Das Mittel gegen die Katastrophe
- Sunrise 5/1962
Ich muß gestehen, daß ich voller Bedenken hinging. Häufig sind diese und ähnliche Themen etwas einseitig, wie die Betonung auf den Erlösungsaspekt, was ich persönlich höchst unangenehm empfinde. Wir im Westen sagen gerne, 'glaube dies' oder 'nimm jenes an' und du wirst erlöst werden. Dasselbe gilt für vieles, was aus dem Orient zu uns kommt, nur legen diese Nachdruck auf die Befolgung gewisser Übungen oder Meditationen, um für sich selbst Glückseligkeit, Freiheit, etc. zu erlangen. Was mir an Dr. Watts Ausführungen gefiel war, daß er ganz unparteiisch sprach. Er versuchte nicht zu überzeugen oder zu bekehren. Er sagte nicht, dies oder das ist der einzige Weg zur Seligkeit, zu Nirvana, oder sonst etwas. Persönliche Erlösung wurde tatsächlich überhaupt nicht erwähnt. Statt dessen betonte er den kritischen Zustand unserer Zeit, referierte seine Gedanken über einige Gründe dieses Zustandes und beschrieb in überzeugender Weise, wie uns das Studium anderer Kulturen und Glauben (wie z. B. des Zen) helfen könnte der Welt zu helfen.
Dr. Watts gebrauchte Kiplings wohlbekannten Ausspruch "was können jene schon von England wissen, die nur England kennen", um zu erläutern, daß wir, wenn wir unsere eigene westliche Kultur richtig einschätzen wollen, die östliche studieren sollten. Verstrickt in der Einbildung unserer 'Überlegenheit' auf jedem Gebiet, nur vertraut mit unseren Ideen über Gott, Mensch und Natur, die als sicherer Weg zum Glück mehr Menschen bessere Verhältnisse schaffen sollen, stürmen wir Hals über Kopf auf etwas zu, was sich als Unheil zu erweisen droht. Etwas ist schief gegangen. Aber was? Ein guter Weg, das herrauszufinden könnte sein, zu sehen, wie andere Völker die Natur, Gott und den Menschen betrachten; nicht um deren Ansichten in Bausch und Bogen anzunehmen, sondern um - vielleicht überrascht und das erstemal - den wahren Charakter unserer westlichen Zivilisation zu erkennen und wo sie gewisse grundlegende Mängel haben mag.
In den letzten Jahren hat es etwas gegeben, was viele eine Rückkehr zur Religion nannten, aber Dr. Watts bezweifelt, daß es tatsächlich eine Neubelebung des Glaubens ist. Es würde ihn nicht wundern, wenn viele den Kirchen weniger aus innerem Drange nach religiöser Befriedigung beitreten, sondern mehr aus einem Gefühl der Schuldigkeit, weil sie spüren, daß irgend so etwas notwendig ist. Dieses Thema wurde bei der Fragenbeantwortung ausführlich behandelt, als jemand nach der Beziehung zwischen Zen und Christentum fragte. Der Sprecher erwiderte, er habe nicht das Empfinden, daß Zen eine Religion im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes sei. Die meisten Religionen stützen sich auf Anhänger, und brauchen sie, um gewisse Glaubensbekenntnisse zu vertreten; aber in dieser Bedeutung ist der Glaube bloß eine Form der Ungewißheit, wir müssen dieses oder jenes glauben, ganz gleich wie unvernünftig oder unbegreiflich es klingen mag. Wir müssen es annehmen, selbst wenn wir es nicht verstehen. Wahrer Glaube bedeutet andererseits gegenüber der Wirklichkeit, was immer sie auch sein mag, offen zu sein. Und das ist Zen; nicht eine Reihe Glaubensbekenntnisse, sondern eine Schulung, mit der Absicht allem Realen gegenüber aufgeschlossen zu sein.
Das Ziel des Zen ist eine Veränderung des Bewußtseinszustandes anzuregen. Wir leiden hier im Westen unter einem Gefühl des Getrenntseins. Wir betrachten das Universum getrennt von uns. Wir sprechen von Unterwerfung der Natur und von uns als die Meister der physischen Welt. Wir beziehen uns auf uns selbst als in einen Körper hinein geboren. Wir sagen "ich habe einen Körper", nicht "ich bin ein Körper". Wir sagen "ich denke". Wir sagen nicht "ich schlage mein Herz". Etwas im Innern sieht durch die Augen und hört durch die Ohren. Das Physische, ob in der Natur oder in uns selbst, ist uns fremd, ist von uns getrennt. Wir wissen, daß das, was wir aufbauen, zerfallen wird und wir am Ende auch sterben müssen. Die Philosophien und Wissenschaften der westlichen Welt haben nicht viel dazu beigetragen, um die Lage zu verbessern, sie haben vielmehr das Gefühl des Getrenntseins bestärkt. Die Krankheit des Westens (und jetzt in zunehmendem Maße auch die des Ostens) ist die Trennung des Erkennenden vom Erkannten, dieses Gefühl, daß wir in einem fremden Universum leben.
Dr. Watts betonte besonders, daß ein Mensch nicht nur an sich als Individuum denken und dabei mit seinen Mitmenschen und dem Universum in Harmonie leben kann. Er muß sich als mehr als ein Individuum, mehr eins mit der ganzen natürlichen Welt fühlen. Wie kann das möglich sein? Nun der Vortragende meinte, angenommen wir glaubten die Erde sei flach und jemand nähme uns auf eine lange Reise ostwärts mit. Wenn wir an einen Ozean oder an einen Kontinent kämen, würden wir sie überqueren und immer weiter nach Osten gehen. Vielleicht würde uns schließlich mit der Zeit, die Umgebung sonderbar vertraut vorkommen und plötzlich würde es uns dämmern, daß wir zu unserem Ausgangspunkt zurückgekehrt sind, und daß die Erde in Wirklichkeit rund ist. So ist es mit dem Zen. Er lehnt die Idee des getrennten Universums ab, aber nicht durch Schlußfolgerung oder durch die Philosophie, sondern durch Realisierung. Die Schulung des Zen hat zur Aufgabe uns behilflich zu sein herauszufinden, wer wir wirklich sind und der wahre Zen Lehrer wird alle philosophischen Begriffe seines Schülers zurückweisen. Die Idee ist, in tiefgründiger Weise zu uns selbst zu finden.
Von einem jungen Mann wird erzählt, daß er von einem Zen Meister die Kunst der Verteidigung lernen wollte. Als er sich bei dem Meister meldete, wurde ihm kein Schwert gegeben, sondern ein Scheuerlappen und ein Eimer und es wurde ihm aufgetragen den Boden zu scheuern. Es wurden ihm allerlei niedrige Aufgaben übertragen, jedoch mit dem Vorbehalt: "Sei jederzeit vorbereitet, dich zu verteidigen." Der Fechtmeister hatte ein Bambusrohr und wenn der Schüler unaufmerksam war, gab er ihm einen schmerzlichen Schlag. Wie sehr sich der Schüler auch immer bemühte aufmerksam zu sein, immer auf der Hut zu sein, der Zen Meister ertappte ihn immer wieder unversehens. Schließlich wurde der Schüler so furchtsam und nervös, daß es in ihm zu einer Krise kam; es wurde ihm bewußt, daß er den alten Meister nicht dadurch täuschen konnte, daß er sich beständig bemühte, eine Verteidigungsstellung einzunehmen und es keinen Zweck hatte, sich zu Tode zu quälen. Er beschloß eben, jederzeit nur er selbst zu sein, ohne danach zu fragen, welche Folgen es haben könnte. Von diesem Augenblick an gab ihm der Zen Meister ein Schwert und begann ihn zu lehren, wie man es gebraucht!
Dr. Watts benützte diese Geschichte, um das Prinzip zu erläutern, das hinter der Betrachtung des Zen steht, was darin besteht, daß man aufhört, das Leben von sich fern zu halten und sich davor zu schützen, als wären wir etwas Getrenntes; aufhören uns zu bemühen, die Situationen so zu beherrschen, als würden wir von außen nach innen sehen; wir sollten ganz natürlich wir selbst sein und uns nicht im Voraus an irgend etwas klammern. Er sagte, der wahre Zen Meister wird behaupten, daß er nichts weiß; alles, was er zu lehren sucht ist, daß die vorgebrachten Probleme eigene Erfindungen sind. Er wird die Götter wegnehmen und lehren zu verlernen, statt zu lernen. Es gibt viele Geschichten über die Zen Lehrer und ihre einzigartigen Methoden. Einer fragte zum Beispiel seine Schüler: "Ihr alle kennt den Ton zweier zusammenklatschender Hände, wie ist der Ton von einer Hand?" Der Zweck dieser Zen Rätsel (Koans) ist nach Dr. Watts, nicht uns anzuregen sich eine geistreiche Antwort auszudenken oder uns in eine philosophische Erörterung einzulassen. Das würde der Lehrer alles zurückweisen. Der Zweck ist, jeden Augenblick ganz spontan wir selbst zu sein.
Der Wert in natürlicher Weise wir selbst zu sein leuchtete mir sofort ein. Die nettesten Leute, die ich kenne sind jene, die ohne Vorspiegelung falscher Tatsachen und in jeder Gesellschaft und Lage immer in ihrem Element und sie selbst zu sein scheinen. Sind sie vornehm, dann ganz ohne Verstellung. Aber wir selbst zu sein ist nicht so einfach, wie es klingt, denn unsere wahre Natur wird durch unsere Meinungen, falschen Begriffe und Ideen verdunkelt und es fehlt uns die Schulung, sie hinwegzufegen und wirklich wir selbst zu werden und zu bleiben, was die Quelle all unserer aufrichtigen Güte und unseres vorurteilsfreien Verstehens ist. Dieses letztere, es scheint mir der verborgene Teil des Eisberges zu sein! Eines der schwierigsten Dinge in der Welt ist zum Beispiel ungekünstelt zu sein, sich einfach auszudrücken, was in Wahrheit bedeutet, das Gemüt in bezug auf eine Person frei von allen vorgefaßten Meinungen zu halten und dieser zu erlauben, sich so wie sie ist zu zeigen. Wenn ich Dr. Watts richtig verstehe, ist der Zen bestrebt, in dem Schüler einen Zustand zu schaffen, bei dem er für das Wirkliche der Dinge empfänglich ist, in dem er ganz frei von den Färbungen seines eigenen Gemütes oder des eines anderen ist, und das ist nicht leicht!
Die Ähnlichkeit zwischen dieser und manch anderer Art des Strebens ist sofort ersichtlich. Die höheren Formen des Yoga, wie zum Beispiel des Raja-Yoga, streben nach einer "königlichen Vereinigung" aller Fähigkeiten und einer Selbstbeherrschung, die dem Zen sehr ähnlich ist. Ich denke dabei nicht an Hatha-Yoga, der mit (oft gefährlichen) physischen Übungen beginnt und die moralische und spirituelle Natur außer acht läßt. Die Bhagavad-Gîtâ, jener wunderbare Gesang, behandelt ebenfalls viele Phasen dieses Gegenstandes.
Ich kann verstehen, warum Dr. Watts sagte, daß Zen von keinem besonderen Glaubensbekenntnis abhängig ist, denn das Ziel der Schulung besteht darin, den Schüler vorzubereiten, selbst wahrzunehmen. Gleichzeitig setzt Zen offensichtlich voraus, daß etwas Reales existiert und der Mensch die Möglichkeit besitzt, sich ihm mit Hilfe seiner Verstandeskräfte und auch anders zu nähern. Wenn wir uns aber dieser Wirklichkeit nur durch die Meinungen anderer Gemüter nähern, entwickeln wir in uns nicht die Fähigkeiten und Kräfte, die für uns notwendig sind, um die Wahrheit unmittelbar zu schauen.
Jemand fragte Dr. Watts, ob es im Westen Lehrer des wahren Zen gäbe. Er antwortete diese seien hier so selten wie Haseneier! Außerdem sei es nur gut, denn wir müßten lernen, auf eigenen Füssen zu stehen. Auch ist es fraglich, ob die Methoden, die im Orient von jenen ausgeführt werden, die sie seit Generationen ausüben, für uns hier mit unserer ganz unterschiedlichen Vergangenheit ungefährlich und weise wären. Ich entnahm daraus, daß es das beste für uns sei, auf unsere eigene Art und Weise an diese Dinge heranzutreten und vom Zen und jeder anderen Quelle die Ideen anzunehmen, die hilfreich und aufschlußreich sind, ihnen aber auf unsere eigene Weise Ausdruck zu geben.
Dr. Watts sprach in diesem Zusammenhang über seine Erfahrung als Kind auf dem Lande. Es gab da eine der großen Brennessel ähnliche Pflanze, vor der man sich in acht nehmen mußte. Aber neben ihr wuchs immer eine Heilpflanze, die das Mittel gegen den von der Nessel verursachten Schmerz enthielt. Er wollte damit andeuten, daß in der gleichen Weise neben bedrohenden Gefahren auf diesem Planeten das heilende Gegenmittel zu finden ist. Unser schneller materieller Fortschritt hat uns an den Rand des Unheils gebracht, aber gleichzeitig brachte er uns auch in Berührung mit anderen Kulturen und in Kontakt mit den Idealen, auf denen sie aufbauten. Vielleicht entsteht aus der Vermischung des Besten aus dem Osten mit dem Edelsten des Westens das Mittel gegen die Katastrophe.