Vom menschlichen Glauben
- Sunrise 6/1962
Das Leben ist in seinen verschiedenen Aspekten etwas Schönes, voll Freuden mit unseren Lieben und Freunden, voller Heiterkeit des Witzes, des Tanzes und Humors, voller Hoffnung und erhaben; aber seine Kehrseite ist schrecklich, und in manchen seiner Demütigungen ist es kaum zu ertragen. Vor hunderten von Millionen Jahren hat es angefangen und pulsiert seitdem mit den ineinander vermischten Strömungen von Angst, Verzweiflung, Hoffnung und Mut in kurzen Stößen durch unsere Adern. Und trotzdem, so vergänglich wir sind, können wir uns nicht freuen, daß wir gelebt haben? Stellen wir uns vor, wenn wir es können, wir hätten nicht gelebt; doch da wir lebten, sollen wir uns fürchten zu sterben?
Der im Alter lahm gewordene französische Philosoph Henri Bergson schrieb einmal, daß der Aufstieg des Geistes gegen einen Strom fallender Asche vor sich gehe; in unserer Generation ist die Asche radioaktiv. Der verstorbene Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead sagte, "das letzte Prinzip der Religion ist eine Weisheit in der Natur der Dinge, die die Richtung unseres Handelns bestimmt und uns die Möglichkeit der theoretischen Zergliederung des Tatbestandes gibt."
Sind diese tiefen Intuitionen der verschiedenen Männer wie Lincoln, Bergson, Whitehead, bloße "Irrlichter" am Ufer eines unbekannten Sees?
Sollten wir als wissenschaftlich denkende Menschen nicht sehen, daß die Wahrheit durch Dichtung, Literatur, Kunst, durch Überlieferung und Ritual einerseits und durch philosophische Abhandlungen und mathematische Formeln andererseits überliefert wird? Diese müssen jede für sich in ihren Auslegungen dem strengen Urteil unseres Gemütes und Herzens standhalten, denn jedes einzelne und alle zusammen rufen weitgehendst die Bestätigungen des Glaubens an, jener tiefen bewegenden Kraft, die unseren Charakter bestimmt. Aber sie werden beständig in schädlicher und erniedrigender Weise benützt. Nirgends herrscht mehr traurige Verzweiflung als unter den technischen Helfern unserer Universitäten und Forschungsinstitute, die in der nüchternen Präzision ihrer Verfahren und auf Grund der Inkonsequenzen und Unrichtigkeiten, wovon sie viel in dem Althergebrachten zu sehen bekommen - obwohl sie auch den elektrischen Funken für ihre Arbeit auswerten - jede Andeutung des göttlichen Funkens, der die tiefsten Wirklichkeiten des Daseins in den Brennpunkt rücken kann, vermeiden. Auch in den Sozialwissenschaften werden wir mit wertlosen, unbewiesenen Postulaten überschüttet, die jedem Aberglauben ebenbürtig sind, und als Wissenschaft verkleidet werden sie uns sicher vernichten, wenn wir sie nicht als das erkennen, was sie sind.
Ein Gelehrter kann an seinem Pult im Laboratorium seine Hypothesen und Papiere munter durcheinander werfen, aber man beobachte einen alten Arbeiter, wie er an seine Arbeit geht. Kann man ihn in derselben Weise umherstoßen? Wie will man mit einem zum Manne heranwachsenden Jungen sprechen, der sich unser wenn auch geringes Wissen aneignen möchte, obgleich er für gewöhnlich zu stolz ist, danach zu fragen? Wird man ihm die oberflächlichen neuesten Hypothesen übermitteln, oder versuchen, die erprobte Weisheit der Rasse weiterzugeben, auch wenn man sie selbst nicht ganz versteht?
Was meinen wir, wenn wir sagen Gott? Seit undenklichen Zeiten haben die größten Menschen an Mächte oder an eine Macht geglaubt, die größer als sie selbst, hinter diesem ganzen universalen Gefüge steht und es durchdringt. In ihren religiösen Begriffen gingen sie weit auseinander, aber die Vorstellung war da. Diese anfänglichen schwankenden Gedanken taten sich zu verschiedenen Zeiten oft als schrecklicher Aberglaube kund und verlangen unsere Aufmerksamkeit; nicht irgendein Glaube oder ein bestimmter Glaube, sondern alle, denn ihre bloße Existenz ist der Beweis für den "Machtbereich". Die Theologen suchen mit mehr oder weniger Erfolg die Gesetze zu erkennen, die hinter der Tätigkeit dieses Machtbereiches stehen - da sie beständig die empfindsamen Tiefen des menschlichen Herzens beeinflussen. Wir sind seltsam ausgestattete endliche Geschöpfe, die das Unendliche überall in Demut wahrnehmen können, wenn sie nur wollen.
Nach einem jahrhundertelangen Weg der Prüfungen und Irrtümer haben erfahrene Männer, Seefahrer, Landmesser und Wissenschaftler, die Existenz eines magnetischen Feldes entdeckt, dessen sie sich bedienen, um auf den Meeren, in den Wäldern, in den Bergen und in der Luft ihren Weg zu finden. Dieses Feld können wir weder sehen, hören, fühlen, schmecken oder riechen. Durch seine Wirkungen auf eine von uns selbst erfundene Kompaßnadel haben wir von seiner Existenz erfahren. Mit dem Aufhängen eines Magneteisensteins an einer Schnur fingen wir an. Von den Chinesen wird angenommen, daß sie dieses Experiment schon im Altertum machten. Im Verlauf der Zeit ergab sich, daß das magnetische Feld nur ein Teil eines größeren Spektrums ist, dessen vollkommene Ausdehnung nur durch Beobachtungen festgestellt werden konnte, zu denen komplizierte wissenschaftliche Geräte notwendig waren, die unsere unmittelbaren Sinnesorgane mit ihrer begrenzten Reichweite übertreffen.
Wenn die Weisen aller Rassen behaupteten, daß ein spirituelles Feld existiert, das wir ebenfalls weder sehen, hören, fühlen, schmecken oder riechen können, und von der "Gegenwart Gottes" sprechen, sollen wir sie dann für unvernünftig halten? Oder wie der blinde Milton, der so traurig vom Licht als dem Wohnsitz Gottes sang:
Und nirgends, außer in unerreichbarem Licht,
Wohnte seit Ewigkeit - wohnte daher in dir,
Die leuchtende Ausstrahlung einer unerschaffenen
Leuchtenden Essenz!
Und weiterhin bringt er in seinem dritten Buch Das Verlorene Paradies eine Anrufung, daß himmlisches Licht von innen auf sein Gemüt scheinen möge, damit er "Dinge, unsichtbar im sterblichen Licht" sehen und über sie sprechen könne - eine der schönsten menschlichen Äußerungen, die den Kern unserer Sache trifft. Ist die Kluft von einem naturwissenschaftlich anerkannten magnetischen Felde zu einem spirituellen Kraftfeld unüberbrückbar? Ist nicht ein gotischer Dom genauso die äußere Offenbarung der Wirkung eines Kraftfeldes, wie ein Fernsehapparat? Gewiß, die Anerkennung des einen Feldes ist für das Gemüt so annehmbar, wie die des anderen. Als der dänische Geologe Niels Stensen 1673 sagte: "Schön ist, was wir sehen, schöner noch, was wir wissen, aber bei weitem am schönsten ist, was wir nicht begreifen", war er seiner Zeit im begreifen tatsächlich weit voraus.
Worin liegt der vornehmste Unterschied zwischen Mensch und Tier, wenn nicht in dem Impuls zu fragen und zu forschen - die Gaben der Imagination und der Vernunft? Das nahmen die alten Propheten an, wenn sie verkündeten, daß der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen sei. Sie sagten nicht, daß Gott vom Menschen nach der Vorstellung des Menschen geschaffen wurde, wie heute viele glauben. Die Menschheit hatte große Schwierigkeit ihr Geburtsrecht zu verteidigen, und der Kampf wurde nicht so unpassend mit dichterischem Scharfsinn der "Fall" genannt. Aber der Mensch "fällt" nur, wenn er versäumt, seinen natürlichen Gaben entsprechend zu leben und sich dann in irgendeine alte, innerliche Kalamität verwickelt fühlt. Dem von Unamuno, dem spanischen Basken beschriebenen "tragischen Sinn des Lebens" im Menschen und in den Völkern und dem "Riss in allem, was Gott gemacht hat" von Emerson begegnen wir überall. Die Kriege der letzten fünfzig Jahre sollten uns von der Wirklichkeit einer Hölle überzeugen, die Dantes Vorstellung davon gleichkommt. Die Verwirklichung all dessen ist die kostspielige Währung, die wir mit Schmerz und Verzweiflung dafür bezahlen, daß wir mehr Mensch als unwissende Tiere sind. Dem Leid können wir nicht entrinnen, aber aus der Verzweiflung können wir uns erheben.
Freude und Schmerz sind fein verwoben. Für ein Gewand der göttlichen Seele.
Die Freuden unseres Daseins und der Schmerz halten sich schwankend die Waage. Durch die gegenseitige Wirkung beider können wir ein gewisses Gefühl für die uns bestimmte Würde gewinnen, wie Hiob und Lincoln behaupteten. Wollen wir uns selbst täuschen und das eine leugnen, wenn wir das andere erfahren? Sie sind so untrennbar, wie die zwei Pole eines Magneten.
Deshalb wollen wir die Wissenschaft in ihrer wahren Perspektive betrachten. Die Wissenschaft ist der Holzhacker, der Wasserschöpfer und der Führer zu wahrer Religion. Die Dichtkunst ist die Dienerin. Und was bedeutet der Glaube, jenes Wort mit den hohen Tönen einer mächtigen Orgel, die durch die Zeitalter widerhallen? Nehmen wir an, wir haben uns während eines Sturmes in einem dichten Zedernwald im Sumpf verirrt; mit Hilfe unseres Kompasses können wir zurückfinden, aber durch unser Zittern schwankt die Nadel hin und her. Der Glaube sagt uns, wir sollen trotz der scharfen Windstöße, die über unseren Weg fegen, der Kompaßnadel vertrauen. Letzten Endes behält die Erfahrung der Rasse, die Beständigkeit des unvollkommen begriffenen magnetischen Feldes die Oberhand, nicht die gerade vor uns auftauchende Schwierigkeit. Das ist Glaube; und die besten und weisesten Menschen haben die ganze menschliche Geschichte hindurch durch das mitgegebene, geheimnisvolle Gewissen, etwas nach Niels Stensen "Unbegreifliches", und mit Hilfe der Gegenwart Gottes in ihnen und um sie und dadurch, daß sie ihn in sich und in anderen Menschen fühlen konnten, ihren Weg gesucht. So sieht unsere schwer gewonnene Freiheit aus.
Tatsächlich ist das Schwanken der Kompaßnadel auch ein passendes Symbol für die Wissenschaft, als Führer zur Klärung und Stärkung unseres Glaubens und nicht zu seiner Zerstörung. So haben die größten unserer Wissenschaftler immer gedacht. Für Isaak Newton "war der Raum das Sensorium der Gottheit". Er verbrachte ebensoviel Zeit mit dem Studium der Theologie als mit dem Studium der Mathematik. Er schloß die Prinzipia mit den Worten: "Gott ist ewig und überall, und da er immer und überall existiert, schafft er Zeit und Raum". Um ein recht einleuchtendes Beispiel zu wählen: Für Pasteur lag das Verständnis, daß in jedem Menschen das Unendliche wohnt, in der augenblicklichen Erkenntnis für jeden, daß jede beliebige Zahl den Gedanken an eine noch größere Zahl einschließt, ein Beweis für die Verwandtschaft des Menschen mit einer unendlich Höheren Macht. Einsteins E = mc2 entsprang einer Rasse, die an Einen Gott glaubt. War es nicht eigentümlicherweise treffend, daß sich zwei der wahrnehmbaren Arme jenes Gottes, Materie und Energie, in der letzten Analyse als eines erweisen sollten, Materie nichts weiter als gebundene Energie? Es war Einstein, der den Ausspruch tat "Gott würfelt nicht".
Der Weg, den sich der Genius bahnen kann, ist nicht begrenzt. Der berühmte Dr. Albert Schweitzer vereinigt die Eigenschaften des Musikers, des Wissenschaftlers und des religiösen Menschen in angemessener Ausgeglichenheit in einer Person. Wenn auch unsere Beschränkungen nicht vielen von uns erlauben, alle diese Fähigkeiten wie Schweitzer auszuüben, so können wir doch wenigstens erkennen, daß es außer der Wissenschaft noch viele andere Kanäle gibt, durch die uns die Wahrheit erreicht.
Darin liegt, trotz all unserer Beschränkungen, die Freiheit des Willens, die uns zuteil wurde, als wir aus urzeitlichem Schlamm auftauchten, um auf dem Weg über das Tierreich Menschen zu werden und damit Teil an wahrer Macht und Freiheit zu haben; oder, anderen Falls, unser Erbe zu vergeuden. Jeder von uns ist für die Art wie er lebt, denkt und handelt verantwortlich; für die unseren Handlungen zu Grunde liegenden Entscheidungen und wie wir mit unseren Mitmenschen zusammen leben. Wenn jeder von uns seinen eigenen Kurs richtig steuert, so ist das das Wirkungsvollste, was wir tun können, denn es wird helfen den Kurs aller um uns in die rechte Richtung zu bringen, sogar in den Angelegenheiten der Nationen.
In unserer Zeit der augenblicklichen Gefahren sind wir keineswegs verlassen. Das Christentum ist jederzeit lebendig, denn wenn es sich auf die Göttlichkeit Christi beruft, so sagt das gleichzeitig, daß wir alle mit Gott verwandt sind, wie es alle großen, über die ganze Welt verbreiteten Religionen tun, und verkündet die wahre und tröstende Botschaft, daß jeder Mensch ohne Ausnahme edel ist. "Wir ruhen in der Hand Gottes."