Festina Lente!
- Sunrise 3/1962
Mir erscheint das Leben selbst als das richtige Übungsgelände und die jeden Augenblick eintretenden Ereignisse als die wirklichen Lehrer, denn wir "entwickeln" uns, indem wir jede "unerbittliche Minute", im Werte von 60 Sekunden, mit dem Besten, das in uns ist, ausfüllen. Gewöhnlich wird jedoch angenommen, daß wir nur durch "Schulung" lernen können unsere Zeit richtig zu nützen. Das ist richtig. Die meisten von uns besitzen nicht die Kraft der Konzentration, die wir haben sollten, unsere Willenskraft ist oft zu schwach, um das Rechte zu tun; es mangelt uns vielleicht an Vorstellungskraft und Ideen. Das sind Kräfte und Fähigkeiten, die an sich ein Teil unseres wahren Charakters sind, und ihren natürlichen Platz in unserem Wachstum einnehmen. Ihr Gebrauch oder Mißbrauch kennzeichnet sie, und die Weisen jeder Rasse stimmen darin überein, daß ihre Verfeinerung nur zu dem einzigen Zwecke psychische Überlegenheit zu erlangen, eine Herabwürdigung bedeutet.
Ich spreche nicht von den Gefahren dieser Übungen, denn ich denke, daß wir sie nicht nur aus Furcht unterlassen sollten. Das wäre eine schlechter Grund dafür. An sich sind sie nicht gefährlich; die wirkliche Gefahr ist das unersättliche Verlangen nach solchen Erfahrungen. Ich schreibe voller Mitgefühl darüber, denn wir beide, meine Frau und ich, mußten in dieser Hinsicht unsere Erfahrung machen. Ein nettes junges Mädchen aus unserer Bekanntschaft, das Vorträge über philosophische und andere Dinge anhörte, faßte den Entschluß, eine "Schulung" und "Entwicklung" durchzumachen. Ich weiß nicht, welcher Organisation sie sich dieserhalb anschloß, aber ich weiß, daß sie in einem Heim für Geisteskranke starb.
Die dem Menschen innewohnenden höheren Kräfte sind schließlich einem jeden von uns in die Wiege gelegt, wenn auch erst im Verlauf des langsam vor sich gehenden Evolutionsprozesses; und der Sinn wahren spirituellen Bemühens ist, den Wachstumsprozeß zu beschleunigen, nicht aber ihn zu erzwingen. Es gibt jedoch eine Menge organisierter Körperschaften, die behaupten, den Prozeß "abkürzen" zu können. In ihren Reihen haben sie ohne Zweifel ehrliche und aufrichtige Menschen, die glauben, daß ihre Ziele gut sind. Und ohne Zweifel können sie behaupten, daß manche der östlichen und westlichen mystischen Schriften das, was sie tun, zu rechtfertigen scheinen. Ich habe im Laufe der Jahre viel darüber nachgedacht und bin zu dem Schluß gekommen, daß es zwei Wege gibt, denen man folgen kann, und daß die ersten Stufen dieser zwei Wege in gleicher Richtung zu verlaufen scheinen, so daß man sie fälschlich für identisch halten kann. Das Motiv, weshalb sie begangen werden, ist es, wodurch sie sich unterscheiden.
Der eine Weg führt zur Selbstverleugnung, der andere zur Erhöhung des Selbstes. Beide führen zum inneren Licht, das einerseits der Menschheit geweiht wird und andererseits der persönlichen Macht. Beide Wege führen zur Vervollkommnung des Willens und der Vitalität des Geistes. In dem einen Falle sind diese der höheren Pflicht zugelobt. "Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe, o Herr." Im andern Falle werden sie für die eigenen Ziele benützt.
Unsere Leben sind eine Vorbereitung für jenen Augenblick der Wahl, in dem wir uns entscheiden, welcher Weg der unsrige ist. Niemand anders wird die Entscheidung für uns treffen. Es wird uns gesagt, daß der erste Schritt auf dem Pfad des Mitleids der ist, zum Wohle der Menschheit zu leben. Es heißt "Lebe das Leben und du wirst die Lehre kennen." "Erkenntnis ist das Kind liebevoller Taten." Diese Aussprüche bringen grundlegende Prinzipien zum Ausdruck, die mit denen verwandt sind, die in der Bergpredigt zu finden sind. Der Versuch sie durchzuführen stellt die schwerste Schulung des ganzen Lebens dar.
Woher können wir wissen, zu welchem dieser Wege die Lehre irgendeiner Gruppe oder Organisation führt? Wir können nur in unserem eigenen Herzen nach dem Beweggrund forschen und entschlossen das tun, was für das Höchste in uns recht und wahr ist, und es dem Gesetz überlassen, unsere Schritte zu lenken, jenem selben Gesetz, das die Christen den "Himmlischen Vater im Innern" nennen. Es gibt ein weltliches Zeichen, das uns helfen kann. Spirituelles Wissen wird nie, nie, niemals um Geld verkauft. Wenn wir für derartige Lehren zahlen müssen, dann kaufen wir Pseudo-Okkultismus, wie gelehrt und esoterisch er auch erscheinen mag. Festina lente - die alte lateinische Warnung "Eile mit Weile" sollte mehr beachtet werden.