Die Symbolik in der Natur und im Menschen
- Sunrise 3/1962
Jeder kleinste Teil wird daher in Übereinstimmung mit dem Gesetz auf seinen Platz gestellt, wofür man ebensogut sagen könnte, daß die äußere Erscheinung eines Dinges ein Symbol seiner wahren Natur ist. Wenn ein Mensch versucht durch die Betrachtung einer Person deren Charakter zu erkennen, so zeigt er damit, daß er glaubt, daß sich die Seele des Menschen in der äußeren Form zum Ausdruck bringt. Dies ist, ob er es erkennt oder nicht, kein Lesen natürlicher Symbologie. Es ist wirklich die Ausübung einer inneren Fähigkeit, die zuweilen Intuition genannt wird, und deren Erfolg mehr von einem feinen Wahrnehmungsvermögen und vom zarten Mitgefühl als vom Scharfsinn des Intellekts abhängt.
Es gibt auch eine Wissenschaft der Charakterdeutung, in der die Summe der Erfahrung zur Grundlage der Richtlinien gemacht wurde. Hierbei wird die intuitive Wahrnehmung durch Formeln, Tests und andere ähnliche mentale Findigkeiten ersetzt, und diese können ausgezeichnete Hinweise geben oder auch irreführen, je nachdem wie sie ausgelegt werden. Außerdem gibt es viele mehr oder weniger spekulative Systeme, von denen einige ganz oder gar trügerisch sind, weil sie Mittel anwenden, von denen sich der Unkundige Resultate verspricht ohne Wissenschaft oder Kunst studiert zu haben; aber alle sind gleicherweise Anstrengungen zur Deutung. Der Phrenologe behauptet, daß er den Charakter einer Person aus deren Kopfbildung erkennt und das kann durchaus stimmen. Der Chiromant liest die Erkennungszeichen aus der Hand; ebensogut könnte er sie aus den Fußsohlen lesen, wenn er sich die Erfahrungen anderer zunutze machen würde. So geht es weiter bis hinauf in die Reihen der Fakire und Scharlatane; denn alle zeugen für den Glauben an eine augenfällige Wahrheit, die einfach folgende ist: die inneren Eigenschaften aller lebenden Wesen finden ihren Ausdruck aus sich selbst und der natürlichen äußeren Form heraus.
Unsere ständig gebrauchten Worte sind Symbole; wir deuten sie automatisch, während wir für uns selbst gleichzeitig neue Zeichen erfinden, so daß jeder Ort seine eigene Ausdrucksweise besitzt, die in besondere Redewendungen gekleidet ist und die für Leute in anderen Gegenden beinahe unverständlich sein kann. Jede Nation und jede Wissenschaft hat ihre eigene gesprochene oder geschriebene Sprache, die nur von jenen verstanden wird, die sie erlernt haben. Betrachtet man die Chemie oder die Astronomie, die Telegraphie oder eine andere Methode gegenseitiger Verständigung durch Zeichen: sie alle müssen beherrscht werden, weil sie sonst ohne Bedeutung sind. Das Gleiche gilt für die tieferen Wissenszweige. Die Alchimie hat ihre eigene besondere Sprache. Der Kodex der Kabbala und die Heiligen Wissenschaften des Altertums wurden alle in Symbolen niedergelegt, die für den Uneingeweihten so mysteriös sind, wie die Schriftzeichen eines Stenographen für den, der das System nicht kennt. Doch die Leute sprechen zuweilen von diesen allgemeinen Mysterien als seien sie Blendwerk und dazu bestimmt, die Öffentlichkeit zu täuschen. Es kann auf allen Gebieten Betrüger geben, aber das schmälert in keiner Weise den Wert echter Symbole oder die Notwendigkeit ihrer Anwendung.
Man kann dagegen einwenden, daß der Gebrauch von Symbolen durch den Menschen etwas Künstliches sei, und nicht von der Natur entwickelt. Das ist eine Annahme, die an's Lächerliche grenzt; denn offensichtlich ist der Mensch ein Attribut des Ausdrucks der Natur, und alle seine Handlungen unterliegen ihrem Gesetz - tatsächlich sind sie selbst ein Ausdruck des natürlichen Gesetzes. Die falsche Vorstellung darüber kommt von einer willkürlichen Begrenzung der Bedeutung des Wortes Natur, und auch durch die Stellung des Menschen in der Natur. Diese unglückliche Unwissenheit führte die frühen Rassen dazu irgendwelche Götter zu ersinnen, um die Lücken in ihrem Begriffsvermögen auszufüllen. Ein Gott wird stets herangezogen, wenn man etwas Rätselhaftes erklären möchte. Die heutigen Götter sind nur sprachliche Symbole ohne Intelligenz und völlig unpersönlich, etwa wie Gelegenheit, Schicksal, Glück, Zufall, Kraft, usw.; sie tragen wissenschaftliche Namen für Menschen, die solche Begrenzungen bevorzugen, sind aber nichtsdestoweniger Bestandteile des modernen Pantheons. Das alte Pantheon war interessanter, weil es auch eine Art transzendenter zoologischer Schau war. Es war wenigstens etwas Lebendiges, die allgemein verbreitete Theogonie dagegen gleicht eher einem Museum von Kuriositäten.
Ich behaupte nicht, daß es so etwas wie künstliche Symbologie nicht gibt, durchaus nicht. Das menschliche Gemüt ist ständig damit beschäftigt Ersatzmittel für die Wahrheit zu ersinnen. Wie geistreich jedoch seine Verdrehungen sein mögen, sie müssen immer auf irgendeinem wirklichen Fundament in der Natur aufgebaut sein. Die auffallendste Unwahrheit ist nur eine Umkehrung der Wahrheit und die verderblichsten Lügen sind Verdrehungen von Tatsachen. Da der Mensch innerhalb universaler Grenzen wirken muß, ist selbst das verworrenste Gemüt wie ein äußerst schlechter Spiegel, der, wenn überhaupt, nur irgendein verzerrtes Bild wiedergeben wird.
Unser Zeitalter ist ein praktisches Zeitalter. Es ist vorwiegend materialistisch und baut sich auf Vorstellungen von Komfort und Wohlstand auf. Es ist möglich, daß dies alles nach kurzer Zeit vorbei ist und ein neues Zeitalter begonnen hat. Doch einige vergangene Jahrhunderte oder sogar einige Jahrtausende hindurch, fanden Idealismus, Mystizismus und wahre Religion in der Öffentlichkeit keine Beachtung. Aber das war nicht immer so; denn es existieren noch Rassen, deren Aufzeichnungen zeigen, daß ganze Völker mit den Regeln der Symbologie vertraut waren, die sogar den heutigen Gelehrten unverständlich sind, weil die religiöse Wissenschaft, die in ihnen ausgedrückt ist, nicht mehr bekannt ist. Wir finden daher alte, von heiligen Menschen des Fernen Ostens geschnitzte und bemalte Statuen, die gewisse, immer wiederkehrende Stellungen und Falten in den Gewändern aufweisen, besondere Farben wurden verwendet und sorgfältig Tiere und Pflanzen angeordnet. Es ist klar ersichtlich, daß es sich um Überreste eines Systems der Symbologie handelt, das den Anhängern der Religion, die zu jener Zeit vorherrschte, bekannt war. Das Gleiche trifft für Ägypten, Mittelamerika, Peru und eine Anzahl anderer Länder zu. Diese generelle Anwendung von Symbolen hat nicht nur die Existenz zum Ausdruck gebrachter Ideen zur Folge, sondern auch allgemein die Fähigkeit die angewandte Sprache zu verstehen.
Alle Sprachformen sind offensichtlich symbolisch; es kann nicht anders sein; und das Wort findet eine weitverbreitete Anwendung. Die Ausdrucksform der Worte, die in den verschiedenen Ländern so viele Variationen hat und die so schwer eindeutig anzuwenden ist, ist nur ein Aspekt der Mitteilung. In diesem Sinne ist die gesamte Kunst - Musik, Bildhauerei, Tanz - Sprache, ist das Bestreben des Menschen sein höchstes Sehnen und Empfinden zu formulieren und mitzuteilen. Die ganze Schöpfung ist ein göttliches Symbol und was bringt sie zum Ausdruck? JENES, das an sich unaussprechlich, aber die Ursache von allem ist, das Unendliche, das Höchste. Da die gesamte Natur symbolisch ist und, weil die menschlichen Wesen ein Teil der Natur sind, müssen sie bis zu einem gewissen Grad an einer inneren Wahrnehmung der Wahrheit Anteil haben und müssen noch unentwickelte Möglichkeiten des Verstehens, selbst der inhaltschwersten Mysterien, besitzen; und kein Mysterium gibt es, das tiefer ist als das menschliche Herz.