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Das Bodhisattva Ideal

Die wahre Lehre hat in der Welt immer bestanden, und sie ist nie untergegangen; aber manche fielen von dieser den Menschen anvertrauten Lehre ab, andere hielten gewissenhaft an ihr fest. Daher ist es ihr Schicksal, in der Welt einmal zu leuchten, einmal verdunkelt zu sein. - Chu-Li

 

 

 

Ein Studium der großen Weltreligionen läßt keinen Zweifel darüber, daß deren Grundprinzipien einen gemeinsamen Ursprung haben. Wie sehr sie auch in ihren konfessionellen Darstellungen verschieden sein mögen, alle haben eine mehr oder weniger entwickelte innere Lehre, ihre Erbschaft aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit, die ihre natürliche Grundlage der Einheit bildet. Der heilige Augustin schrieb: "Was jetzt die christliche Religion genannt wird, war den Alten bekannt. Seit Anbeginn der menschlichen Rasse fehlte sie nie..."

Doch keine Religion hat sich in ihrer äußeren Form als ein vollkommen würdiges Vehikel für die zugrunde liegende Wahrheit, die ihre Essenz bildet, erwiesen. Im Bemühen, sich inmitten widerstreitender kultureller Ideen, die ihr mehr oder weniger feindlich waren, auszubreiten und zu behaupten, wurde jede von ihnen mit viel fremdem Material behangen, das schließlich die "wahre Lehre" verdunkelte und verunstaltete; manchmal so sehr, daß sie nicht wieder zu erkennen war. Was lebendig sein sollte, wurde starr, und Formalismus verdrängte das Innere, die persönliche Erfahrung der Wahrheit, die das eigentliche Leben der Religion bildet.

Ein kurzer geschichtlicher Vergleich zwischen dem Christentum und dem Buddhismus mag hier interessant sein. Am Anfang sorgten fromme Menschen, die durch die Persönlichkeit und die Ideen von Jesus und Buddha beeindruckt waren, für deren täglichen Bedürfnisse und folgten ihnen von Ort zu Ort. Die Lehrer selbst haben nichts geschrieben; die Literatur, die wir besitzen, und die kanonischen Heiligen Bücher der zwei Religionen wurden nach ihrem Tod aus dem Gedächtnis und nach Auslegungen geschrieben und kollationiert. Der Buddhismus wie auch das Christentum hatten ihre großen Konzile, die einberufen wurden, um die Lehre und die Verwaltung zu prüfen und abzuändern, aber von diesen werden von allen Buddhisten, ganz gleich welcher Schule, nur zwei als maßgebend anerkannt. Im Gegensatz zum kirchlichen Christentum hat jedoch der Buddhismus immer einen erhabenen Geist des Mitleids und der Duldsamkeit eingeschärft und ausgeübt, und er hat seine Ideen niemals jenen mit Gewalt aufgezwungen, die nicht willens oder unfähig waren, sie zu empfangen. Er hat niemals jemanden wegen Ketzerei verfolgt. Seine Anhänger wurden oftmals von der Gewalt getrieben und unterdrückt, aber sie haben nicht zurückgeschlagen. Eine solche Haltung, die in der Geschichte der Religionen ohnegleichen ist, bildet einen schlagenden Beweis für die Wahrheit buddhistischer Moral.

Es war unvermeidbar, daß beide Religionen durch ihre Erklärer fortlaufend überarbeitet wurden, und ihre Reformer und Kritiker suchen jetzt die ursprünglichen Ideen aus einer Menge Dokumente und Überlieferungen zu entwirren. Diese Bemühungen haben bewirkt, daß moderne Bewegungen stark dafür interessiert wurden. Es kann als ein Zeichen der Zeit betrachtet werden, daß im Osten und Westen fast gleichzeitig eine Auflehnung gegen eine tyrannische und engstirnige Orthodoxie stattfindet. Ähnliche Strömungen gab es in der jüdischen Religion und im Islam. Tatsächlich herrscht eine religiöse Unrast in der Welt, ein kritisches Studieren entdeckter Lehren und ein Bemühen, die Resultate der neuesten Forschungen in der Theologie mit jenen der Wissenschaft zu vergleichen, um eine festere Basis für das menschliche Dasein zu finden. Überall finden wir eine bemerkenswerte Aufnahmefähigkeit für neue und umfassendere Vorstellungen vom Menschen; insbesondere mehr Bereitwilligkeit, hinter den sich oft widerstreitenden Elementen nach einer spirituellen Bedeutung zu suchen, die in allen Glaubensbekenntnissen die gleiche ist.

Im Buddhismus gibt es zwei Schulen, der Hînayâna oder die südliche und der Mahâyâna oder die nördliche Schule. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts konzentrierte sich das Interesse der europäischen Gelehrten hauptsächlich auf die Lehre des Hînayâna (in Pâli und in Sanskrit). Die Schriften des Mahâyâna (in Sanskrit, Chinesisch, Japanisch und Tibetanisch) waren verhältnismäßig wenig bekannt. Es ist mit Recht gesagt worden, daß "der wirkliche Buddhismus nur durch eine Verschmelzung der Philosophie der südlichen Schule und der Metaphysik der nördlichen Schulen richtig verstanden werden kann." Die nördliche Schule entwickelte vollkommener, was in der südlichen nur stillschweigend inbegriffen war.

Der grundlegende Unterschied zwischen den beiden liegt in ihrer Auffassung über Buddhaschaft. Der Anhänger des Hînayâna beschränkt seine Aufmerksamkeit auf den historischen Buddha und auf jene großen Lehrer, die ihm vorangingen oder nach ihm gekommen waren. In ihrer Vorstellung ist Buddhaschaft für sie unerreichbar. Sie suchen persönliche Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod und finden ihre Befriedigung in einer Selbsterziehung; sie streben nicht danach, selbst Lehrer und Erlöser zu werden, daher der Name Hînayâna, "kleineres Vehikel oder kleinerer Weg."

bild_sunrise_61963_s197_1Die Anhänger des Mahâyâna lehren dagegen, daß Jedermann den Keim der Buddhaschaft in sich trägt und durch richtige Schulung und Entwicklung ein Buddha werden kann; daher der Name Mahâyâna, "größeres Vehikel oder größerer Weg." Einer ihrer großen Philosophen, Nâgârjuna, sagt, die uranfängliche Essenz unseres Gemütes ist mit der Gemütssubstanz des Buddha identisch - diese Essenz ist in jedem vorhanden, ist aber gewöhnlich untätig oder von dem Staub der Unwissenheit oder der Verblendung verdeckt. Sie glauben, daß es die Pflicht des Gläubigen ist, nicht nur seine eigene, sondern die allgemeine Erleuchtung zu erstreben, und diese edle Lehre kann die Blüte der buddhistischen Moral genannt werden. Es darf keine Verzagtheit oder Entmutigung geben: wahre Jünger fürchten das Leben nicht. Mit heroischer Stärke und Mitleid bewaffnet nehmen sie bereitwillig die Schulung zukünftiger Geburten auf sich, bis sie als Bodhisattvas (deren "Essenz Weisheit ist") geboren werden; und schließlich zeigen sie als Buddhas oder als "Erleuchtete" den Weg, der zur Erlösung aller lebenden Wesen führt.

Gautama wird beides, Buddha und Bodhisattva genannt - er hat tatsächlich Buddhaschaft erlangt, aber aus göttlicher Anteilnahme an der Menschheit verblieb er als Bodhisattva, um unter den Menschen zu wirken. So unterscheiden die Anhänger des Mahâyâna zwei Klassen von Bodhisattvas: a) jene, die ein Gelübde abgelegt haben, Erleuchtung nicht um ihrer selbst willen zu suchen, sondern um den Fußstapfen von Gautama, dem "Buddha des Mitleids", zu folgen; und b) jene, die Buddhaschaft erlangt haben und die, wie Gautama, darauf verzichten, in Nirvâna einzutreten, weil sie ihre sich selbst auferlegte Aufgabe, alle Wesen zur schließlichen Befreiung zu führen, noch nicht erfüllt haben.

Nun neige das Haupt und höre gut zu, o Bodhisattva - das Mitleid spricht und sagt: "Kann es eine Seligkeit geben, wenn alles, das da lebt, leiden muß? Sollst du errettet sein und noch den Schmerzensschrei der ganzen Welt hören?" - Die Stimme der Stille

Das ist ein erhabenes Ziel, das größte, das sich das menschliche Gemüt vorstellen kann; es erfordert beständige Selbstaufopferung - solange wie das Leben dauern wird. Es ist das Bodhisattva Ideal, das besonders in China und Japan den Mittelpunkt der Mahâyâna Lehre bildet. In den Zen Klöstern wiederholen die Mönche nach den Vorlesungen, die während der Zeit, die "Das große Sesshin" genannt werden - was sammeln oder konzentrieren des Gemütes bedeutet - selbst heute noch, ehe sie schlafen gehen, gemeinsam die Vier Großen Gelübde:

Wie unzählig die empfindenden Wesen auch sein mögen, ich gelobe sie alle zu erlösen.

Wie unerschöpflich unsere üblen Leidenschaften auch sind, ich gelobe sie auszurotten.

Wie unermeßlich die heiligen Lehren sind, ich gelobe sie zu studieren.

Wie unzugänglich der Pfad der Buddhas ist, ich gelobe ihn zu gehen.

Das Mahâvagga erzählt uns, daß Gautama, nachdem er die Erleuchtung erlangt hatte, zögerte, ob er zur Welt zurückkehren und den Menschen den Weg zur Befreiung zeigen solle. Er dachte, "meine Lehre wird für jene unbegreiflich sein, die unter der Herrschaft von Begierde und Haß stehen." Es schien, als ob er am Ende zufrieden wäre, einer von jenen zu sein, die sich nur um ihre eigene Seligkeit kümmern, in Nirvâna eintreten und die Welt der Menschen hinter sich lassen. Aber der göttliche Geist seines Mitleids siegte, und er begann seine fünfundvierzig Jahre währende öffentliche Arbeit. "Laßt die Pforten zum Ewigen weit geöffnet sein für die Menschheit" erklärte er.

Auf alle metaphysischen Fragen bewahrte der Buddha tiefes Schweigen. Das muß jedoch nicht bedeuten, daß er kein Wissen über die Mysterien des Seins besaß, wie viele Gelehrte auf Grund seiner Weigerung, darüber zu diskutieren, folgerten. Ganz augenscheinlich wußte er vieles, das er, in Übereinstimmung mit der archaischen Tradition, für ratsamer hielt, seinen Hörern nicht mitzuteilen. Außerdem kann Erleuchtung nicht von außen verliehen werden. Sie kann nur auf Grund eigener Anstrengungen und durch Selbstentwicklung von innen her kommen. Indem sie erkannten, daß Leid und Übel in der Weit durch eine viele Generationen hindurch dauernde beharrliche falsche Lebensführung entstanden, oder mit anderen Worten durch Übertretung der Gesetze des Seins durch den Menschen, haben weise Männer immer rechtes Denken und rechtes Handeln gelehrt. Sie haben den Nachdruck auf moralisches Verhalten gelegt und haben letzte Fragen für später zurückgestellt.

Das, was nötig ist, das menschliche Leben zu vervollkommnen, die Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen nicht nur nutzbringend, sondern angenehm und veredelnd zu gestalten, ist nicht mehr Wissen, - das haben wir oft mißbraucht, um diese Beziehungen unerträglich zu machen - sondern einfach Güte, Wohlwollen, Brüderlichkeit und Liebe. Die buddhistische Moral ist daher sehr praktisch, würdevoll und schön. Von Laxheit und ungesundem Asketismus gleich weit entfernt lehrt sie "den Mittelweg". Die pessimistische Note als Zeichen des Verfalls fehlt gänzlich.

Es mag bedeutsam sein, daß das Verbrechen unter den Buddhisten prozentual schon immer erstaunlich gering war. Manche schrieben dies der Tatsache zu, daß Gautama eine gleichzeitige mentale, moralische und spirituelle Schulung zur Pflicht machte. Zusammen mit wahrem Mitleid für die Leiden anderer und einer überraschenden Sanftmut Gegnern gegenüber findet man unter aufrichtigen Buddhisten außerdem ein tiefes Gefühl für Freude. Europäische und amerikanische Reisende, die den Orient besuchten, wurden durch diese Heiterkeit des Herzens in allen Volksklassen beeindruckt, in denen die erhabenen Regeln Buddhas so tiefe Wurzeln geschlagen haben.

Der Buddhist besteht auf diese Weise auf der Anwendung der Lehre über das Leben. Er wird belehrt, bei allen Ereignissen und unter allen Umständen Gleichmut zu bewahren, auf sie und sich mit Objektivität zu schauen. Er darf sich nie in einem passiven Zustand befinden, sondern muß zu jeder Zeit eine positive Haltung einnehmen, die geringste seiner Begierden vollkommen beherrschen und keine umherwandernden Gedanken dulden. Einige aus vielen gleichartigen ausgewählte Zitate, die den Hînayâna- sowie den Mahâyâna-Schriften entnommen sein könnten, erläutern vielleicht besser als irgendeine Beschreibung die Feinheit und die Lauterkeit der moralischen Gebote der Buddhisten, und sie erläutern, wie das Leben veredelt würde, wenn sie befolgt wären.

Nachdem ihr die Lehren studiert habt, laßt eure gereinigten Herzen ihre Freude darin finden, die Handlungen in Übereinstimmung damit auszuführen. - Fo-sho-hing-tsan-king

Wahre Verehrung besteht nicht im Opfern von Weihrauch, Blumen und anderen materiellen Dingen, sondern in dem Bemühen dem Pfade dessen zu folgen, den ihr verehrt. - Jâtakamâlâ

Achte nicht auf die Fehler deines Nachbarn, was er tat und was er ungetan ließ. Richte vielmehr deine Augen auf deine eigenen Fehler, deine eigenen Unterlassungen und Nachlässigkeiten. - Dhammapada

In bezug auf die viel diskutierte Frage ob der Buddhismus Vernichtung lehrt, stimmen die modernen Gelehrten überein, daß Nirvâna keine Verneinung des Geistes bedeutet, sondern nur der Materie. Schon 1916 schrieb Dr. S. Radhakrishnan in einem Artikel "Religion und Leben":

In einer Unterredung mit Sâdhu Sinha, sagt Buddha, "Es ist wahr, Sinha, daß ich die Auslöschung lehre, aber nur die Auslöschung von Stolz, Lust, üblem Denken und Unwissenheit, nicht die von Vergebung, Liebe, Barmherzigkeit und Wahrheit."

Es ist auch wichtig, zu beachten, daß die ältesten Bücher, die die Heiligen Schriften der Buddhisten bilden, selten Nirvâna erwähnen und dann fast immer, um einen Zustand höchster Weisheit und Heiligkeit zu bezeichnen, der von lebenden Wesen hier auf Erden erlangt werden kann.

In diesem Artikel, der in der Hauptsache die praktische Seite des Buddhismus und seinen Einfluß auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft behandelt, blieben metaphysische Themen, wie Karman und Reinkarnation, die Lehren von der 'Leere' und von der 'Unbeständigkeit" unbeachtet. Es wurden auch die wohlbekannten "Vier Wahrheiten" oder der "Edle Achtfache Pfad", die einen wichtigen Teil von Buddhas Lehren bilden, nicht erwähnt. Doch wurde, wie immer, genügend hingewiesen, um seine höchst praktische Natur zu zeigen. Er bildet einen dauernden und höchst edlen Beitrag zu der Ethik in der Welt. Das Ideal eines erleuchteten, nur zum Segen seiner Mitmenschen lebenden Menschen bildet eine mächtige zivilisierende Kraft im menschlichen Leben.