Der Rosetten-Stein des Lebens
- Sunrise 1/1963
Tatsache ist, daß die Welt in bezug auf den Zweck des Lebens ratlos ist. Von der großen Seele der Menschheit ist ein undeutlicher Ruf nach Hilfe ausgegangen. Man kann ihn in den finsteren Winkeln überfüllter Städte vernehmen, er geht von der gewaltigen Menge jener Menschen aus, die Mut und Hoffnung verloren haben, von den Spöttern, den Skeptikern, ja sogar von den Selbstzufriedenen und Satten. In Uneinigkeit, in Hast und Verwirrung, in Unsicherheit und Furcht kommt er zum Ausdruck. Dem lauschenden Ohr erklingt er ebenfalls, wie er vom Herzen der Wissenschaft aus ergeht, die sich begierig in ihrem Streben nach Wahrheit einem neuen Festland des Denkens nähert. Keinem Lande ist er fern.
Unser gegenwärtiges Leben ist so verworren, so angespannt, so verwickelt. Die Kräfte, die durch die Menschheit wirken, haben eine derartige Macht erlangt, und die Strömungen für und gegen den Fortschritt sind derart vermengt, daß sie sortiert, geordnet und verstanden werden müssen, ehe sie je gebraucht oder beherrscht werden können. Betrachten wir z. B. unsere großen Städte: ihre gigantische Entwicklung stellt den Gipfel von Ausdauer, Verstand, Fleiß, Talent, Übung und Mut dar. So vieles wurde in jeder Richtung materiell gut getan. Doch ebenso können wir sehen, wie Verderbnis, Falschheit, Ehrgeiz und Laster ihr Gift in jeden Spalt leiten, aber deshalb kann nicht alles miteinander verworfen werden, denn merkwürdigerweise ist es mit Liebe und Vertrauen, mit Bestreben und Geduld vermischt. Wenn das Übel nicht abgeschwächt wäre, dann könnten wir alles ohne Gewissensbisse abtun, aber das Böse wird gestärkt, und es wird ihm Kraft zugeführt; für viele wird es überdeckt und schön zurechtgemacht durch die kleinen Funken Wahrheit, die in all seinen Fasern verwoben sind. Das Alte umzugestalten hieße deshalb ein Universum in Stücke zu zerreißen.
Irgendwo, hinter den sich wiederholenden täglichen Erfahrungen, hinter allen physischen Formen und allem sinnlich Wahrnehmbaren, selbst jenseits des Denkens, besteht ein allem zugrundeliegendes Gesetz des Daseins, von dem alle anderen Gesetze und Wesen abhängen. Wie sich die Zweige eines Baumes nach allen Seiten ausbreiten, so reichen seine verschiedenen Aspekte in alle weit entfernten und verborgenen Tiefen der Welt. Auf jedem Blatt und auf jedem Sandkorn steht es geschrieben; die Erde, das Wasser und die Luft tun nichts anderes, als es zu verkünden, doch der Mensch hat den Schlüssel zum Verständnis verloren. Wer hat den Rosetten-Stein des Lebens?
Daß dieses Wissen existiert ist klar. Zeitalter um Zeitalter, seit unsere Erde durch den Raum rollt und einem bestimmten Zweck dient, muß sie von machtvollen Intelligenzen geleitet worden sein - von Intelligenzen, die vielleicht von Ewigkeit her, ehe unser kleiner Planet geboren wurde, gelebt, gelitten und gelernt haben. Es genügt in einer klaren Nacht sein Auge offen zu halten, um die Kunde einer grenzenlosen Zahl unendlich großer und noch größerer Wesen zu erkennen, die die grenzenlose Tiefe des Raumes erfüllen; jedes dieser Wesen hat seine wundervollen, unvorstellbaren Pflichten und besitzt ein derartig umfassendes Verständnis des Gesetzes, um in seinen Verpflichtungen unfehlbar zu sein. Die tatsächliche Existenz kosmischer Welten gibt Zeugnis von universalen Intelligenzen und von herrschender Ordnung.
Nichts geschieht ohne Genauigkeit und ohne Zusammenarbeit, ohne eine dahinterstehende Absicht. Selbst in den kleinen irdischen Unternehmungen kann nichts durchgeführt werden, ohne daß ein Verantwortlicher die Sache leitet. Und bei den größeren Dingen müssen die leitenden Personen und ihre Helfer der Rangfolge entsprechend, die der Größe des Unternehmens entspricht, zusammenarbeiten. Ist das Zentrum schwankend oder unsicher, so wackelt der ganze Bau. Verschwindet das Haupt, so zersetzt sich die gesamte Organisation so sicher wie ein menschlicher Körper verfällt, wenn ihn die Seele verläßt. Die Folge ist unvermeidlich: es gibt Wesen, deren Tätigkeit darin besteht, unsere Erde und ihre Bewohner zu schützen und zu leiten; denn ohne sie könnte die Erde nicht bestehen. Jede Lebensstufe unterrichtet die nächst niedere; wenn jemand unterrichtet wird, so bedeutet das, daß irgend jemand da ist, der lehrt. Was könnte daher natürlicher sein, als daß der Weise dieses Planeten das Gesetz periodisch wieder darlegt? Das ist unser menschliches Geburtsrecht.
Das Erbe des Menschen ist daher eine vollständige Philosophie des Lebens, die sowohl den Ursprung des Menschen und seine Entwicklung als auch den Ursprung und die Entwicklung unseres Planeten und des ihn umgebenden Universums behandelt. Außerdem sollte diese Philosophie den Zweck des Lebens beschreiben und darlegen wie man leben soll, wie es um den Tod steht, wie ihm zu begegnen ist und wie es um das Verhältnis der Menschen zueinander beschaffen ist. Kurz, es sollte genug darüber bekannt sein, wie die Menschen auf den rechten Pfad geleitet werden können. Die Lösung ist klar: der Schlüssel zu edlem Leben ist nicht verloren gegangen, aber der Mensch ist es, der jenen Schlüssel benützen muß, um Herr seiner selbst zu werden, große Gedanken aufzugreifen und diese Gedanken in jede Faser seines Wesens einzuweben.
Das Fundament, auf dem alle Religionen gegründet sind, ist das Gesetz des Mitleids. Dies ist keine bloße Annahme, sondern ist die ernsteste Tatsache im Leben, hinter der die Macht des Universums steht. Es gibt einen Ausspruch, der Zeitalter hindurch auf uns gekommen ist und der von der Majestät der Wahrheit behütet wurde. Ganze Bände könnten seine volle Bedeutung nicht offenbaren, aber er liest sich einfach: Bruderschaft ist eine Tatsache in der Natur. Dies bedeutet, daß alle bestehenden Dinge und Wesen einander nicht nur ähnlich sind, sondern in Essenz eine Einheit bilden, daß Getrenntsein Illusion und Einheit die Wirklichkeit ist, daß feine innere Bande alle Lebensatome zu einem wunderbaren Gewebe des Schicksals verbinden. So wesentlich ist diese Wahrheit, daß sie von der Natur zuerst auf die eine, dann auf die andere Weise in ihrem gesamten Wirkungsbereich gelehrt wird. Wenn dabei leichte und normale Methoden abgelehnt werden - sei es vom Einzelnen, wie von der Welt als Ganzem - dann gelangen jene Mittel zur Anwendung, die beschwerlich und unangenehm sind; und werden schließlich auch diese unterschätzt, so führen Schmerz und Leid die Wahrheit vor Augen.
Die wirkliche Leitung unserer Welt - von der alle äußeren Regierungsformen nur die Reflexion sind - muß innerhalb der Einheiten aufgerichtet werden. Ehe im Reich Ordnung anzutreffen ist, müssen die einzelnen Häuser instandgesetzt werden, was in sich schließt, daß der wirkliche Besitzer jedes Hauses - die Seele - die Herrschaft über das niedere Gemüt mit seinen Wünschen übernehmen muß. Es ist schwierig, das Gemüt umzubilden, mit alten Denkgewohnheiten zu brechen und Vorurteile abzuschütteln. Die Neigung zu Vergnügungen und das Verlangen nach Bequemlichkeit haben die Sinne allgemein abgestumpft und den Willen allzuvieler gelähmt. Seitdem unsere Empfindungen Einschränkungen erfahren haben und oft von unseren Ideen beherrscht wurden, können wir verstehen, wie wichtig die Bedeutung rechten Denkens ist. Das Pendel der karmischen Kräfte findet Platz, um im Herzen des Menschen von einem Pol zum andern zu schwingen. In ihm herrscht beständig Krieg. Deshalb haben die alten epischen Schriften versucht den Kampfgeist zu erwecken, damit er wachse und schöner werde; sie schilderten den Menschen wie er üble Leidenschaften unterwirft, den Drachen der Selbstsucht erschlägt, schlummernde Fähigkeiten erweckt, die Wahrheit verteidigt und Heuchelei bloßstellt.
Ein frischer, reiner Start scheint notwendig zu sein. Eine Lebensphilosophie, die in spiritueller Wirklichkeit wurzelt, muß auf einer Erkenntnis der Einheit von allem gegründet sein. Sie muß auf der klaren, selbstverständlichen Tatsache beruhen, daß die Qualität des Ganzen von der Qualität der Teile abhängt. Sie sollte von denen inspiriert sein, die die Zusammensetzung der menschlichen Natur und ihre Möglichkeiten in jeder Richtung verstehen, die wissen, daß das Böse wie das Gute von Morgen in den Charakteren von Heute keimt. Jede Einheit ist ein Mikrokosmos im Makrokosmos; und daher sind dieselben Elemente, die im größeren Verein kämpfen, nur eine vergrößerte Reproduktion der Elemente in den Einzelwesen. Es wäre unmöglich, daß eine Gemeinschaft von Menschen, die miteinander in Frieden leben, einen Zustand nationaler oder internationaler Unruhe hervorrufen, wie groß an Zahl, wie unterschiedlich ihre Ansichten oder wie verschieden ihre physischen Belange auch sein mögen. Der Wohlstand, der aus einer derartigen Verbindung hervorgeht, wäre weder unecht noch eine unstabile, kritische Angelegenheit, sondern würde auf einer soliden und redlichen Grundlage beruhen.
Wie würde das Resultat aussehen, wenn allen Rassen und Lebewesen gezeigt werden könnte, daß sie ohne jeden Zweifel einen gemeinsamen Ursprung und eine gemeinsame Bestimmung haben; daß sie ganz und gar aufeinander angewiesen sind, so daß Fortschritt, Erfolg und Wachstum eines jeden vom Fortschritt, Erfolg und Wachstum aller andern abhängt; wenn die Menschheit tatsächlich als ein mächtiges Wesen angesehen werden könnte, das in allen seinen Teilen durch ein harmonisches allseits verzweigtes Nervensystem verbunden ist? Die Rivalität würde dahinschwinden oder besser, in einen edlen Wetteifer umgewandelt, damit jeder seinen Teil für die höchste Vollendung beitragen kann. Angenommen, man könnte dieses Wunschbild aus dem Reich der Hoffnung plötzlich in die Welt der Wirklichkeit übertragen und könnte es irgendwo verwirklichen, wer vermöchte die Magie seines Einflusses voraussehen. Unter seinem Einfluß würde langsam, möglicherweise sogar schnell, die Kriegsdrohung aufhören, der Aufbau die Zerstörung verdrängen und all die prächtigen Eigenschaften der Nationen, die sich jetzt so oft neutralisieren, würden ihre Energien vereinen und auf die Erfüllung ihrer wahren Bestimmung einstellen.
Ein oft übersehener Punkt ist, daß Gesundheit ansteckender ist als Krankheit. Wenn es dem Feuer der Elemente möglich ist, in einer Nacht das zu zerstören, was Zeitalter benötigte, um aufgebaut zu werden, wer weiß, ob dann das Feuer des Geistes vielleicht fähig ist, innerhalb eines Tages das wieder zu entzünden, was die Asche der Unwissenheit beinahe ausgelöscht hat.