Der Ankergrund für den Glauben
- Sunrise 2/1963
Viele sind der Meinung, daß im Bereich des Denkens eine zu heftige Umwälzung vermieden werden muß. Ehe wir Neuland betreten, müssen wir Untersuchungen anstellen, wir müssen Sicherheit über den Untergrund haben. Manche sagen, der Fortschritt müsse maßvoll und vorsichtig sein, und da dieses Empfinden, der natürlichen Neigung einer vielbetretenen Spur zu folgen, hinzukommt, verursacht es bei jenen, die darum bemüht sind, daß ihr schleppender Wagen mit dem allgemeinen Vorwärtsdrang Schritt hält, einige merkwürdige mentale gymnastische Übungen. Wir sehen die Hirten besorgt hinter ihren Herden schreiten, wie die Hennen hinter ihren Küken, um nachzusehen, ob sie immer noch dabei sind und nicht abweichen. Wir sehen Menschen, die für die Wahrheit in der Religion eintreten, die aber noch immer hoffen, daß ihre eigene Religion beweisen kann, daß sie der erhabenste Sammelpunkt der Wahrheit ist.
Das Neue anzunehmen, ohne allzuviel vom Alten aufgeben zu müssen, ist das Schwierige in der Religion. Wir finden verschiedene Richtungen aufgestellt, aber die Entscheidungen sind verworren. Die Modernisten stehen den Fundamentalisten feindlich gegenüber; und es wäre sicher gut, wenn durch eine Rückkehr zu den echten Grundlagen der Religion der wahrhaft beste Fortschritt herbeigeführt würde. Was könnte grundlegender sein als die Lehre, daß das Göttliche, welches mit dem Menschen durch das göttliche Prinzip oder die Seele verbunden ist, im Menschen inkarniert? Man kann dies als die Gemeinschaft des Menschen mit dem Vater durch den Sohn ausdrücken; oder auch so, daß alle Schüler, die eine gewisse Stufe erlangt haben, Buddhas sind; oder wir können erklären, daß der Mensch mit Weisheit ausgestattet wird, wenn Nous, das Erkennende in ihm, über der Psyche steht. Es bedeutet wenig, welche Symbologie angewendet wird, sofern wir diese Lehre als die allgemeine spirituelle Grundlage betrachten. In der religiösen Welt dämmert mit erneuter Kraft die Idee, daß der Mensch mit Hilfe des göttlichen Prinzips in seiner eigenen Natur, sein eigener Erlöser ist; und daß er die höheren Fähigkeiten, die zu seinem ursprünglichen und tiefsten Selbst gehören, anwenden muß. Aber hier wiederum ist es oft schwer vom alten Geleise abzukommen und dem Christus der Evangelien den ihm gebührenden rechten Platz anzuweisen. Man hat den Wunsch, jenen besonderen Lehrer über die Lehrer und Erlöser anderer Religionen zu einer einzigartigen Stellung zu erheben.
In der Wissenschaft machen wir eine Zeit des rapiden Wandels durch: Früher schufen wir uns einen imaginären 'Raum' in Form eines großen, rechtwinkeligen, leeren Zimmers, worin unsere Naturgesetze aufgespeichert waren, aber jetzt bemerken wir, daß er nicht die neuen Dinge enthält, die wir entdeckt haben, wie groß wir jenen Raum auch machen. Und so haben wir vermittels der abstrakten Mathematik den Raum bis jenseits der Grenzen unserer eigenen Fassungskraft erweitert. Damit geben wir zu, daß die sogenannte äußere Welt nicht eine festgesetzte Größe ist, die unabhängig von unseren Sinnen existiert; sondern daß sie sich in Übereinstimmung mit der Entwicklung unserer Fähigkeiten verändert. Mit anderen Worten, das Objekt wird durch die Beschaffenheiten des Subjekts näher bestimmt. Die praktische Arbeit in der Physik bestätigt die Folgerungen, zu denen man bereits durch Nachdenken gelangte: daß wir die belebte Natur in künstliche Kategorien getrennt haben, wie Kraft und tote Materie, die keine wirkliche Existenz besitzen; und daß das Universum eine Manifestation des Bewußtseins ist, dessen Resultate wir in den verschiedenen Abstraktionen und vorläufigen Hypothesen wahrnehmen, aber dessen wahre Natur eine Frage ist, die die Grenzen der physischen Wissenschaft übersteigt.
Alles bringt uns zu der alten Wahrheit zurück, daß das richtige Objekt für das Studium der Menschheit der Mensch ist, und daß derjenige, der erkennen möchte, zuerst sich selbst erkennen muß. Erkenntnis kann von der Lebensführung, vom Leben, vom Wissen nicht getrennt sein. Immer ist es ein Grundsatz gewesen, daß die Selbstsucht eine Blende über unsere Sicht breitet, während die Befreiung unserer Natur von übersättigten Wünschen unser Empfindungsvermögen klärt. Daher kann die Weisheit für den am meisten mit Gelerntem vollgepfropften verborgen und für den einfachen enthüllt sein, denn sie besteht nicht aus einer Anhäufung von Kenntnissen, sondern ist eine Klärung des Empfindungsvermögens. Die Erfahrung lehrt, daß die Wissensgebiete, die wir uns zueigen gemacht haben, nicht an die Wurzel des Hauptproblems des Menschen - wie er sein Leben führen soll, heranreichen. Sie erhöhen nur seine Verantwortung. Inmitten von Fernsehen, Düsenflugzeugen, ferngelenkten Raketen und Atombomben finden wir dieselben einfachen Typen von Menschen, und ihre Unwissenheit und Unbeständigkeit bedrohen den Zusammenhalt der Zivilisation. Vereinfachung ist notwendig und, um dieser Frage zu begegnen müssen wir zu den alten Regeln der Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung zurückkehren.
Die Menschen sagen: "Die menschliche Natur verändert sich nicht", aber dieser Standpunkt ist gewöhnlich eine zynische Anspielung, die andeutet, was man nicht zu behaupten wagt - daß die menschliche Natur unheilbar verderbt sei. Die Wahrheit ist, daß unsere Natur an sich zweifach ist, eine Tatsache, die das Wort 'Mensch', mit dem wir den verkörperten Denker verstehen, in sich birgt. Wenn sich die niederen Aspekte der menschlichen Natur und somit das menschliche Leben nicht verändern so auch nicht der göttliche und unsterbliche Teil. Was sich offensichtlich wandelt ist das Berührungsfeld zwischen beiden, ist jene selbstbewußte menschliche Seele, wo Gut und Böse um die Herrschaft ringen. Die wichtigsten Lebensregeln sind klar, aber wir versuchen sie oft durch Verwicklungen und Spitzfindigkeiten zu umgehen. Das persönliche Selbst mag sich mit Pfauenfedern schmücken oder auch bemüht sein, sich mit dem Fell eines Löwen zu bedecken, um die Aufmerksamkeit, die edlen Dingen zukommt, für sich zu beanspruchen, es kann von Freiheit und für die Realisierung unserer Bestimmung sprechen, jedoch gleichzeitig nicht gewillt sein anderen die Freiheit einzuräumen, die es für sich selbst beansprucht. Der starke Mensch schwätzt nicht; er handelt. Der prahlerische Schwächling versagt bei den Prüfungen durch die Verhältnisse. Die einfache Regel gilt noch immer: der persönliche Wunsch ist noch der alte Feind, nicht weniger gefährlich, auch wenn er glaubwürdiger erscheint. Selbsterkenntnis und Selbstkontrolle stehen über den Pforten des uralten Pfades geschrieben. Sie sind die Prinzipien, zu denen wir zurückkehren müssen.