Instrumente des Denkens
- Sunrise 1/1962
Wir sind geneigt zu glauben, daß wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung Freundschaften und Bekanntschaften bestimmen, und daß Unterschiede der Umgebung in diesem Sinne das Denken beeinflussen und das ist wahr. Andererseits, je weitschweifender der Blick eines Menschen ist, desto verschiedenartiger sind die Freunde die ihn umgeben. Freunde sind Menschen, bei denen wir das Gefühl haben, daß wir ihre Gedanken kennen oder sie wenigstens zum Teil erkennen können und die Ideen, die sie zum Ausdruck bringen, gut zu den unsrigen passen, oder mit ihnen vereinbar sind. Nicht ihre physische Person zieht uns an, sondern ihre innere Atmosphäre und ihre Gefühle im allgemeinen, und das erklärt, warum ein Freund in unseren Augen immer schöner wird, selbst wenn wir ihn beim ersten Zusammentreffen häßlich fanden. Wenn äußere Schönheit oder eine elegante Kleidung die Haupterfordernisse wären, dann würden wir die gleichen falschen Werte anlegen, wie ein Mensch, der einen Radioapparat seines Gehäuses wegen wählt und törichterweise den Ton und die Qualität dem äußeren Aussehen opfert.
Über das Denken ist schwer zu diskutieren, denn wir haben nichts Greifbares, an das wir uns halten können, zur Verfügung. Wenn auch unsichtbar, geheimnisvoll, vollkommen nebelhaft, so ist es dennoch eine Kraft, mit der wir rechnen müssen, und jeder von uns versucht das ganze Leben hindurch erfolgreich damit zu arbeiten. Wir können nicht sagen woher die Gedanken kommen, wohin sie gehen, wie man sie richtig kontrollieren kann, oder ob die Menschen das Geheimnis gelehrt werden kann, die schöpferische Sphäre zu erreichen, wie es Dichter und Komponisten manchmal tun. Und doch bringen wir es ohne dieses Wissen fertig, Gedanken geschickt zu benützen, offen und geheim vollkommen in ihnen zu leben und unser Bewußtsein einen Augenblick lang tadellos durch einen verwickelten Irrgarten unzusammenhängender Gedankengänge zu bewegen.
Es gibt noch andere unerklärliche Erscheinungen. Wir brauchen nur die sich periodisch über die Länder der Erde ausdehnenden Modetorheiten zu betrachten. Diese brauchen nichts weiter als neue Tänze, Spiele oder eine sonderbare Ausdrucksweise zu sein. Warum sich diese vorübergehenden Grillen so schnell verbreiten und in vielen Gemütern auf einmal so schnell Aufnahme finden, ist ein nicht leicht zu lösendes Rätsel. Gedanken scheinen imstande zu sein, sich außerhalb unserer Kenntnis über die Gesetze von Zeit und Raum fortzubewegen - vielleicht ist das der Grund, weshalb wir oft von einer Erfindung oder von einer neuen Theorie lesen, die fast gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Erde von den Gemütern verschiedener Menschen gemacht oder aufgestellt wurden, so daß es schwierig ist zu entscheiden, wer der erste davon war. Diese seltsame Absorption aus dem Reservoir schöpferischer Ideen spielt auch eine mitleidsvolle und eine fortschrittliche Rolle, denn ganz gleich, wie unterdrückt ein Volk unter einem gewissen Regierungssystem sein mag, die von Menschen geschaffenen Hindernisse können solche Gedanken nicht davon abhalten, in suchende Gemüter, die bereit sind sie zu empfangen, einzusickern.
Wir können ziemlich sicher sein, daß Ideen nicht im Gehirn selbst geboren werden, wenn jemand auch manchmal eine scheinbar ureigene Erklärung äußert. Es ist als existierten die Ideen als Energien in der Atmosphäre, und das menschliche Gemüt wirkte als Empfänger und Überträger. Wir nehmen Gedanken auf und senden sie auf fluktuierenden Bewußtseinsebenen weiter, wobei wir, oft unbewußt, den Verlauf ihrer Richtung und ihrer Stärke bestimmen. Mentale Energien fließen durch das Gehirn, um dort geprüft und den Befehlen des Menschen entsprechend angenommen oder zurückgewiesen zu werden. Da es nur ein Instrument ist, kann das physische Gehirn nur jene Gedanken empfangen und festhalten, die wir auswählen. In diesem Lichte gesehen bestimmen wir tatsächlich unser Schicksal selbst.
Die Variationen der Gedanken und ihre Reaktionen sind vielfältig. Manche eilen schnell und in unzusammenhängender Folge durch das Gehirn, andere spiegeln Gemütsbewegungen wieder. Dann gibt es wiederum solche, die zur Lösung von Problemen und um Entscheidungen zu treffen notwendig sind, und dann die Phantasien des Tagträumens. Wenn keine Aufsicht da ist, wird das Gehirn mechanisch weiterarbeiten und alles und jedes annehmen. Das ist dann bloßes Geplapper des Gehirngemütes und weit von dem anregenden und inspirierenden Gebiet der schöpferischen Ideen entfernt. Gewiß, dieses Geschwätz ist bedeutungslos, aber die Mehrzahl von uns verbringt ihre Zeit so, und ist von solchen Trivialitäten ganz in Anspruch genommen. Eine besondere Fähigkeit ist also notwendig, um das Gebiet des Schöpferischen zu erreichen, denn wenn auch einige wenige Gemüter es erreichen, so ist das bei einer weit größeren Anzahl nicht der Fall. Vielleicht besteht das Geheimnis darin, daß man zuerst den Wunsch anfachen muß, um das Niveau des Denkens zu verfeinern, und sich dann nach und nach zu einem Punkt zu erheben, an dem man das Denken beherrscht und so das Gehirn zu einer gehorsamen, von einem geschickten Maschinenmeister gelenkten Maschine macht. Wenn Plato sagte, daß Ideen die Welt regieren, sprach er von ausgewählten Gedanken, die von einem derartig geschulten Gemüt empfangen werden.
Wünschen und Denken sind so eng mit dem menschlichen Charakter verwoben, daß es schwierig ist, sie getrennt zu betrachten. Wir sind geneigt, einen schlechten Gedanken als böse an sich zu betrachten, aber Gedanken werden durch Begierde geboren, ein in seinen niederen Formen grobes, in seinen höheren Formen aufwärtsstrebendes Prinzip. Wir Menschen haben deshalb nicht nur mit dem Gemisch von Eindrücken zu kämpfen, die unser Gehirn überfluten, sondern auch mit dem Begehren, welches, wenn nicht kontrolliert, das Gleichgewicht der Gemütsbewegungen zerstört.
Den alten Lehren entsprechend ist der Mensch das Produkt seines eigenen Denkens in früheren Leben, und um sich selbst zu verbessern muß er die Qualität seines Denkens verfeinern. Wie alle einfachen Wahrheiten ist das leicht zu sagen, leicht zu verstehen, aber so schwer auszuführen. Dessen ungeachtet ist es offensichtlich, daß niemand jemals besser sein kann als seine Gedanken, die er denkt. Wer eine lasterhafte Vorstellung pflegt ist selbst lasterhaft, solange er die Vorstellung in sich hegt, aber dasselbe Wesen kann sich durch eine Änderung des Bewußtseins in Sekundenschnelle zu erhabenen Höhen erheben. Dieser Lauf durch unsichtbare Sphären, die aber so wirklich sind wie die Luft, die wir atmen, ist an sich ein Wunder. Wahrscheinlich nehmen wir diese Fähigkeit der Wahl, welche Facette unseres vielseitigen Selbstes wir widerspiegeln wollen, zu selbstverständlich hin, weil es so natürlich ist, um alltäglich zu erscheinen. Unsere ganze Hoffnung liegt tatsächlich in unserer Freiheit der Wahl. Wenn wir auch durch unsere Umgebung und Verantwortlichkeiten bis zu einem gewissen Grade eingeengt sind, so lohnt es sich doch, nicht zu vergessen, daß viele von den Großen der Welt unmittelbar aus unglücklichen persönlichen Verhältnissen Bedeutung erlangten. Gewöhnlich schränken wir uns selbst durch Trägheit, durch Konzentration auf persönliche Wünsche, oder durch Furcht vor Veränderung ein. Gleichbleibende Haltung sind Zeichen des Stillstandes, Schranken gegen die Welt schöpferischer Ideen, und wenn wir zu lange am Alten kleben, opfern wir unbewußt unsere Gelegenheit zum Wachstum.
Ob wir die Verwicklungen der menschlichen Natur kennen oder nicht, die Gedanken werden auch weiterhin binden und befreien, inspirieren und degradieren, fröhlich oder verzweifelt machen, denn der Anstoß der in Bewegung gesetzten Ereignisse ist unvermeidlich. Unsere Fähigkeit Gedanken mit Unterscheidung aufzunehmen ist ein unveräußerliches Recht des Menschen, worauf zu wenig Gewicht gelegt wird. Diese natürliche Gabe reifen zu lassen, dürfte keine einfache Sache sein. Andererseits würden die Resultate die Anstrengung schon wert sein. Welch größere Zuversicht kann es geben, als zu wissen, daß jeder, der will, sein Denken beherrschen und so an den universalen Ideen teilhaben kann, die die Menschheit auf dem langen Weg vorwärts so notwendig braucht?