung, so scheint es mir, ist die Notwendigkeit, die Fesseln beengender Anschauungen und hemmender Wertbegriffe zu beseitigen. Wir dürfen die Ergebnisse menschlichen Handelns nicht länger mit dem Maßstab vergangener Jahrzehnte oder Jahrhunderte messen. Strömungen der menschlichen Bestimmung rollen voran, und die Schutzdeiche, welche die Übel unserer Vorfahren zurückgedämmt haben, sind zu schwach geworden. Die Doktrin von der 'Furcht' ist nicht geeignet, starke Charaktereigenschaften heranzubilden - die Angst vor wirtschaftlichem Fehlschlag, die Furcht vor Mißgeschick, die Angst vor dem Tode, die Furcht vor ewiger Verdammnis. Sie alle sind völlig negativ und fördern Unaufrichtigkeit und ungesunde Nachsicht; sie schwächen eher den menschlichen Charakter, anstatt ihn zu stärken.
Ich glaube, man kann die Anerkenntnis dieser Notwendigkeit nicht besser illustrieren, als durch Wiederholung der Worte zweier Nachrichtenkommentatoren, die im Verlauf der turbulenten Stunden nach der Ermordung von Präsident Kennedy geäußert wurden. In einer Radiodiskussion mit einigen seiner Kollegen stellte einer von ihnen die Frage, ob dieses welterschütternde Ereignis "ein melodramatischer Wendepunkt" sein könnte. Innerhalb derselben Stunde brachte ein anderer im Fernsehen die Hoffnung zum Ausdruck, daß die Reaktion auf diese Tat einen "Sonnenaufgang des Verstehens" hervorbringen möge. In der Tat, dieses tragische Ereignis zwang alle denkenden Menschen in der ganzen Welt zu einer eindringlichen Beurteilung des kollektiven Bewußtseins der menschlichen Gesellschaft und der Grundlagen, auf denen es beruht.
Wie waren die Samenkörner, die man wachsen ließ, und die zu dieser Ernte des Mißverstehens und Mißtrauens, die wir jetzt einbringen, führten? Welche Elemente der Unwissenheit hat man als Richtschnur des Denkens und Handelns der Menschen zugelassen, daß sich solch falsche Einstellungen und nutzlose Konflikte ergeben können, wie sie in dieser kritischen Periode des zwanzigsten Jahrhunderts vorhanden sind?
Wir müssen neue Leitbilder, neue Prüfsteine finden und aufstellen, mit denen wir unsere Zukunft aufbauen können - Leitbilder und Prüfsteine, die in einer universaleren, schöpferischen und fortschrittlichen Aufnahmefähigkeit der Wahrheit verankert sind. Die entsprechende Rückwirkung wird bei uns allen ein vorurteilsfreies Vertrauen und eine positive Verbesserung des Charakters sein.
Der langsame Anstieg der Jahrhunderte christlicher Zeitrechnung kulminierte in diesem Raumzeitalter, in welchem wir einen viel tieferen Einblick in das Universum und den Globus, der unsere Heimat ist, gewonnen haben. Die Weltraumversuche haben eine weitreichende Wirkung auf unsere Ordnungsbegriffe ausgeübt und zwingen uns, unseren philosophischen Standpunkt zu überprüfen. Parallel dazu, jedoch weit weniger dramatisch, verliefen die Vorstöße in den inneren Raum - in die tieferen Schichten der menschlichen Bewußtseinswelt. Der daraus resultierende Druck des Fortschritts auf beiden Gebieten zwingt uns, die 'Erscheinungen' zu durchschauen und die Wahrheit hinter den Fassaden unserer Illusionen herauszufinden.
Was für Illusionen sind das? Die größte heißt Absonderung.
Der Abstieg und der Fall jeder Zivilisation der Vergangenheit wurde verursacht durch diese trügerische Idee der Absonderung, der Überlegenheit, die sich zu einem überbewerteten Massenegoismus entwickelte, der schließlich stürzte, ausgelöscht durch seinen eigenen Stolz. In der heutigen Zeit haben wir es sehr gut, weil wir von wirkungsvollen Richtungsweisern umgeben sind! Wenn wir Augen haben zu sehen und nichts überstürzen, dann werden wir durch unangenehme Reaktionen aufmerksam gemacht, in welche Richtung wir nicht gehen sollen. Die dringliche Aufgabe, der der Mensch heute gegenübersteht ist, die Einheit in der Verschiedenheit zu finden, die der Eckpfeiler allen Wachstums und Fortschritts ist.
Die aufklärenden Forschungen der Wissenschaft halfen uns zu erkennen, daß dieser Erdball nicht abgesondert, sondern ein dem Weltall zugehöriger Bestandteil ist. Die vertieften philosophischen Konzeptionen sehen im Individuum keinen losgelösten, sondern einen zugehörigen Bestandteil des gesamten Menschheitskörpers. Die vorurteilsfreie Ethik von heute erkennt jeden von uns nicht als abgetrennten, sondern als einen unabdingbaren Teil des Gottes, den wir verehren, ganz gleich, welchen Glaubens wir sein mögen.
Wie viele unter uns haben, durch die lange Beeinflussung von Phänomenen und Pseudopropheten beeindruckt, gestattet, daß die von uns hochverehrten Götter zu falschen Göttern wurden - Götter aus geschnitzten Bildern - Bildern gleich uns? Haben wir in unserem Stolz und Egoismus die Ordnung unseres individuellen Universums verdreht und unseren Gott nach dem Bilde des Menschen geschaffen? Wenn ja, dann "wird die Summe des menschlichen Leides nie verringert werden, bis zu dem Tag, an dem ... die Menschheit im Namen der Wahrheit, der Moral und der universalen Liebe die Altäre ihrer falschen Götter zerstört."
Andererseits, wenn wir diese große Mauer der Absonderung übersteigen, dann werden wir klar erkennen können, daß die meisten Krisen tatsächlich Wendepunkte sind - Veränderungen, die den Vorhang der Illusion beiseite schieben werden, der den wahren Sinn unseres Daseins verbirgt. Dann werden wir unsere Bedeutung erfassen und danach streben, unsere Verpflichtungen als Bilder des Göttlichen zu erfüllen, als ein unserer Gottheit angehörender Teil.
Der Mensch nähert sich einem neuen Jahrhundert, einem neuen Zyklus von 2000 Jahren, einer neuen Epoche, die sehr gut zur Ära der Integration werden kann. In den stürmischen transitorischen Entwicklungen auf der ganzen Welt erkennen wir den Entwurf kommender Dinge. Dieser Entwurf umfaßt nicht nur den rassischen Aspekt, sondern alle Gebiete der menschlichen Aufklärung - Wissenschaft, Philosophie, Religion, die Künste, Wirtschaftswissenschaften und vor allem, die Beziehungen der Menschen untereinander.
Ich glaube, daß wir alle einer lebenswichtigen Forderung, einer heiligen Pflicht gegenüberstehen: Unsere Augen, unsere Ohren und unsere Herzen zu öffnen für eine realistische Inangriffnahme der Erfüllung unserer Bestimmung, und das Vertrauen zu rechtfertigen, das unser Schöpfer in uns gesetzt hat, als er einen Teil von Sich zu einem uns zugehörenden Teil machte. Es wird uns gesagt: Wer sucht, wird finden. So wollen wir denn mit selbstloser Energie, mit der gleichen Selbstlosigkeit des Vaters in uns, suchen, und ich bin überzeugt, daß wir mehr Wahrheit finden werden - jene Wahrheit, die uns wirklich einem neuen "Sonnenaufgang des Verstehens" näherbringen wird.