Die Möglichkeiten für den Menschen
- Sunrise 5/1962
Die meisten von uns kommen aus christlichen Familien und wurden, wenn auch nicht direkt in der Kirche, so doch sicherlich in der Atmosphäre dogmatischer Glaubensbekenntnisse und Vorstellungen erzogen. Jedoch im Zusammenhang mit der Reife und in Verbindung mit dem wachsenden Druck des gegenwärtigen atomistischen Zeitalters - ein Druck, den wir nicht verleugnen können, sondern mit dem wir in vernünftiger Weise fertig werden müssen - sind wir gezwungen worden über die engen und begrenzten Ansichten früherer Begriffe hinauszustoßen. Als wir unser Denken und unsere Studien erweiterten, entdeckten wir nicht nur, daß es andere Religionen gibt, die denselben, ja sogar einen größeren Einfluß ausüben als die christliche, und daß so viele, für das Christentum wesentliche Gedanken auch grundlegend für die Heiligen Schriften des Ostens wie des Westens sind. Wir finden tatsächlich so viele Beweise gemeinsamer Gedankengänge, daß wir fast zu der Annahme gelangen, daß jede große Religion, jede große Philosophie seit alten Zeiten, während des Mittelalters und sogar bis heute, auf eine heilige Tradition, eine archaische Regel der Weisheit begründet ist, die tief unter der Oberfläche der Heiligen Schrift und der Legende vorhanden ist und der Quelle der Wahrheit entsprang.
Durch den Vergleich der Heiligen Schriften, Mythen und Legenden anderer Länder stellen wir fest, daß die Schöpfungsgeschichte der Genesis z. B. nur ein Aspekt einer universalen Erzählung ist, die bei allen Völkern der Welt, sowohl bei den sogenannten zivilisierten als auch bei wilden Völkern, in der einen oder anderen Form als heilig bewahrt wird. Obgleich wissenschaftliche Forschung und archäologische Entdeckung ohne jeden Zweifel bewiesen haben, daß unsere Erde Millionen, anstatt nur 6000 Jahre alt ist, sind diese Schöpfungsgeschichten sicherlich keine bloße Phantasie oder kindische Einbildungen. Aber wie ist die Erschaffung des Himmels und der Erde in sechs Tagen zu erklären, wobei Gott am siebenten Tage ruhte! Buchstäblich genommen ist es absurd, aber es war niemals so gedacht. Die Tage der Schöpfung, ob es sich nun um die christliche Bibel oder um die Purânas, um die Legenden Persiens oder der Indianer Amerikas handelt, sollen die Tage der Manifestation oder Aktivität, denen Nächte der Zurückgezogenheit oder der Ruhe folgen, symbolisieren - jeder dieser Tage ist ein Lebenszyklus irdischer Erfahrung, der einige Tausend bis vielleicht hunderttausend Jahre dauern kann, je nachdem, von welchem Gesichtspunkt aus man es betrachtet.
Das alles läßt uns jedenfalls schlußfolgern, daß auch der Mensch sehr, sehr alt sein muß. Tatsächlich behaupten manche Schriften, daß mindestens 18 Millionen Jahre vergangen sind seit der Mensch ein selbstbewußtes Wesen wurde! Wie alt er auch immer sein mag, ob Millionen Jahre oder nur wenige Tausend, die Tatsache bleibt bestehen, daß es die unermüdliche Anstrengung aller großen spirituellen Reformatoren dieses Zeitalter hindurch war, uns allen behilflich zu sein, dieses größere Bild von der den Menschen innewohnenden Möglichkeit zu erfassen. Denn der Mensch ist tatsächlich geheimnisvoll und wunderbar gemacht. Er ist kein einfaches, unkompliziertes Wesen. Seine Natur ist zusammengesetzt.
Im Neuen Testament finden wir, daß Paulus die dreifache Natur des Menschen erwähnt: Körper, Seele und Geist. Das war zu jener Zeit die einfache Art der Allgemeinheit die Konstitution des Menschen darzulegen. Aber in den Mysterienschulen und jenen alten Zentren, die die Philosophen besuchten, um Dinge zu lernen, die dem übrigen Volk nicht allgemein zugänglich waren, wurde die siebenfache Konstitution des Menschen und des Universums studiert. Deshalb sagte der Meister Jesus damals zu seinen Jüngern: "Zu der Menge spreche ich in Gleichnissen, aber euch enthülle ich die Mysterien."
Manchmal wurde der Mensch in vier Elemente eingeteilt, ein andermal in fünf, aber hauptsächlich wurden entweder die drei grundlegenden Prinzipien, wie es Paulus in seinen Briefen an die Korinther tat, betont, oder sie wurden in den tieferen Studien auf sieben erweitert. Diese unterschiedlich angewandte Lehrweise kommt jetzt erst in zweiter Linie. Der Hauptfaktor ist, daß alle Heiligen Schriften des Ostens wie des Westens, des Nordens wie des Südens genau die gleiche Erzählung über Gott oder das Göttliche, Brahma oder Allah, eben einfach die göttliche Intelligenz, bringen, die periodisch einen Teil von sich, einen Teil ihrer Eigenschaften manifestiert. Nicht nur zum Segen für das Menschengeschlecht, sondern auch für die Tiere, Pflanzen, Mineralien, ja sogar für die elementaren atomistischen Lebewesen, die jeden Aspekt des Universums beleben: Nicht ich tue diese Dinge, sondern der Vater, die göttliche Intelligenz, die in mir wirkt. Eine Feststellung, die das in allen Religionen zu findende gleiche Prinzip zeigt, nämlich, daß alles Lebendige, der Mensch eingeschlossen, in seinem Herzen einen Funken jener göttlichen Intelligenz trägt, die auf diesem Globus einen Teil von sich manifestiert hat, und daß es letzten Endes unsere Aufgabe ist, im Verlauf vieler Millionen Jahre seinem Leuchten bewußt zu erlauben, unsere gesamte Konstitution und damit unser ganzes Leben zu erleuchten.
Das ist der Grund unseres Hierseins, der Grund, weshalb wir in erster Linie zur Erde kamen, nämlich um jenem Gottesfunken Gelegenheit zu geben weitere Erfahrungen zu sammeln, durch das, was wir die Hierarchien des Lebens nennen können. Jener Gottesfunke ist die allerhöchste Spitze unserer Natur, aber auf dieser Stufe unserer Evolution hat der Mensch viele verschiedenartige materielle Hüllen um sich. Und doch ist es jener göttliche Drang, der die treibende Kraft hinter allem Leben ist, der uns zuweilen in große Schwierigkeiten bringt, damit wir aus den schlimmen Erfahrungen die reine Essenz der Wahrheit absondern können.
Jetzt sind wir hier, Mitglieder des menschlichen Reiches und haben in all diesen Zeiten nur mit relativem Erfolg eine Dreiheit von Körper, Seele und Geist entwickelt und verstehen uns bei weitem noch nicht. Es scheint, als hätten wir unsere Macht vergessen, nämlich die göttliche Gabe des freien Willens, die uns nicht nur die Wahl läßt, sondern es uns zur erhabenen Pflicht macht zu wählen, in welchem Aspekt unserer Natur wir leben wollen, entweder im "Körper" unserer niederen mentalen und gefühlsmäßigen Wünsche, oder in unserer "Seele", jenem beschwerlichen Ort, wie ein Spiegel, der beides, von oben wie von unten widerspiegelt und uns daher vor die ewige Entscheidung stellt zwischen Bestrebung und Hochmut zu wählen - Sehnen nach Wahrheit um jeden Preis oder Stolz auf unsere Macht in materiellen Dingen; und drittens im "Geist" - der Quelle alles Guten und Wahren im Menschen.
Was anders veranlaßt uns jeden Morgen den Problemen und Verantwortlichkeiten des Lebens erneut gegenüberzutreten als jene dynamische Kraft, die uns niemals erlaubt dem evolutionären Plan des Wachstums auszuweichen? Für einen Augenblick wollen wir diesen dreifachen Begriff des Paulus zum siebenfachen erweitern, wie es die alten Philosophen taten, weil es eine Hilfe ist unseren gewöhnlichen Weg des aufgeklärten Menschen und seine Natur mit den Methoden anderer Heiliger Schriften zu vergleichen. In einer der Upanishaden, der Katha, die aus dem Sanskrit in westliche Sprachen übersetzt wurde, wird der Mensch mit einem Wagen verglichen, der mit göttlichem Willen, dem höheren Selbst, ausgestattet ist, das dem Wagen sowohl als Lenker als auch als Reisender beigegeben ist. Der Fahrer des Wagens ist der spirituelle Wille, die Intuition oder die spirituelle Seele. Während die Zügel in den Händen des Fahrers den menschlichen Willen oder das Gemüt darstellen, sind die Pferde die Wünsche und Sinne. Die Straßen, auf denen die Pferde den Wagen ziehen, sind die Objekte unserer Sinneswünsche. Der Wagen, der den Körper darstellt, ist das Vehikel unserer Persönlichkeit auf Erden.
Für mich ist das eine beweiskräftige Analogie, die der Prüfung standhält, die der gänzlich neue Gesichtspunkt auf unsere Kämpfe wirft. Anstatt der "Seele", dem Teil, der sich beständig zwischen dem "Geist-Aspekt" unserer Natur und dem "Körper" hin- und hergerissen fühlt, sehen wir sofort mit Hilfe dieser Aufteilung in sieben Aspekte, daß der Mensch, ganz gleich, wo er sich auf dem Wege der evolutionären Erfahrung befindet, nicht allein von seinem Gemüt geführt wird, sondern wenn er will, buchstäblich die Führung und den Schutz des Herrn des Wagens, seines Vaters im Innern, erhalten kann. Denn wie still und wie lange er auch schon leiden mag, er ist immer bei uns, und irgendwann einmal, den Göttern sei Dank, macht jeder von uns die Erfahrung, daß wir einen Schutzengel haben, ob wir wollen oder nicht.
Der Wagenlenker, der der Diener des Meisters, des spirituellen Willens oder der Intuition ist, versucht weiterhin die Zügel unseres Gemütes in der Hand zu behalten, vergießt aber oft viele Tränen, weil wir mit unserem menschlichen Willen nicht auf ihn achten wollen, und die Pferde, so natürlich wie die Sonne jeden Tag aufgeht, den Zielen unserer Wünsche und Sinne folgen, wie der menschliche Wille sie zuweilen leitet. In dem Maße, in dem unser menschlicher Wille den Impulsen des Wagenlenkers folgt, wird er der Diener der spirituellen Kräfte unserer Natur sein, so wie der Wagenlenker oder der intuitive Teil, der direkte Diener des göttlichen Willens, oder des Meisters des Wagens ist.
Was bedeutet das nun alles? Wenn wir die Möglichkeiten des Menschen in größerem Rahmen betrachten, so ist der Hauptfaktor, daß dieser Funke der Gottheit, der Meister des Wagens, hinter jeder evolutionären Anstrengung steht; es ist der Grund warum wir hier auf dieser Erde sind, es erklärt uns wohin wir gehen und gibt uns einen Überblick und die Stärke, dem Druck der Verantwortung standzuhalten. Denn im Menschen liegt die Macht zu wählen. Wenn der Mensch nicht nur ein von den Pferden seiner Wünsche gezogener Wagen ist, sondern, wenn die Pferde von der durch den spirituellen Willen erleuchteten menschlichen Seele gelenkt werden, können wir sicher sein, daß die Straße, auf der wir fahren, sei sie nun eben und gerade oder krumm und holperig, der wahre Weg der Erfahrung sein wird, den wir brauchen, um unsere göttlichen Möglichkeiten zum Ausdruck zu bringen.