Ein Brief aus Schweden
- Sunrise 3/1961
Ich glaube, in den augenblicklichen Ereignissen sehen wir viele Anzeichen der Macht spiritueller Kräfte, wie sie in der ganzen Welt an die Oberfläche durchbrechen. Aber die negativen, hemmenden und zerstörenden Kräfte sind ebenfalls stark. Der Kampf ist daher sehr hart. Ich weiß nicht wie viele Menschen auch so empfinden wie ich, aber im Licht des großen Wechsels gesehen, in dem sich die Welt befindet, erscheinen mir nun die alten Formen als unwirklich und unzulänglich für die gegenwärtigen Verhältnisse. Was vor zwanzig, ja sogar noch vor fünf Jahren als gut und ausreichend erschien, genügt heute nicht länger mehr. Etwas ganz anderes wird gebraucht. Wir haben unsere "Kindheit" verlassen und müssen nun lernen zu verstehen und uns dem Leben auf eine ganz andere Weise, als früher, anzupassen. Bewußt oder unbewußt, gehen wir bereits auf unserem Wege völlig veränderten Eindrücken entgegen, die wirklichen Wert haben. Wir beginnen, z. B. zu erkennen, daß großes Wissen ohne Herzenswärme und echtes Verständnis, wie großartig es auch immer vorgetragen sein mag, nur von geringem Wert ist. Wir fangen an klarer zu verstehen, daß das Wichtigste von allem unser eigener (und unserer Mitmenschen) wirklicher innerer Wert ist, das, was wir in unserem Herzen sind, und in welchem Ausmaße wir diesen warmen, treuen und reinen Teil von uns mitteilen können.
Von unserer frühesten Kindheit an ist uns eingeprägt worden, daß die äußeren Wirkungen und sichtbaren Resultate einen Wert haben. Das war, ohne Ausnahme, überall die allgemeine Einstellung. Was sich auf den inneren Ebenen des Weltgedankens ereignet, ist etwas ganz Fremdartiges und Unwirkliches für uns. Es ist deshalb nicht so verwunderlich, daß wir meist auf die äußeren Erfolge sehen und den äußeren Stand beurteilen. Wir sehen mit einer gewissen Scheu und sogar Furcht, wie viele kunstvolle Regeln, auf die wir früher so viel Wert legten, in Gefahr sind, völlig zu verschwinden. Wir müssen nun damit beginnen, und wenn es auch ein langwieriger Vorgang sein mag, unser Augenmerk der Tatsache zuzuwenden, daß spirituelle Werte zu unserem praktischen Interesse werden; und nur das, was sich im Inneren ereignet, von wirklicher Bedeutung ist, und zwar so weit es uns nur möglich ist, es zu empfinden. Wir tappen noch im Finsteren und wundern uns noch.
Wir werden uns sicher noch daran erinnern, wie es war, als wir die Schule verließen. Wir glaubten so viel zu wissen und so klug zu sein, aber als uns das Leben ernster entgegentrat, merkten wir bald, wie wenig wir wirklich wußten. Es war, als begänne alles wieder. Vielleicht ist es in unserem derzeitigen Leben das gleiche: Wir verlassen das Kindheitsstadium internationalen Denkens, mit dessen Existenz sehr wenig anzufangen ist und treten in etwas Neues ein, dem sich anzupassen nicht so leicht ist, als es bisher war. Aber erkennen wir nicht bereits etwas Wertvolleres und Leuchtenderes am Horizont?