Der innewohnende Christus
- Sunrise 3/1962
Darum zu behaupten, daß das Christentum den Menschen zum ersten Male Hoffnung und 'Erlösung' brachte, bedeutet die Voraussetzung eines liebenden himmlischen Vaters, der sich, was die Wohlfahrt seiner Kinder anbetrifft, Zeitalter lang vollkommen gleichgültig verhielt; der sie nicht nur in spiritueller Blindheit dahinleben ließ, sondern mehr noch, mit jeder Generation weitere Kinder erschuf, deren Schicksal es war, in den dunklen Gassen des 'Heidentums' sich selbst überlassen zu sein! Und dennoch wurde die allgemeine Menschheit Jahrhunderte hindurch psychologisch so bearbeitet, daß es solche theologische Ungereimtheiten glaubte! Solche unvernünftigen und unlogischen Sinnwidrigkeiten veranlassen denkende Menschen den Religionsgemeinschaften den Rücken zu kehren.
Der Glaube kann, im Gegensatz zur Erkenntnis der Gnosis oder dem Wissen, in vielerlei Grade und Färbungen eingestuft sein, vom dogmatischsten und blindesten Glauben, bis zu einem wahrhaft erleuchteten Vertrauen, das sich auf persönlich erlangte Erfahrung durch wachsende innere Wahrnehmung aufbaut und von Logik, Vernunft und Analyse unterstützt wird. Nachdem vom Menschen angenommen wird, daß er seine natürlichen Kräfte der Wahrnehmung, des gesunden Menschenverstandes und der Intelligenz auf allen anderen Gebieten menschlichen Bestrebens anwendet, warum sollte er sie nicht auch auf den Gebieten des Gemütes und des Geistes anwenden? Ermahnte der christliche Meister seine Anhänger nicht: "Suchet und ihr werdet finden"? Er sagte ihnen nirgends, daß sie sich vor den Verantwortlichkeiten des Lebens hinter die fensterlosen Mauern eines blinden Glaubens zurückziehen sollten, der das Sonnenlicht eines größeren Verstehens ausschließt. Er kam, um gerade diesen Begriff über die Religion zu zerstören! Wir wissen sehr wenig über sein wirkliches Leben, aber wenn wir die ihm in den Evangelien zugeschriebenen Lehren annehmen, war er einer der größten Ketzer aller Zeiten.
Als die ersten Kirchenväter den Wortlaut der heiligen Schriften so willkürlich änderten, zurechtstutzten und Teile davon entfernten, um sie ihren eigenen Zwecken anzupassen, leisteten sie sehr stümperhafte Arbeit. Sie hätten alle Lehren ihres Meisters verwerfen sollen, da diese eine Ableugnung des größten Teiles des theologischen Glaubensbekenntnisses darstellen, das meist fälschlicherweise als das Christentum selbst betrachtet wird. Gerade wegen dieser die Jahrhunderte hindurch angehäuften Menge unmöglicher Dogmen haben die Menschen dummerweise gestritten, gekämpft und sind für sie gestorben, während die lebendige Botschaft in den Hintergrund gedrängt und vergessen wurde. Doch nicht nur wir taten das: Die Frömmler jeder Religion, aller Zeiten und aller Völker, haben eines gemeinsam: sie haben die Philosophie, die 'Liebe zur Wahrheit' und die intellektuelle Aufrichtigkeit heftig bekämpft, um die Gemüter der Massen zu beherrschen. Sie haben darauf bestanden, daß der Mensch, um 'erlöst' zu werden, seine Intelligenz und seinen freien Willen aufgeben und wieder wie in jenen prähistorischen Zeiten der Einfältigkeit werden muß, wie es in der Geschichte vom Garten Eden allegorisch beschrieben ist. Wir fragen, was hat das Leben überhaupt für einen Sinn, wenn nicht den, daß die Seele des Menschen durch Prüfung und Irrtum und durch Anwendung all seiner natürlichen Fähigkeiten lernt? Oder wird angenommen, daß er ewig im Kindergarten verbleiben soll?
Die christlichen Gnostiker, die sich verzweifelt bemühten, einiges von den Mysterienlehren in der Bewegung des Christentums zu bewahren und so eine Brücke zwischen der sterbenden 'heidnischen' Zivilisation und der neuen Ordnung zu bilden, wurden in die Enge getrieben und schließlich bis zum bitteren Ende verfolgt; und so endete, wenigstens für viele Jahrhunderte, wieder einmal ein Versuch, die Gemüter der Menschen aufzuwecken, ihre eigenen göttlichen Möglichkeiten zu erkennen. Es war ein langer und bitterer Kampf zwischen blindem Glauben und Philosophie - zwischen den ersten Kirchenvätern und den neuplatonischen Philosophen Alexandriens - und das unglückliche Resultat war die Unterdrückung des Urchristentums. Als Folge davon wurde die einst lebendige christliche Bewegung unseligerweise tausend Jahre lang auf den dunklen Weg mittelalterlicher Zustände abgedrängt.
Was ist die "spirituelle Gottlosigkeit in höherem Sinne", auf die Paulus verweist, anderes als blinder Glaube, scheinheilige Frömmigkeit und gute Absichten, die ohne das Gegengewicht der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes über das Ziel hinausschießen? Ich glaube, daß es nicht nur ein schwerwiegender Irrtum ist, sondern sogar moralisch falsch ist, zu versuchen, irgend jemandem eine dogmatische oder vorurteilslose Religion, ja sogar die Weisheit der Götter aufzuzwingen, denn das ist direkt eine Vergewaltigung der Rechte der Seele. Es kommt auf nichts anderes als eine Gehirnwäsche hinaus und vereitelt letzten Endes selbst den dabei verfolgten Zweck. Heute finden wir in unseren überfüllten Erziehungsinstituten und Strafanstalten viele 'Ungläubige' - unglückliche, enttäuschte Menschen, die nicht imstande waren ihre Religion oder Philosophie mit den Erfahrungen des Lebens in Einklang zu bringen und unter der psychologischen Spannung entweder zerbrachen oder sich ihre Gesetze selbst schufen. Sie haben nicht die geringste Vorstellung vom Sinn des Lebens oder davon, warum sie hier sind, noch war die 'organisierte Religion' in der Lage, die grundlegenden Prinzipien wahrer Religion, die auch von Christus gelehrt wurden überzeugend darzulegen, nämlich, daß der spirituelle Schwerpunkt in uns selbst liegt und nicht in dem von der Theologie aufgestellten Prunk.
Aufrichtigkeit und gute Absichten genügen nicht. Es hat wahrscheinlich nur wenige Menschen in der Geschichte gegeben, die aufrichtiger waren als Tomas de Torquemada, Beichtvater der Königin Isabella und Großinquisitor. Es wird von ihm gesagt, daß er selbst ein ruhiger, freundlicher und frommer Mann war, aber da er die Folter und den Tod Zehntausender unschuldiger Opfer veranlaßte, war er zum großen Teil dafür verantwortlich, daß die Geschichte der Kirche zur schwärzesten und grausamsten der Geschichte der historischen Weltreligionen wurde. Und weshalb? Einfach um andere zu zwingen, das zu glauben, was er glaubte! "Der Himmel erlöse uns von dem Bösen, das die Menschen im Namen des Guten tun."
Die Kirche selbst hat, angestachelt durch den Wunsch nach weltlicher Macht und durch ihre buchstäbliche Auslegung des göttlichen Mysteriums des Menschen in Wirklichkeit den Christus - die spirituelle Natur des Menschen - gekreuzigt und hat Millionen psychisch so beeinflußt, daß sie glaubten, sie seien 'in Sünde geborene' verderbte Geschöpfe und die 'Erlösung' müsse ihnen durch einen geistlichen Trichter eingegossen werden. Wenn die Menschen der westlichen Welt durch die Suche nach dem Frieden des Herzens und des Gemütes zu spirituellen Marionetten wurden, die blind den Dogmen folgen, die sie nicht verstehen, oder durch gefühlsbetonte Bindungen an kirchliche Bräuche und zeremonielles Beiwerk gefesselt sind, ist das deshalb der Fall, weil sie der Einfluß der Kirche so gemacht hat, die sich zwischen den Menschen und das innere Licht drängte und die Wolke der Illusion schuf, daß Gott irgendwo ausserhalb zu suchen sei. "Wisset ihr nicht, daß ihr der Tempel Gottes seid, und daß der Geist Gottes in euch wohnet?" Weist diese einfache Darlegung esoterischer Weisheit nicht jede theologische Lehre des Glaubensbekenntnisses zurück?
Was ist die Antwort? Was sagt die Evangeliengeschichte wirklich? Sie ist die Geschichte von des Menschen spiritueller Möglichkeit, die er, verkleidet und neu aufgefrischt, um sie der jeweiligen Zeit und dem jeweiligen Volk anzupassen, unter verschiedener Bezeichnung von einer Zivilisation zur andern weiter gab. Religionen werden geboren, gedeihen eine Zeit lang und sterben, aber das mystische Drama des Wachstums der Seele geht in der einen oder anderen Form von Zeitalter zu Zeitalter weiter. Seine buchstäbliche Auslegung hat den Leichtgläubigen und den an Wunder glaubenden Gemütern die Hoffnung an eine Unsterblichkeit im zukünftigen Leben gegeben, während die dringendste Notwendigkeit spirituelle Hilfe und spirituelles Verstehen hier und jetzt zur Verbesserung dieses Lebens ist. Es ist offensichtlich nicht unsere Aufgabe alle "göttlichen Rätsel" zu kennen, aber als in der Ewigkeit lebende, selbstbewußte Wesenheiten ist es unsere Pflicht, zur Selbsterkenntnis zu gelangen und uns mit Verehrung dem Lichte zu nähern, das "jedem Menschen leuchtet, der in die Welt kommt."
Das kann nicht am laufenden Band geschehen, sondern ist ein Vorgang individueller Initiative und Erfahrung in den tiefen der Seele. Lehrte nicht Jesus und jeder der Älteren Brüder, daß der Mensch der Tempel der Göttlichen Gegenwart ist? Nur der Mensch allein kann durch seine eigenen moralischen und intellektuellen Anstrengungen den 'Stein' der materiellen Selbstsucht hinweg wälzen und den Christus, seine so lange im 'Grabe' der Unwissenheit begrabene göttliche Natur, wieder erwecken. Die Antworten können nur in ihm selbst gefunden werden. Einige der christlichen Mystiker, die selbst edler waren als ihre Glaubensbekenntnisse, erkannten das und sprachen von dem Innewohnenden Christus. Die Theologen indessen haben nie, weder bei sich selbst noch bei anderen, die Anwendung der angeborenen Intuition des Menschen angeregt, sondern haben auf eine buchstäbliche Auslegung der Evangeliengeschichte bestanden. Dadurch gingen die ursprünglichen christlichen Mysterien verloren und die Menschheit wurde umso ärmer.
Menschliche Institutionen bedürfen, wie menschliche Gewohnheiten, von Zeit zu Zeit eines großen Reinemachens. Im feinsten Haus sammeln sich bald Spinnengewebe, und unmodern gewordene Gegenstände häufen sich im Verlauf der Zeit an. So ist es auch mit den mentalen Vorgängen in religiösen Dingen. Die Kirche erlebte nie eine richtige Frühjahrsstöberung, und in zweitausend Jahren kann sich eine Unmenge Staub anhäufen.