Informationen über Theosophie in anderen Sprachen:     ENGLISH    ESPAÑOL    ITALIANO    NEDERLANDS    РУССКИЙ    SVENSKA  

Segen des Leides

Süß ist die Frucht des Leides,

Die gleich der Kröte, häßlich und voll Gift,

Ein köstliches Juwel im Haupte trägt.

- Shakespeare, Wie es euch gefällt.

 

 

 

Das Leid, "häßlich und giftig"; wir alle kennen es zur Genüge, aber wer von uns würde bereit sein, seinen "Segen" zu besingen, geschweige denn ein Glück darin zu sehen, es zu suchen und zu finden? Kürzlich wurde in England an das Gewissen der medizinischen und gesetzgebenden Verbände, wegen des uneingeschränkten Verkaufes von Drogen, die zu unsozialen Handlungen führen können, appelliert. Man forderte dabei, daß der Verkauf auf ärztliche Verordnung beschränkt werden solle. Soweit ganz gut. Man könnte jedoch noch weiter gehen und sogar in Erwägung ziehen, ob die Sucht nach Drogen an sich überhaupt zur 'Antwort' auf das Problem unserer für den Einzelnen schweren Zeiten geworden ist.

Wie wir lesen ist es jetzt bei den Studenten allgemein üblich vor einem wichtigen Examen je nach Stimmung, ob hoch oder niedrig, entweder Anregungs- oder Beruhigungspillen einzunehmen; und die weitverbreitete Sitte vor dem Schlafengehen Schlaftabletten einzunehmen ist etwas alltägliches geworden. Man könnte meinen, eine gesunde Lebensweise käme als Quelle eines "sanften Schlafes", der so ungezwungen wie das Atmen über uns kommen sollte, nicht mehr in Betracht. In unseren Zeitungen, Magazinen, auf den Bekanntmachungen im Zug und an den Anschlagtafeln werden wir eingeladen, nein ermahnt, in jenen magischen Zirkel der Sorgenfreiheit einzutreten, den der andere magische Zirkel - die Pille hervorbringt. Fast scheint es als ob die Pille ein regulär sagenhaftes Eiland zuwege brächte, einen Ort, weit entfernt von schädlichen Widerwärtigkeiten, erfüllt von jenen "Klängen und süßen Düften, die Wonne spenden und niemandem schaden". Ist das Leben zu hart? Ist uns eine besonders schwere Aufgabe zugedacht? Keine Sorge! Alles, was wir brauchen ist die entsprechende Pille, und, Hokuspokus, entweichen wir damit so unmerklich dem Bannkreis der schlimmen Sache wie die Pille die Kehle hinabgleitet.

Die Wasser von Lethe sind, wie es scheint, weit mehr erwünscht und gesucht als der süße Segen des Leids, der leider nicht in "handlichen Päckchen, die in die Hand- oder Westentasche passen", zu uns kommt! Selbst wenn wir individuell gesehen uns nicht um jenen magischen, dem Vogel Strauß ähnlichen Kreis eines Drogenschutzes bemühen, löschen wir nicht ebenso oft unseren eigenen besonderen Brand mit den Wassern Lethes ab? Auf die Bitte einen glaubhaften Grund für ihr langes und sehr sorgenfreies Leben anzugeben antwortete eine alte Dame, (die kein Bier trank und enthaltsam war, was in den meisten derartigen Antworten eine Rolle spielt!): "Ich denke, es kommt daher, daß ich mir stets zur Aufgabe gemacht habe Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen. Ich lese in den Zeitungen nichts über all diese schrecklichen Dinge, die sich stets bei den Leuten zutragen. Ich habe mein Leben immer mit den kleinen Dingen ausgefüllt. So etwa wie "Sollen wir dem Zug nachlaufen? Sollen wir pünktlich zum Tee kommen? Sollen wir ins Haus gehen, ehe der Sturm losbricht?" Auf diese Weise ist das Leben viel einfacher."

Ohne Zweifel könnte ein Psychologe aus derartigen kleinen Dingen, die sie erwähnte, eine große Sache machen, aber das ist, wie mir scheint, nicht so wichtig als der feste Entschluß den Widerwärtigkeiten einen breiten Spielraum zu gewähren. In der Tat ist das Leben "auf diese Weise viel einfacher", aber nur solange als es unsere individuelle Achillesferse nicht entdeckt hat oder uns in die vordersten Linien des menschlichen Kampfes gestoßen hat, so daß wir zu den Leuten gehören, denen "schlimme Dinge zustoßen" - obwohl "zustoßen", was gleichbedeutend mit "Zufall" ist, schwerlich das richtige Wort sein kann.

Sorgfältig eine Hand vor die Augen halten, die nicht Zeuge sein wollten vom grimmigen Kampf, den jene Schar - die anderen Leute - um sie herum führten, das war die Pille für die alte Dame. Die anderen Leute, nicht mich, nicht die Meinen, nicht uns! Dem Himmel sei Dank, sagen wir, daß es nicht dem und dem zugestoßen ist, der uns nahesteht, weil wir ihn als eine uns wohlbekannte Person schätzen und lieben. Zudem würden wir gern, wie die alte Dame, einen magischen Ring um unsere eigenen Lieben legen. Wenn wir könnten würden wir alle üblen Folgen, ohne Rücksicht darauf was oder wer sie veranlaßte, hinwegfegen und jene uns so Teuren, in einem sicheren, schützenden Hafen geborgen, stets glücklich durchs Leben gehen lassen wie die Gestalten in einem Märchen. Aber das Leben ist kein Märchen.

Kommt es nicht daher, weil wir zu wenig Glauben an die Möglichkeiten des Leides besitzen? Oder auch davon, daß wir uns getrennt von jenen, von unseren Mitmenschen betrachten, die vom Rad des Leides bedrückt sind, während wir uns frei bewegen können? Frei bewegen? Und dennoch, wenn wir etwas Besonderes sind, wenn wir frei sind oder auch nur eine Ausnahme bilden könnten, weshalb fürchten wir uns sogar davor die Dinge zu betrachten? Irgendwo in uns tragen wir die Gewißheit, daß Leid und Kampf, die über den einen kommen, über alle kommen können, ja früher oder später über alle Menschen kommen müssen, besonders über jene, die nicht achtsam sind. Die Furcht der Dame vor dem "Umschauhalten", die sie nicht einmal am Ende ihres langen und friedlichen "Tages" auf Erden ablegen wollte, erzählt dieselbe Geschichte und zeigt, daß sie, als sie sich sogar als sicher und abseits stehend betrachtete, zur gleichen Zeit ihre untrennbare Verbundenheit mit der übrigen Menschheit erkannte.

Es könnte den Anschein erwecken, daß diese spezielle Lebenszeit sozusagen für sie ein Tag auf dem Perimeter des harten Kampfes gewesen wäre, ein Tag, an dem sie dem Kampf ausweichen konnte und nicht viel mit Selbsterprobung durch Kampf zu tun gehabt hätte. Sie hatte den Kampf weder gesucht noch sich mitten in ihm befunden. Auch wollte sie an ihm keinen Anteil haben, ihn nicht einmal durch Ferngläser beobachten! Wie Jane Austen in einer ihrer Novellen sagt: "Möge sich ein anderer für mich mit den Tragödien des Lebens befassen." Auch Jane Austen will demgegenüber, was sie nicht sehen möchte, blind sein. In einer von Krieg erfüllten Welt lebend schrieb sie über die Soldaten von "netten Herren" in scharlachroten Uniformen, die bei Tischgesellschaften große "Spottvögel" seien und in hohem Maße als Ehemänner oder als Teilnehmer an der Quadrille erwünscht wären. Mit den "seichten Gewohnheiten" ihrer Zeit war es dasselbe. Von allen ihren Novellen ist nicht eine mehr als eine bloße Null, ein laufendes, plauderndes "Jawohl gnädige Frau" und "Nein mein Herr!" mit Formalität, aber ohne Inhalt.

Aber alle Menschen sind nicht so wie die alte Dame oder wie Jane Austen, da es wohl möglich ist "sich inmitten des Kampfes" zu befinden, ihn aber durch die bestimmte Anwendung eines starken Willens in der Absicht ihn zu verschieben, zu meiden, ist es da nicht ebenso wahrscheinlich, daß wir in Zukunft für unsere scheinbare augenblickliche Gleichgültigkeit die Folgen zu tragen haben werden? Wenn das besondere Ungemach wirklich meine und oft auch die Angelegenheit anderer ist, was geschieht, wenn ich versuche es von mir fernzuhalten? Kann es nicht sein, daß uns die nämliche zurückgehaltene Schwierigkeit später mit der ganzen noch größeren Stärke, wegen unserer zusätzlichen Kraft des Versuchs sie von uns abzustoßen, "beim Schopfe packen" wird? Ist es nicht besser zu akzeptieren, daß wir alle dem Angriff der vielen und mannigfaltigen Unannehmlichkeiten des Lebens ausgesetzt sind? Der brave Soldat sucht keine Höhle im Boden und verbirgt sich nicht, wenn um ihn herum die Schlacht tobt, obwohl es ein Teil von ihm gerne tun möchte!

Jesus verstand diese Prüfung, als er sagte: "Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht mein Wille geschehe, sondern der deine!" Wenn unser Kelch unsere Lippen berührt, dann ist es soweit, aber nicht deshalb, weil irgendeine launische Gottheit oder ein boshaftes Schicksal gesagt hat: "Laßt uns ihn überfallen und quälen!" Der Kelch ist einzig und allein aus dem Grunde dort, weil wir selbst die Ursache hierzu durch unser eigenes Denken und Tun in der Vergangenheit geschaffen haben. Möglich ist, daß wir im Augenblick nicht wissen was ihn uns gebracht hat. Und es ist bestimmt gut so, daß wir es nicht wissen, denn der Kampf ist allzunotwendig, um etwas Geringerem als der reinen Gerechtigkeit zu erlauben, dies zu tun. Es hat keinen Sinn, in der heutigen Zeit, als beschäftigte Mutter oder beschäftigter Vater einer Familie, sich darüber Gedanken zu machen, ob man in einem früheren Leben Kleopatra oder Cäsar gewesen ist! Diese zwei waren einfach sie selbst (wer immer sie auch gewesen sein mögen), zu Lebzeiten mit den Persönlichkeiten angetan, die uns unter diesen Namen bekannt sind. Wo auch immer sie sich heute befinden mögen, falls sie unter uns sind tragen sie ihre augenblicklichen Persönlichkeiten; und das einzig Gewisse über sie ist, daß sie immer noch sie selbst sind.

Wie wir uns heute auch nennen mögen, wir sind stets ein und dasselbe Selbst. Mit der hypothetischen Abstammung von Cäsar und Kleopatra verfahren wir nicht anders als wir es mit dem Kleid oder dem Anzug tun, die wir gestern ablegten, zum Reinigen trugen, in den Lumpensack steckten oder auch ins Feuer warfen. "Macht nichts" sagen wir, wenn die Flammen das abgelegte Gewand verzehren, "wir brauchen das alte Ding nicht mehr!" Keinen Augenblick bilden wir uns ein, daß wir es selbst sind, was wir der Vergessenheit überantwortet haben. Wir wissen sehr wohl, daß wir noch immer hier sind, welches Kleid wir auch anziehen oder ablegen mögen. Aus diesem Grunde müssen wir alle ganz auf uns selbst gestellt, unsere eigene Entscheidung treffen, ob wir kämpfen wollen oder nicht, ob wir bei allen Unannehmlichkeiten, denen wir zu begegnen haben, in Ehren verwundbar sein wollen, oder ob wir in einem windgeschützten Tunnel Zuflucht suchen, sei es, daß wir dem Kampf aus dem Wege gehen oder eine Art Beruhigungspille einnehmen, physisch oder im übertragenen Sinne gesehen.

Wie ein Haus auf einem Hügel allein zu stehen, ganz den Angriffen des Lebens ausgesetzt, absichtlich und wissentlich verwundbar und dennoch stark und im Innern völlig ruhig zu sein, das ist die große aber schwierige Heldentat, die wir ermöglichen können, wenn wir es ernsthaft wollen. Unsere innere Unverwundbarkeit kann nur durch die Verwirklichung unserer eigenen hohen Bestimmung als Mensch und durch den Glauben kommen, daß alle andern Menschen, so wie wir, nach manchem langen Kampf mit äußeren und inneren Teufeln, Erben einer Gottheit sind. Wenn der Kampf einmal begonnen hat und der Mensch beschlossen hat "herauszutreten und abgesondert zu sein", nicht von seinen Mitmenschen und deren Sorgen und Freuden, sondern vom Trugschluß des Sonderseins und dem Anzeichen individueller "Überlegenheit", dann beginnt die Schlacht und die Schläge fallen wie der Regen, die aber, gleich dem Regen, segenbringend sind.

Wahrhaftig süß ist die Annahme jenes Ungemachs, das uns der Verwirklichung der Eintracht unter den Menschen näher bringt.