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Zugvögel

Für den Kiesel, der am Strand liegt, sind alle anderen Kiesel unter der bewegten, undurchdringlichen Oberfläche des Meeres tot. Sie sind in einer anderen Welt verborgen, und ihre Geheimnisse sind durch den Dämmer des dunklen Wassers verschlossen. Und für die anderen, die von sanften Fluten gewiegt im feuchten Bett der Mutter Erde ruhen, sind ihre Brüder, die am luftigen Strand liegen, ebenfalls tot. Die unaufhörliche Bewegung durch Wind und Wellen wechselt ihre Lage, aber keiner kann dem allesumfassenden Einfluß des eben gegenwärtigen Augenblicks widerstehen. So ist es vielleicht bei den Kieseln; doch im Innersten des Menschen liegt das Wissen um beide Seiten an der Küste verborgen.

Auf Erden kommen und gehen die Blätter und Blumen. Die kahlen Winterzweige zeigen nichts von der Schönheit, die sie in sich tragen. Doch dann kommt das Wunder des Frühlings, das die unsichtbare Welt hervorbringt, die diese sichtbare Welt, diese äußerste Schale der Welten, versorgt. Was könnte deutlicher sein? Die Tiere erscheinen, verschwinden, und kommen dann wieder; und auch wir folgen dieser Lebensweise, die sich vor vielen Ewigkeiten herausbildete. Gleich Zugvögeln kommen wir auf diesen Plan, werden von unseren Gefährten begrüßt und dann nicht mehr gesehen. Ganze Völker kommen und schreiben mit goldenen oder blutigen Buchstaben ihre Geschichte, verschwinden dann und lassen vielleicht nur eine Wüste zurück, die von ihrer Größe zeugt, oder nur ein paar Degenerierte, die auf ihre Fehlschläge hindeuten.

Zeitalter später sehen wir vielleicht ein neues und reines Land, das kräftig und lebendig mit Energien angefüllt ist, die an eine alte, ausgestorbene Rasse erinnern, und wir sagen: "Was war, kommt wieder; es gibt nichts Neues unter der Sonne." Aber nicht jeder glaubt daran, daß es die Rasse ist, was nicht neu ist. Ganze Kontinente sind von lebensstarken Völkern bewohnt; dann verschwinden sie, als hätten sie nie existiert. Und neue Länder, die Zeitalter hindurch von reinigenden Wassern überspült wurden, tauchen irgendwo auf, um die Seelen, die sie erwarten, zu empfangen.

Überall besteht Koordination, wie sie nur existieren kann, wenn alles zu einem riesigen Organismus gehört, der in jedem Teil bewußt ist. Jede Einheit ist dem Ganzen zugehörig und muß es immer sein. Formen und äußerliche Beziehungen dazu verändern sich. Wie die auf- und absteigenden Wellen des Meeres, wie das Herz jedes Geschöpfes, das sich zusammenzieht und ausruht, so versagt der Rhythmus des Lebens in groß und klein nie. Alles wird ausgeatmet zur Tätigkeit; alles wird eingezogen in die Stille. Doch alles ist ewig da und kann ebensowenig verhindern, ein ewiger Teil jenes größeren kosmischen Prozesses zu sein, als jemand sagen kann: "Ich will nicht mehr dem Gesetz der Schwerkraft unterworfen sein!"

Wenn es sich nun um uns handelt, dann ist es die Stille, die uns verblüfft. Sie scheint so tief und endlos zu sein, die darin Eingetretenen so weit entfernt, so für immer den Augen entzogen, die gewohnt sind, intensiv über die Oberfläche des Lebens zu schweifen und die noch nicht gelernt haben, im Inneren nach der Lösung seiner geheimen Bedeutung zu suchen. Doch selbst wenn man nur äußerlich sucht, wenn man es aufmerksam genug tut, können wir dieses Geheimnis so laut verkündet finden, daß man es durch und über dem ganzen Getöse der geringeren Geräusche vernehmen kann, mit so großen Buchstaben geschrieben, daß sie, wie die grossen Buchstaben auf einer Landkarte, oft in einem Gewimmel kleinerer Worte und zahlreicher Einzelheiten verloren gehen.

Das kurze Leben der Seele auf Erden und ihr anscheinender Fortgang, die für uns, die wir im Augenblick am Strande stehen, so verwirrend und dennoch durch die unumgänglichen Lebensfakten so offen dargestellt sind, sind nichts anderes als die überall gegenwärtige Ebbe und Flut. Es ist die Reinkarnation, der große Pulsschlag des menschlichen Lebens. Zuerst war diese Idee dem modernen westlichen Denken sehr fremd, aber nachdem sie einmal aufgenommen war, wurde sie rasch als ein alter Freund erkannt, als ein verloren gegangener Schlüssel zu folgerichtigem Denken. Sie gleicht dem x in der Algebra: sobald man dessen Wert findet, hilft es jedes Problem zu lösen und all die nicht passenden Teile zusammenzufügen.

Es ist wahrhaftig ziemlich überraschend, daß wir in Europa und Amerika diese alte Vorstellung so lange schief angesehen und so leicht beiseite geschoben haben, denn damit haben wir uns von der jetzigen und vergangenen übrigen Menschheit abgesondert. Das Versäumnis, damit zu rechnen, beweist, von einer höheren Warte aus betrachtet, einen kleinbürgerlichen Standpunkt. In alten Zivilisationen war diese Idee einer der Eckpfeiler des Denkens und in den Annalen der ganzen Geschichte schien das Licht dieser Wahrheit immer in das Gemüt derjenigen Seelen, die sich intuitiv über ihre Mitmenschen erhoben haben. Diese großen Vorfahren gering einzuschätzen, würde lediglich Unwissenheit verraten; sie nach ihren oft degenerierten Nachkommen zu beurteilen oder ihre Lehren mit den grotesken abergläubischen Vorstellungen zu verwechseln, die sich wie Gestrüpp und häßliches Unkraut, das alte Ruinen umgibt, um ihre alten Hochburgen angesammelt haben - und nicht mehr zu sehen als diese wuchernden Gewächse, hieße lediglich, sich selbst dem Aberglauben zu unterwerfen.

Trotzdem wäre es töricht, die Reinkarnation beweisen zu wollen. Der Versuch, jemanden davon oder von etwas anderem zu überzeugen, ist genau so unsinnig, als wollte man jemanden dazu zwingen, an Sterne oder Sonnen oder Gezeiten oder Menschen zu glauben. Sie existieren einfach, ohne Rücksicht darauf wie jemand darüber denkt. Laßt jene, die es wollen, dagegen argumentieren: alles Für und Wider wird das Gesetz selbst nicht im geringsten beeinflussen! Wir wenden für uns selbst nicht die gleiche kluge Intelligenz an, die wir sonst auf alle äußeren Probleme zur Anwendung bringen. Wir scheinen von der Ansicht, daß der Mensch, seine Struktur, sein Kommen und Gehen so ganz undurchdringliche Geheimnisse sind, psychologisch so beeinflußt worden zu sein, daß jeder Unsinn zu allen Zeiten eine Chance hatte in unserer mentalen Seele Fuß zu fassen, und es möglich war ohne Einwand dazubleiben. In so fruchtbarer Umgebung verlieh er ihm dann ein künstliches Leben und trieb viele bizarre Auswüchse, die jedoch glücklicherweise verwelken müssen, weil die Wurzel fehlt. Inzwischen ist der vernünftigen Erklärung langsam Aufmerksamkeit geschenkt worden, denn man hatte bisher angenommen, daß die Sache nicht durch die Vernunft zu lösen sei. Die Notwendigkeit immer wiederholt zu erscheinen ist jedoch so überwältigend offensichtlich, daß es sonderbar erscheint, daß sie bei uns im Westen so lange übersehen wurde.

Tod ist daher eine falsche Bezeichnung. Er bedeutet einfach, daß das Leben neue Richtungen angenommen hat. Das wirkliche Ego zieht sich in sein natürliches Element zurück und all die verschiedenen Lebenselemente, die für einen gemeinsamen Zweck zusammenhielten, tun dasselbe. Jedes strebt unabhängig zu seiner Art hin. Die Partnerschaft ist aufgelöst, zumindest zeitweilig. Und der wirkliche Schauspieler im Drama, das Ego, entweicht aus seinem Gefängnis, um in ein erfüllteres, freieres Leben überzugehen.

Wir sind tatsächlich Zugvögel, und mit unserem Kommen und Gehen wird uns die Reise mehr und mehr vertraut, der Schleier wird dünner und dünner, bis er schließlich aufgelöst und der Tod besiegt ist. Das ist der große Sieg, das Ziel: wenn zwischen den beiden Welten kein Schleier mehr existiert, dann geht das Bewußtsein auf natürliche Weise von der einen in die andere über. Leben ist überall und ewig.