Einige Gedanken über den Tod
- Sunrise 5/1963
Vielleicht das seltsamste menschliche Phänomen ist die Einstellung, den Tod als ein Mißgeschick zu betrachten, das hätte vermieden werden können, was andeutet, daß das Leben im Körper ewig wäre, wenn es keinen Unfall oder kein Unglück gäbe - obgleich wir wissen, daß schließlich jeder von uns sterben muß. Die Todesfurcht ist unter den Einfältigen offensichtlich stärker, und die Unwissenheit, aus der sie entspringt, findet man in den zivilisierten Ländern der Welt überall. Sie wurzelt tief unter den Reichen und Armen, den Gebildeten und Ungebildeten. Das ist die Folge des vorherrschend materialistischen Charakters dessen, was heute als Zivilisation gilt, so daß die Idee, daß der Tod dem Leben ein Ende macht, als eine natürliche Voraussetzung hingenommen wird.
Die religiösen Ideen, die während der letzten zweitausend Jahre größte Verbreitung fanden, versuchten, diese Psychologie der Furcht durch das Versprechen für ein besseres zukünftiges Leben als das augenblickliche zu bekämpfen; aber während der Durst nach Glück viele veranlaßte, das Versprechen einer Ewigkeit der Glückseligkeit als Ausgleich für zeitweilige Unannehmlichkeit anzunehmen, lehnten sich andere intellektuell auf, und die Folge war ein noch stärkerer Skeptizismus und Materialismus als zuvor. Wahrscheinlich haben Millionen keine wirkliche Überzeugung von einem zukünftigen Leben irgendwelcher Art nach dem Tode. Die zweifelhafte Aussicht auf eine nie endende obligatorische Seligkeit erscheint nicht als genügende Entschädigung für die hier auf Erden verlorenen Regungen und Empfindungen und für die Liebe von Familie und Freunden. Es ist unleugbar, daß die Mehrzahl der ausgesprochen religiösen Menschen mit derselben Zähigkeit an ihrem gegenwärtigen Leben hängen, wie jene, die überhaupt nicht an ein mutmaßliches seliges Nachher glauben.
Die natürliche Schlußfolgerung ist, daß diese Religionssysteme bis jetzt versagt haben, ihre Anhänger mit dem unvermeidlichen 'Unheil', das wir Tod nennen, auszusöhnen. In welcher Hinsicht haben sie dabei versagt? Das einzige Mittel gegen dieses unvernünftige Mißtrauen dem gegenüber, was trotz alledem eine für uns alle unvermeidliche Erfahrung ist, ist eine Erkenntnis, daß das wirkliche Selbst des Menschen durch den Tod des Körpers nicht des Lebens beraubt wird. Solange die Seele als ein Anhängsel des Körpers betrachtet wird, ist es nur natürlich, wenn der einzelne manchen Zweifel an ihre Zukunft und auch an ihre gegenwärtige Wirklichkeit hegt. Außerdem ist die Mehrzahl von uns gewöhnlich mehr an unserem augenblicklichen Dasein hier interessiert, als an der Erlösung oder Verdammung einer Seele, von der wir gewohnheitsmäßig als der unseren sprechen, uns aber nicht richtig mit ihr identifizieren. Jemand, der glaubt, daß er eine Seele hat, muß sich als Besitzer jener Seele mehr oder weniger von ihr getrennt fühlen. Wenn er aber gelernt hätte, sich selbst als diese seinen Körper bewohnende Seele zu betrachten, würde er nie irgendwie über die Fortdauer seines Wesens im Unklaren sein, und er würde den Tod nicht als eine Katastrophe betrachten, die unter allen Umständen hinausgeschoben werden muß.
Viele Schrecknisse des Menschen stehen ohne Zweifel mit dieser grundlegenden Furcht in Verbindung. Die Menschen fürchten sich vor verschiedenen Dingen, ohne erklären zu können warum. Ich glaube, solche Komplexe können oft bis in die Kindheit zurückverfolgt werden. Einem menschlichen Wesen und besonders einem Kinde Furcht einzupflanzen, bedeutet, der innewohnenden Seele schweren Schaden zuzufügen, denn sie wird dadurch ihrer rechtmäßigen Herrschaft über das Gemüt beraubt. Die Orthodoxie in der Religion hat sich nicht gescheut, diese verabscheuenswerte Waffe anzuwenden. Die Furcht verwirrt das Gefühl für Recht und Unrecht, begrenzt und beengt das Bewußtsein, so daß an die Stelle der ruhigen Bejahung des Rechtsbewußtseins der Instinkt der Selbstverteidigung tritt. Sie führt zu einem erniedrigten Zustand des Gemütes, der den Willen schwächt und das Selbstvertrauen zerstört. Sie kann die Menschen grausam machen, denn sie scheint die Grausamkeit zu rechtfertigen. Der furchtlose Mensch bemüht sich nicht wegen seiner Selbstverteidigung.
Es gibt zum Beispiel Menschen, die die Dunkelheit scheuen. Für den Unwissenden ist die Dunkelheit wie der Tod: sie stellt das große Unbekannte dar. Die Furcht ist eine moralische Krankheit, die die schöpferische Macht der Imagination verzerrt und die Dunkelheit mit Ungeheuern bevölkert - der natürliche Ausdruck des inneren Zustandes. Die Dunkelheit kann tatsächlich für viele schrecklich sein, die nicht den Mut und die Stärke haben, ihren eigenen Gedanken ins Gesicht zu sehen und sie zu bemeistern. Aber die Ungeheuer sind vom Menschen geschaffen; die Wirklichkeit ist nicht schrecklich.
Gab es jemals Zeiten in der Weltgeschichte, in denen die Menschen spirituell mehr erleuchtet waren und den Tod als ein Tor im Hause des Lebens betrachteten, durch das sie bereitwillig durch einen natürlichen Vorgang in einen neuen Daseinszustand eintraten? Berichte aus früheren Zeitaltern sind sehr knapp und auch das Wenige, das erhalten ist, ist notgedrungen nur unvollkommen übersetzt und unvermeidlich durch die Vorurteile unserer eigenen Zeit gefärbt. Den bekannten Bruchstücken der Lehren großer Weiser nach möchte es jedoch scheinen, daß die Todesfurcht von den Weisen als eines erleuchteten Menschen unwürdig betrachtet wurde. Der Tod wurde sogar als ein erlösender Bote, als ein Freund des Menschen angesehen, der kommt, um ihn aus einem schlechten Traum zu befreien, indem er ihn zu einem richtigen Zustand spirituellen Lebens erweckt.
Die alte Idee der Reinkarnation - daß die Seele in einem menschlichen, nicht in einem tierischen Körper wiedergeboren wird, die der Erinnerung der modernen westlichen Welt eine Zeit lang fast ganz verloren ging - deutet eine vernünftige Erklärung des Daseins an. Mehr als das, sie beseitigt die einzige große Ursache für die Furcht, denn sie bietet eine Sicherheit dafür, daß unsere Entwicklung durch den Verlust des physischen Körpers nicht abgebrochen oder störend beeinflußt wird. Das Ende eines Lebens wird mehr wie das Ende eines Tagewerkes, das in einem folgenden Leben, nach der Ruhe einer langen Nacht, mit einem neuen Körper und einem neuen Gehirn, aber mit einem zusätzlichen Bestand erlangter Erfahrung, die in das, was wir Charakter nennen, umgewandelt wurde, wieder aufgenommen. Jedes Menschen Charakter wird das sein, wozu er ihn in vergangenen Leben gemacht hat; er kann durch seine gegenwärtigen Gedanken und Handlungen weiterhin verbessert oder verschlechtert, aber er kann niemals durch den Tod willkürlich von ihm genommen werden. Viele, die ihre Gefühle nicht auf diese Weise ausdrücken und keinem besonderen Glauben anhangen mögen, fühlen gewiß, daß das wahre Selbst im Innern allen Ereignissen des Lebens und des Todes gegenüber überlegen ist, ein Zuschauer wie bei einem Drama, in dem Körper und Geist Schauspieler auf der Weltenbühne sind.
Die Sonne scheint immer, wenn auch unsere Nacht dunkel ist und Wolken bei Tag das Licht verdunkeln mögen. So ist es auch im Leben; Gefühle, Leidenschaften und erniedrigende Gedanken können Wolken bilden, die das Licht des Geistes ausschließen. Doch keine Nacht dauert ewig. Wenn wir glauben würden, daß das Sinken der Sonne das Ende des letzten und einzigen Tages bedeutet, dann wäre die Nacht erschreckend. Doch wenn sich die Dämmerung niedersenkt, legt sich selbst der Furchtsamste mit dem festen Vertrauen zum Schlafe nieder, daß er am Morgen wieder erwacht. Und ich glaube, wenn die Nacht des Todes kommt, haben die Sterbenden ein Gefühl alles durchdringenden Vertrauens in ihre unsterbliche Seele und verlieren ihre Furcht. Die spirituelle Sonne scheint immer, während die lediglich menschliche Seele schläft und ihre Träume von den morgigen Gelegenheiten träumt.
Ohne die ununterbrochene Fortdauer des tieferen Bewußtseins ist kein wirklicher Fortschritt möglich. Das Erkennen dieser Fortdauer gibt dem Menschen Hoffnung und Vertrauen, denn es zeigt ihm, daß kein Irrtum endgültig ist, daß sein inneres und wahres Selbst durch die Fehler des sterblichen Teiles nicht erniedrigt wird. Selbst wenn dieses gegenwärtige Leben vollständig zugrunde gerichtet erscheint, kann er darauf hinarbeiten, seinen Charakter für das nächste Leben zu verbessern, in welchem frühere Irrtümer wieder gut gemacht und frühere Schandflecke vergessen werden können. Wenn das Leben fortdauert, bedeutet es alles das und noch mehr, wenn nicht, dann ist es nur eine rührselige oder schmerzliche, bedeutungslose, zwecklose und nutzlose krampfhafte Anstrengung.
Das Sterben des Körpers ist so gewiß, wie das Sterben jeden Baumes und jeder Pflanze: es bedeutet einen Wechsel des Wohnsitzes der Seele, der manchmal ungelegen zu kommen scheint, der aber nichts an sich hat, was Furcht einflößen könnte. Die Furcht vor dem Tode ist nicht natürlich und ganz unnötig. Die Hoffnung im Leben ist das Echo einer der Seele bekannten Wahrheit - eine intuitive Wahrnehmung der Tatsache, daß das innerste Selbst des Menschen unsterblich ist und das Leben durch zahllose Kreisläufe von Geburt und Tod und Wiedergeburt fortdauert.