Der Garten Eden
- Sunrise 6/1963
Gelehrte haben über die geographische Lage des Gartens Betrachtungen angestellt; und das ist nur natürlich, wenn man sieht, daß so viele der in der Bibel erwähnten Orte heute festgestellt und besucht werden können. In der Genesis sind gewisse den Ort beschreibende Einzelheiten hinzugefügt; ein Strom, der sich in vier Ströme teilt, durchfließt den Garten Eden und bewässert ihn. Die Länder, durch die diese Ströme fliessen, sind kurz beschrieben. Diese Einzelheiten könnten möglicherweise Winke für die Feststellung der Lage sein, aber zu welch verschiedenartigen Schlüssen haben sie geführt! Josephus war der Meinung, daß es die vier Ströme Tigris, Euphrat, Ganges und Nil waren (die deshalb eine gemeinsame Quelle gehabt haben müßten). Calvin glaubte, der Garten Eden habe am Persischen Golf an der Mündung des Euphrat gelegen. General Gordon war fest überzeugt, daß er sich auf einer der Seychellen Inseln im Indischen Ozean befand. Andere verlegten den Garten Eden nach Yukatan; wieder andere an den Nordpol, an dem es früher warm war. Aus alle dem scheint klar hervorzugehen, daß die in der Bibel gegebene Ortsbeschreibung nicht deutlich genug ist, um es uns zu ermöglichen, einen bestimmten Ort auszuwählen.
Aber nehmen wir an, der Garten Eden war wirklich ein Ort, der noch auf der Landkarte zu finden ist, was ist dann hinsichtlich der Schöpfungsgeschichte zu sagen? Ist die ganze Geschichte buchstäblich wahr? Das glauben heute sehr wenige. Sie kann aber auch nicht als reine Erdichtung oder als Märchen betrachtet werden. Extreme Anschauungen sind auf der einen wie auf der anderen Seite oberflächlich, denn die Erfahrung hat gezeigt, daß in der Bibel viel mehr enthalten ist, als bisher in ihr gefunden wurde. So unverständlich sie sein mag, sie ist eine der Heiligen Schriften der Welt und ist eine Fundgrube der Wahrheit und Information für jene, die sich die Mühe nehmen unter die Oberfläche zu dringen.
Offensichtlich ist die Geschichte vom Garten Eden eine sehr verworrene Erzählung oder Allegorie, aber unverkennbar ist sie nicht nur Allegorie. Auf dem Gebiet der Literatur gibt es viele Beispiele von Erzählungen, die allegorisch und historisch sind, wie die Epen Homers. Selbst wenn die verschiedenen geschilderten Götter und Helden die Kräfte der Seele wie Mut, Stärke, Ergebenheit, etc. darstellen, ist es wahrscheinlich, daß oft historische Persönlichkeiten als die Gestalten gewählt wurden, um die die Allegorie gewoben wurde. Im alten England führte man z. B. gewisse Dramen auf, die Mysterienspiele genannt wurden. In diesen wurden die Charaktere wie Tugend, Laster, Stolz und so fort symbolisch dargestellt. Aber später wurde es Sitte, wirkliche lebende und tote Persönlichkeiten in dramatischen Figuren vorzustellen. Das Resultat waren Dramen, die ihrem Wesen nach historisch und allegorisch waren - eine Tatsache, die dazu beitrug, Kritikern einer späteren Zeit, die den Ursprung nicht kannten, Kopfzerbrechen zu bereiten. In unserer heutigen Zeit könnte sich jeder gute Schriftsteller ohne weiteres hinsetzen und eine Allegorie über den Kampf der menschlichen Seele schreiben, in welcher eine der gegenwärtigen Weltfiguren die Rolle des Herkules spielt und seine verschiedenen "Arbeiten" durch diese oder jene Nation oder Rasse dargestellt werden. Was würden zukünftige Kritiker daraus machen? Würden sie sagen, eine solche Person wäre nichts anderes als ein Sonnenmythos oder ein religiöser Begriff?
Es gibt vieles, was darauf hinweist, daß der Garten Eden als Ort keine Mythe, sondern tatsächlich eine Gegend und der Name für das Gebiet des Tigris und Euphrat war. Aber hier stoßen wir auf ein scheinbares Hindernis: wir finden gleich beim Beginn unseres Studiums, daß die Idee von einem Garten Eden nicht auf die Hebräer noch auf ihren Teil der Welt begrenzt war, sondern, daß bei vielen Rassen davon die Rede ist. Von Gelehrten wurde bereits gezeigt, daß die Erzählung in der Bibel von hebräischen Schriftstellern aus einer älteren chaldäischen Quelle übertragen und etwas abgeändert wurde. Das ist jedoch nicht von all zu großer Bedeutung im Vergleich zu der Tatsache, daß dieselbe Legende unter den Eingeborenenstämmen Amerikas weit verbreitet ist, was manche Theoretiker dazu führt, den Garten Eden auf diese Seite des Ozeans zu verlegen. Prescott erzählt, daß die ersten spanischen Pioniere unter den Azteken viele Symbole und Geschichten vorfanden, die den christlichen ähnlich sind. Ebenso fanden sie sich im Iran, unter den Tibetern, den Chinesen, den Skandinaviern, den Brahmanen und den Parsen, um nur einige zu nennen.
Die Idee von einem Garten Eden ist also so allgemein verbreitet, wie die vom Sündenfall, von der Sintflut und anderen entsprechenden Umständen. Welche Bedeutung liegt dem allem zu Grunde? Schmälert es den Wert, die Schönheit und die Heiligkeit der Geschichte vom Garten Eden? Im Gegenteil, es steigert sie, denn es zeigt, daß die hebräische Aufzeichnung weit älter ist, als wir dachten. Gelehrte, die annehmen, daß diese Erzählungen nichts anderes sind, als Versuche des primitiven Menschen, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, ignorieren die Tatsache, daß die Legende immer und überall dieselbe ist, selbst bis auf solch unbedeutende Einzelheiten wie das Aussenden der Vögel aus der Arche. Weit klüger wäre die Vermutung, daß es immer und immer wieder die gleiche Allegorie ist, die von den verschiedenen Völkern wiederholt wird, und die dabei ihrer besonderen Gegend entsprechende Namen benutzen. Augenscheinlich übernahmen die hebräischen Schriftsteller ein altes Thema aus den Mysterien und verlegten ihren Garten Eden in das Gebiet des Euphrat und Tigris.
Wann und wo wurde die Geschichte ursprünglich ins Leben gerufen? Das ist keine leichte Frage. Manche Wissenschaftler haben angedeutet, daß die Wiege der arischen Rasse irgendwo in den Hochländern Zentralasiens stand und sich die verschiedenen Völker Europas und manche Völker Asiens von dort absonderten und zerstreuten. Wenn das wahr ist, würde es die erstaunliche Ähnlichkeit religiöser Mythen, Kunst und Architektur auf der ganzen Welt erklären. Alle diese verschiedenen Rassen könnten eine gemeinsame Abstammung gehabt haben und eine einzige Religion, die in Allegorie und Symbol gekleidet von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Solche Allegorien scheinen unsterblich zu sein, denn sie leben im Rassengedächtnis der Menschheit ungezählte Zeitalter fort. Die in der Bibel erzählte Geschichte vom Garten Eden scheint eine von diesen Allegorien zu sein.
Doch welche Bedeutung hat diese so universal verbreitete Geschichte? Hier befinden wir uns auf etwas unsicherem Boden, denn jedes Symbol hat viele Bedeutungen, viele Anwendungen, und es ist töricht über unterschiedliche Auslegungen zu streiten oder die Sache zu verkleinern, indem man sie begrenzt. Eden bedeutet augenscheinlich die unschuldige Wonne eines Kindheitszustandes - was für ein Einzelwesen, eine Nation, eine Rasse, oder für die ganze Menschheit gelten kann. Wenn wir die umfassendste Bedeutung annehmen, umfaßt der Garten Eden die glückliche, sorgenfreie Kindheit, in der sich die Menschheit vor dem Fall befand - sozusagen das Goldene Zeitalter des Menschengeschlechtes. Er könnte auch auf den Urzustand unseres eigenen Rassenstammes, auf den Frieden und die Ruhe seines anfänglichen Lebens an irgendeinem zentralasiatischen Ort hinweisen.
In seiner weitläufigeren Bedeutung kann die Sache kaum betrachtet werden, ohne auf die in der Genesis nachfolgende Geschichte Bezug zu nehmen. 'Gott der Herr' hatte Adam befohlen, nicht vom Baume der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, da er sonst sicherlich sterben würde. Aber die Schlange überredet Eva von der verbotenen Frucht zu essen, indem sie ihr versichert, daß sie nicht sterben werde, sondern "wie die Götter sein und Gut und Böse erkennen wird." Sie ißt davon und bewegt Adam ebenfalls davon zu essen. Ihre Augen werden geöffnet und die wütende Gottheit vertreibt sie aus dem Garten hinaus in die äußere Welt, um dort ihren Lebensunterhalt durch schwere Arbeit zu verdienen. Das ist die wohlbekannte Geschichte.
Nun erhebt sich natürlich die Frage, wer oder was war die Schlange in dieser Erzählung? Verschiedene Gelehrte von heute haben darauf hingewiesen, daß die uns bekannte Theologie einen ernsten Fehler beging, als sie die Schlange als üble Macht darstellte und das Wort 'Versuchung' falsch anwandte. Die Schlange ist ein universal angenommenes Symbol für Weisheit und auch als solches an anderen Stellen in der Bibel anerkannt. Das mag manche Gemüter schockieren, doch wenn wir zu einem Verständnis unserer Heiligen Schriften kommen wollen - zu einem ehrfurchtsvollen Verstehen, das mehr in Harmonie mit unserem Empfinden von Ewiger Güte steht - dann müssen wir den Tatsachen soweit wie möglich ohne konfessionelle Begriffe gerade ins Gesicht sehen. Es hat den Anschein, daß die Macht, die der Mensch durch das Essen der Frucht gewann - was natürlich nur ein bildlicher Ausdruck ist - keine üble Kraft war. Es wird ausdrücklich dargelegt, daß er, indem er es tat, ein Gott wurde, der Gut und Böse unterscheiden konnte, und daß seine Augen geöffnet wurden.
Liest man es nur in der üblichen Weise, so ist schwer zu verstehen, wie die Gottheit erlauben konnte, daß ihr Wille so durchkreuzt wurde, oder wie sie einen solchen Widersacher wie den theologischen Teufel dulden konnte. Viele dachten deshalb, daß diese sogenannte Versuchung als eine notwendige Stufe im Wachstum des Menschen erlaubt oder sogar von der Gottheit angeordnet war, weil der Mensch ohne sie für immer in einem Zustand glückseliger Einfältigkeit geblieben wäre. Dürfen wir daher nicht annehmen, daß Gott danach trachtete, im Menschen mehr innere Kraft, um genau zu sein, die Macht des Gemütes zu erwecken, was den freien Willen und weitere Möglichkeiten mit sich brachte. Es ist klar ersichtlich, daß ihm diese Gabe nicht aufgedrängt werden konnte, sie mußte ihm angeboten werden. Der Mensch nahm die Gabe an und mit ihr die Verantwortlichkeit, seine eigenen Entscheidungen zu treffen und die Folgen auf sich zu nehmen. Es ist klar, daß er von seinen Fähigkeiten nicht immer den besten Gebrauch machte; vielleicht hat er in einem gewissen Sinne 'versagt', aber nicht so, daß es nicht wieder gut zu machen wäre; und es wurde ihm prophezeit, daß er letzten Endes durch die Stärke des Göttlichen in ihm alle seine Irrtümer wieder gut machen würde.
Diese Auslegung würde viel von der Verwirrung, die wegen dieser Frage entstanden ist, klären, und in keiner Weise die Verehrung, die viele diesen Dingen gegenüber empfinden, nehmen. Das Essen der Frucht kann sich auf jene Zeit beziehen, in der dem Menschen, wie im Mythus des Prometheus, die Gabe des Gemütes und des freien Willens verliehen wurde, wodurch er ein verantwortliches Wesen wurde. Er wurde aus seinem früheren Zustande der kindgleichen Einfältigkeit vertrieben, weil er eine Macht annahm, die mißbraucht werden konnte. Es besteht kein Zweifel, daß er die Freiheit zu wählen oft mißbrauchte und sie noch mißbraucht. Aber jede Schrift versichert uns, daß er eines Tages siegen und sein göttliches Geburtsrecht rechtfertigen wird.
Manchmal mögen wir uns fragen, ob die Erweckung des menschlichen Intellektes ein Segen oder ein Fluch war. Sicherlich ist sie beides, je nach dem welchen Gebrauch er davon machte. Der Kindheitszustand hat seine Vorzüge, aber wir können nicht immer Kinder sein; wir müssen wachsen, neue Verantwortlichkeiten übernehmen, zusätzliche Bürden auf uns nehmen. Doch die archaische Überlieferung erwähnt, daß der Anwärter auf Weisheit "den Kindheitszustand, den er verloren hat, wieder gewinnen muß"; womit gemeint ist, daß das Verlorene Paradies im Wiedergewonnenen Paradies seine Fortsetzung hat. Wenn die Evolution des Menschen einen Fall einschließt, schließt sie auch eine Auferstehung in sich ein. Der Christus im Menschen ist im irdischen Grabe begraben, aber er wird, siegreich über das Fleisch, wieder auferstehen. Der Mensch wird durch Erfahrung lernen, seine niedere Natur zu bemeistern und alle seine Kräfte zu beherrschen. Er wird auf diese Weise erlöst werden und wieder befähigt sein in das 'Paradies' einzutreten, diesmal nicht in unschuldiger Einfalt, sondern in aufrichtiger Erkenntnis. Wenn all das wahr ist, dann ist es die Bestimmung des Menschen, die Erde selbst zu einem Garten Eden zu machen.
Was immer Kritiker über den Garten Eden sagen mögen, - mögen sie ihn in ein Reagenzglas stecken und analysieren oder mit dem Messer sezieren - wir wollen dieses heilige Ideal in unseren Herzen lebendig erhalten; und selbst wenn es nie einen Garten Eden gegeben hat, können wir beschließen, daß es in Zukunft einen geben soll, und wenn es nur der Fleck ist, an dem wir den Vorrang haben, ihn mit unseren eigenen Schritten strahlender zu machen.