Der Künstler und sein Material
- Sunrise 5/1961
Obwohl das alles von größter Bedeutung ist, so reicht es doch nicht aus, um jemanden in die Lage zu versetzen ein Kunstwerk zu schaffen. Der Künstler muß die Beschaffenheit des Materials, mit dem er arbeitet, ganz genau kennen, denn die Möglichkeiten des Stoffes sind begrenzt. Sie können seinen Zwecken ebenso dienlich, wie hinderlich sein, aber niemals kann er die typischen Eigenschaften, die der Leinwand, dem Holz oder dem Ton innewohnen, außer acht lassen, ohne seine eigenen künstlerischen Mängel bloßzustellen. Ein Bildhauer kann Sandel- oder Eichenholz wählen, aus dem er eine Figur schnitzt. Nachdem er sich sein Werk im Geist vorgestellt hat, entscheidet er sich für das betreffende Holz, weil er erkennt, daß sich ein anderes Material nicht so gut für seinen Zweck eignet; doch seine Wahl schließt jede Möglichkeit aus, die Schönheiten zu benutzen, die, z. B. im Marmor oder in der Bronze verborgen sind. Durch die Bevorzugung der Eigenarten des Holzes erkennt er gleichzeitig dessen Begrenzungen und sogar dessen Unvollkommenheiten an: An manchen Stellen kann es heller sein als an anderen, seine Härte wird verschieden sein, vielleicht laufen seine Fasern wellenförmig - all das wird sowohl die Art und Weise seiner Arbeit als auch das endgültige Resultat beeinflussen.
Wenn er aber ein vollendeter Künstler ist, wird er nicht zum Sklaven seines Materials, sondern als Meister seiner Kunstfertigkeit verwandelt er bewußt die Mängel zu Faktoren, die die Schönheit seines Werkes eher erhöhen als vermindern. Er benützt keine künstlichen Mittel, um Unvollkommenheiten zu verdecken, was lediglich seine mangelhafte Handfertigkeit verraten würde. Im Gegenteil, er erreicht nahezu Fehlerfreiheit, indem er diese Unvollkommenheiten zwingt eine schöpferische Tätigkeit zu vollbringen. Durch Beachtung der Werte, die in den Begrenzungen liegen, kann er sie auf dem Gebiet, auf dem er Meister ist, zu einem göttlichen Zweck verwenden.
In der Kunst zu leben können die genannten Prinzipien angewendet werden: das Leben ist der Bereich, in dem der Mensch sein eigenes individuelles Meisterstück anfertigen muß. Wir müssen zugeben, daß manches Leben gelebt wird, als sei es nur ein Stück Holz, so wie ein Scheit, das man beiseite wirft. Wenige können es durch Schnitzen zu einem bewundernswert schönen Gegenstand formen. Man kann es natürlich auch zu jedem nur vorstellbaren Ding, das zwischen diesen beiden Extremen liegt, gestalten. Alles hängt allein von demjenigen ab, dem es zur Bearbeitung übergeben wurde. Wenn er, während er sich mit seinen äußerst widerspenstigen Teilen abmüht, sich an den Qualitäten erfreuen kann und, wenn es notwendig ist, mit Begeisterung sein Lebensblut vergießen kann, wird er reichlich belohnt werden; verwünscht er aber die Verwicklungen, so werden diese seine Instrumente stumpf machen und seiner Mühe trotzen.
Offensichtlich erlangen nur wenige in der Kunst zu leben vollkommene Fertigkeit; viele sind nur teilweise erfolgreich, während einige zweifellos fehlgehen. Warum? Bei diesem Problem liegt der entscheidende Punkt darin, ob man in seiner Lebensgestaltung eine freischaffende Kraft ist oder nicht. Vor allem müssen wir zugeben, daß der Mensch, sobald er geboren ist, nicht mehr die Umstände, die ihm zuteil wurden, vertauschen kann. Ist dies reines Schicksal oder der unerforschliche Wille Gottes? Ist seine Geburt ein unumstößlicher Anfang ohne das Erbe vergangener Erfahrung, oder ist sie ein erneuter Ruf zur Pflicht für die Pilgerseele? Der alte Gedanke der Reinkarnation ist ein Hauptschlüssel, weil er wie die menschliche Seele bestrebt ist Gelegenheiten und Fähigkeiten zu suchen, die ihr die Möglichkeit geben, ihrer wahren Bestimmung gerecht zu werden und immer höhere Fähigkeiten zu erwerben. Es geht uns allen genauso wie dem Künstler, den es drängt zu studieren und seine Werkzeuge und Materialien auszuwählen, diese an sich nimmt und sie gebraucht, wie er sie vorfindet. Er weiß, daß sie so sind wie sie sein sollen, und daß es an ihm ist das Beste daraus zu machen.