Die falsche Doktrin der Angst
- Sunrise 1/1962
Obgleich die Geschichtsbücher voll von derartigen Perioden der Krisen sind, wobei jede ihr Bündel Furcht in sich trägt, so zeigen doch auch die gleichen Seiten das Gegenmittel - Wahrheit und Rechtschaffenheit und die moralische Courage, diese Qualitäten furchtlos in die Tat umzusetzen. Heute fließen jedoch viel zu viele unserer physischen wie auch geistigen Kräfte in den Abfluß der Sorge und Furcht, anstatt dem positiven Strom des Fortschritts zugeführt zu werden. Der Druck unserer Zeit zwingt uns jetzt, bessere Lösungen zu finden und ernsthaft über den Zweck des Lebens und unsere Rolle darin nachzudenken.
Als der Mensch an einem bestimmten Punkt in den finsteren Gängen der Vergangenheit seiner selbst als individuelles menschliches Wesen bewußt wurde, entdeckte er, daß er auch mit einem Denkprinzip versehen war, das ihn bei seinen Anstrengungen, den Erfordernissen der Zukunft zu begegnen, unterstützen sollte. Seit diesem großen Augenblick in unserer evolutionären Wanderschaft sind wir durch einen geheimnisvollen inneren Durst nach Wachstum gedrängt worden, dieses Prinzip anzuwenden, und zwar nicht nur, um uns unserer Umgebung anzupassen, sondern auch, um bewußt diejenigen Erfahrungen auszuwählen, von denen wir empfanden, daß sie für uns bestimmt waren. Das Ergebnis jeder Entscheidung, die wir, richtig oder falsch, getroffen haben, ist ein Bestandteil jenes komplexen vielschichtigen Bewußtseins geworden, das wir als unser wirkliches Selbst kennen, und das durch unsere Haltung unserer Umwelt gegenüber zum Ausdruck kommt. Der gegenwärtige Zustand eines jeden Menschen von heute repräsentiert die absolute Wirksamkeit der Anwendung seiner Unterscheidungskraft durch die Jahrtausende. Obgleich Millionen von John Browns und Mary Smiths - alles Persönlichkeiten - dahingegangen sind, um nie wiederzukehren, starb jenes unsterbliche Bewußtseinszentrum, das jeder einzelne von ihnen einige Jahrzehnte benützte, jedoch nie; noch wird es jemals seine Verantwortung aufgeben, unsere Serie an Persönlichkeiten in die Zukunft hineinzuverkörpern, solange der Durst nach Wachstum anhält.
Wachstum wohin? könnten wir wohl fragen. Ist es nicht möglich, daß die göttliche Natur der großen Intelligenz, die das Universum ins Dasein brachte, einen Teil seiner selbst opferte, damit wir und all die sich in ihm entwickelnden Wesen die Gelegenheit zu unbegrenzter Entwicklung erlangen könnten? Können wir, nachdem dieses Opfer gebracht wurde, nicht annehmen, daß im innersten Zentrum jeder sich entwickelnden Wesenheit ein monadischer Ausdruck jener Intelligenz, die sie ins Dasein rief, vorhanden sein muß? Daraus können wir sehen, daß auch beim Menschen im Innersten seines komplexen Bewußtseinsbündel ein Teil jenes göttlichen Opfers leben muß. Wenn die Menschheit nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde, ist es dann nicht nur natürlich, daß der immerwährende Drang und Antrieb, den wir in unserem bewußten Leben fühlen, der unerbittliche, jedoch mitleidsvolle Druck jenes Gotteswesens in uns ist, daß sich bemüht, uns stärker seinem eigenen Bilde gleich zu machen?
Kritische Forschungen in den heiligen Schriften vieler Religionen offenbaren dieses vorherrschende Thema des evolutionären Prozesses der Natur - der die Entfaltung der inhärenten Eigenschaft dessen, was innen ist, erzwingt. Und das auf allen Ebenen der Hierarchie des Lebens, sei es ein Atom oder ein Stein, eine Pflanze, ein Tier oder ein Mensch. Deshalb wird vom Menschen, dem am höchsten entwickelten Wesen auf diesem Globus, ohne Zweifel erwartet, daß er dieses göttliche Vermächtnis stärker zum Ausdruck bringt.
Unglücklicherweise wurde irgendwann bei den damaligen Forschungen einmal in unsere Theologie die Vorstellung hineingebracht, daß der Mensch einen Vermittler zwischen sich und seinem Gott benötige - daß er keinen Umgang mit seinem höchsten Selbst haben könne, ohne die Vermittlung und Hilfe eines anderen, der die Priesterweihe durch eine Gruppe anderer Sterblicher erhält, die willkürliche Qualifikationsnormen aufstellen, und auf diese Weise die Autorität verleihen, uns in unserem Umgang mit unserem Gott zu vertreten. Diese Vorstellung wurde ehedem so gründlich eingeprägt, daß sie noch heute in vielen Kreisen ohne Bescheid zu wissen akzeptiert wird; akzeptiert auf der Basis der Angst - Angst vor der Hölle, Angst vor dem Tode, Angst davor, nicht erlöst zu werden, sogar Angst vor Gott, jenem Vater, der in uns wohnt und voll Mitleid darauf wartet, daß wir den wirklichen Sinn des Lebens und seiner Nähe erfassen, um uns direkt bei all unseren höhergeistigen Bemühungen zu unterstützen.
David brachte das gut zum Ausdruck: "Der Herr ist mein Hirte." In den wenigen Versen dieses herrlichen Psalms wird das Geheimnis der grenzenlosen Steigerung menschlicher Möglichkeiten offenbart. Wir können die wohlbekannte Forderung: "Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir alle Zeit", viel wörtlicher nehmen. Auch die Offenbarung des christlichen Meisters, daß nicht er die Werke tue, die er erfülle, sondern der Vater in ihm, und daß wir dasselbe tun könnten und sogar größere Werke!
Wir sind tatsächlich Erben der erhabenen Intelligenz, deren Vitalität jeden Winkel unserer Erde durchdringt. Da uns ein Teil jener Intelligenz vermacht wurde, sollten wir diese nicht unter einen Scheffel stellen, sondern sie dafür benützen, wofür sie gedacht war. So wollen wir, um mit Paulus zu sprechen, die ganze Rüstung des Vaters in uns anlegen, damit wir den Tücken der Betrüger widerstehen können; denn wir kämpfen nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Exponenten der Finsternis und der Unwissenheit und gegen spirituelle Verruchtheit auf höherer Ebene. Unsere Lenden mit Wahrheit umgürtet, angetan mit dem Brustpanzer der Ehre und dem Schild des Vertrauens, nehmen wir das Schwert des Geistes auf, auf daß wir miteinander alle Ängste fest besiegen und neuen Glauben an uns selbst und an unser hohes Ziel gewinnen.
Mit der Erkenntnis unserer eigenen individuellen Stärke bewaffnet, brauchen wir dann keine Zweifel zu hegen. Die hinterlistigen Erzeuger der Angst können den Angriffen der Wahrheit und Rechtschaffenheit nicht widerstehen. Wir können der Kraft unseres inneren Erbes vertrauen, daß es uns auf den Wegen unseres Lebens führt und beschützt, so daß wir unseren vollen Anteil für das Wohl der Menschheit darbringen können. Jede Bemühung zählt. So wie eine kleine Kerze die finstersten Winkel eines großen Raumes erhellt, so wird die gemeinsame Wirkung von Myriaden Funken göttlichen Mutes in den heutigen Konflikten die falschen Ziele der Feinde des Fortschritts erhellen, und diese Nacht der Verwirrung in eine Morgendämmerung des neuen Zeitalters der Zivilisation verwandeln, die sie in Wahrheit ist.