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Über die Vorsehung

Plotinus wurde im Jahr 205 n. Chr. in Ägypten von römischen Eltern geboren und starb 270 n. Chr. in der Nähe Roms. Er war wohl der bedeutendste Vertreter des Neu-Platonismus. In seiner Jugend wohnte er den Vorlesungen des berühmten Ammonius Sakkas bei, dem Begründer der Bewegung, der er sich später anschloß und der er die Freundschaft von Königen brachte. Plotinus förderte die tiefe universale Sicht der Alexandrinischen Schule, die das Fundament der Philosophie Platos mit vielen Ideen aus Persien und dem Orient verschmolz. Er war fromm, stark und klar, und schon zu Lebzeiten weithin bekannt. Die hier wiedergegebenen kurzen Auszüge sind aus seinem Essay Über die Vorsehung, in dem Plotinus seine Philosophie als Hilfsmittel benutzte, um das Leid und die Unzulänglichkeiten des menschlichen Lebens zu erklären, indem er auf den dahinterliegenden göttlichen Vorgang hinwies.

- Der Herausgeber

 

 

 

Es ist völlig müßig, die Existenz und die zusammenhängende Struktur dieses Universums von automatischem Handeln und vom Zufall abhängig zu machen. Eine solche Vorstellung könnte nur dort in Erwägung gezogen werden, wo nicht einmal gewöhnliche Wahrnehmung, geschweige denn Intelligenz vorhanden ist... Doch die Frage nach dem Vorgang, durch den die individuellen Dinge dieser Sphäre ins Dasein traten, und wie sie geschaffen wurden, steht immer noch offen. Einige davon scheinen so ungewollt zu sein, daß man an einer universalen Vorsehung zweifeln könnte. Einerseits finden wir die Verneinung irgendeiner kontrollierenden Macht, und andererseits den Glauben, daß der Kosmos das Werk eines bösen Schöpfers sei.

Wir müssen bedenken, daß die Welt ein Produkt des Unumgänglichen ist, keine vorsätzliche Absicht: sie ist, genaugenommen, durch ein höheres Geschlecht erzeugt, das durch einen natürlichen Vorgang sein eigenes Abbild hervorbringt… sie steht, als ein erhabenes Ganzes, in sich selbst vollendet, indem sie gleichzeitig ihrem eigenen Zweck und dem all ihrer Teile dient, die mehr oder weniger so führend sind, daß sie die Interessen des Ganzen fördern. Es ist deshalb unmöglich, das Ganze nach dem Werte der Teile zu verurteilen, die, nebenbei bemerkt, nur danach beurteilt werden können, wie sie sich mehr oder weniger harmonisch in das Ganze eingliedern, wobei die Hauptbetrachtung weit über die Teile hinausgeht, die daher nicht mehr wichtig sind. Wenn uns die Teile nicht zusagen, verurteilen wir nicht den Kosmos, sondern nur irgend etwas davon. Vom gesamten lebendigen Wesen aus gesehen heften wir unsere Augen nur auf ein Haar oder eine Zehe und vernachlässigen dabei den wunderbaren Anblick des ganzen Menschen... Nein, dieses Etwas, das da ins Dasein trat, ist keine Ansammlung von Bruchstücken, sondern der vollständige Kosmos. Seht Euch nur um, und Ihr werdet bestimmt die Beweisführung hören:

"Ich bin durch einen Gott geschaffen worden: von diesem Gott kam ich, über alle Formen des Lebens hinaus vollkommen, meinen Funktionen angepaßt, selbstgenügsam, an nichts Mangel leidend, denn in mir ist alles enthalten, das bedeutet: von jeder Pflanze und jedem Tier, von allen Arten der erschaffenen Dinge, von vielen Göttern und Nationen, vom Geistigen Sein und von erhabenen Seelen und Menschen, die in ihrer Güte glücklich sind."

Im stofflosen All ist jeder Teil an sich unveränderlich. Während das Ganze, und auch alle edleren und erhabeneren Bestandteile, ewiges Leben haben, gehen in den Himmeln unseres Universums die Seelen von Körper zu Körper, indem sie in verschiedene Formen eintreten - und, wenn es möglich ist, wird sich eine Seele über den Bereich der Geburt erheben und mit der einen Allseele zusammenwohnen...

Diese lebendigen Wesen, die ihrem eigenen Willen entsprechend frei beweglich sind, schlagen manchmal die richtige, manchmal die falsche Richtung ein. Warum der falsche Kurs verfolgt wird, ist kaum des Fragens wert: Eine anfängliche kleine Abweichung entwickelt sich mit jedem Schritt weiter zu einem fortgesetzten weiteren und ernsteren Irrtum - besonders, weil der anhaftende Körper, mit seinem unvermeidlichen Begleiter, dem Wunsche, vorhanden ist - , und der erste Schritt, die nicht vorher überlegte hastige und nicht sofort verbesserte Handlung endet in einer erstarrten Gewohnheit, die anfänglich nur ein Abgleiten war.

Natürlich folgt die Bestrafung: es liegt keine Ungerechtigkeit im Leid eines Menschen, das zu der Lage gehört, in der er sich befindet; wir können auch nicht verlangen, glücklich zu sein, wenn unsere Handlungen uns kein Glück haben verdienen lassen. Nur die Guten sind glücklich; göttliche Wesen sind nur glücklich, weil sie gut sind. Glück ist für alle Seelen dieses Universums möglich; wenn es einigen ermangelt, so darf der Vorwurf nicht dem Platz gelten, sondern der Schwachheit, die für den starken Kampf in der einen Arena, in der die Belohnung für Vollkommenheit geboten wird, nicht genügt...

... weiter bliebe noch die Frage, warum das, was unsere Natur verletzt, den Guten zufallen sollte, während den Gottlosen sich alle ihre Wünsche erfüllen? Wie kann dieses Los gebilligt werden? ... es wäre nicht richtig, wenn die Schlechten die Herren, die Herrscher im Staat sein sollten, während die Ehrenvollen Sklaven sind: ein gottloser Herrscher kann die größten gesetzwidrigen Handlungen vollbringen; und im Krieg würden die schlechtesten Menschen freie Hand haben und den Gefangenen gegenüber jede Art Verbrechen verüben. ... die Guten gingen dürftig, während die Gottlosen reich wären: von allem, was der Mensch braucht, hätten die, die es am wenigsten verdienen im Überfluß; sie wären die Herrschenden, Völker und Staaten unterstünden ihrer Willkür. Hieße das nicht, daß die göttliche Macht die Erde nicht erreicht? Wir sind gezwungen zu fragen, wieso solche Dinge unter einer Vorsehung sein können...

Unsere Antwort lautet, daß das Universum ein lebendiger Organismus ist: ferner sagen wir, daß der Kopf und das Gesicht des Menschen das Werk der Natur und des herrschenden Vernunftprinzips ist, der Rest der Gestalt ist anderen Kräften zuzuschreiben - sie ist unwesentlich oder reine Notwendigkeit - und verdankt diesen geringen Wert seiner Entstehung oder der Inkompetenz der Natur... menschliche Übeltat wird zu einem Wunderwerk gemacht; offensichtlich wird von uns gefordert, die Menschheit als auserwähltes Mitglied des Universums zu betrachten, und daß nichts klügeres existiert! Doch in Wirklichkeit ist die Menschheit in die Mitte zwischen Götter und Tiere gestellt und neigt sich einmal zur einen und dann zur anderen Seite; einige Menschen neigen dem Göttlichen zu, andere dem Brutalen, die Mehrzahl ist neutral. Doch jene, die so verdorben sind, daß sie den unvernünftigen Tieren und wilden Bestien nahe kommen, stoßen die Durchschnittsmenschen hin und her und fügen ihnen Unrecht zu; die Opfer sind zweifellos besser als die Übeltäter, aber sie sind auf die Gnade jener Minderwertigen in dem Maße angewiesen, in dem sie selbst minderwertig sind...

Doch auch die Übeltäter haben ihre Bestrafung: Erstens bezahlen sie in dieser wirklichen Gier, in diesem Unheil für ihre menschliche Qualität; und zweitens wird die ihnen gebührende Vergeltung aufbewahrt; wenn sie hier nicht richtig leben, werden sie durch den Tod davon nicht befreit; auf jede begangene Tat wartet in jeder Hinsicht in vernünftiger natürlicher Weise die Folge; das Schlimmere auf das Schlechte, das Bessere auf das Gute... Sogar ein Gott hätte nicht das Recht, für Nichtkämpfende einen Schlag zu führen: das Gesetz bestimmt, daß es nur kämpfenden Menschen zukommt unversehrt aus einer Schlacht hervorzugehen, nicht jenen, die beten. Die Ernte wird nicht durch Beten eingebracht, sondern durch Pflügen; Tage des Wohlergehens sind nicht für jene, die ihre Gesundheit vernachlässigen: wir haben kein Recht, uns über die Unedlen, die die reichere Ernte erhalten, zu beklagen, wenn diese die einzigen, oder die besten Arbeiter auf den Feldern sind... Schlechte Menschen herrschen zufolge der Schwachheit der Beherrschten: und das ist gerecht; der Triumph von Schwächlingen wäre nicht gerecht...

Der Mensch ist als ein lebendiges Wesen ins Dasein getreten, aber nicht als ein Mitglied der edelsten Klasse; bestimmungsgemäß nimmt er einen mittleren Rang ein; doch an dem Platz, an dem er steht, erlaubt ihm die Vorsehung nicht, in das Nichts zu versinken, im Gegenteil, bei den verschiedenen Plänen, mit denen sich das Göttliche in seiner Arbeit, die Vorherrschaft moralischer Werte zu steigern, beschäftigt, wird er immer aufwärts geführt... ein Künstler würde ein Tier nicht nur aus Augen bestehen lassen; und ebenso würde das Prinzip der Vernunft nicht alles göttlich machen; es erschafft Götter, aber auch himmlische Wesen, in dazwischenliegender Reihenfolge dann Menschen, danach die Tiere, alles in abgestufter Folge, und das geschieht nicht im Geiste der Mißgunst, sondern aus Gründen der Vernunft, intellektuell unterschiedlich...

Und dabei dürfen wir die altbekannte Beobachtung nicht außer acht lassen, daß etwas mehr als das Augenblickliche betrachtet werden muß. Es gibt die Perioden der Vergangenheit und auch jene der Zukunft; und darin liegt die ganze Bewertung der Lage. Daher kann ein Mensch, der einmal ein Herrscher war, in einem zukünftigen Leben zu einem Sklaven werden, weil er seine Macht mißbrauchte, und dieser Sturz wird zu seinem Besten für die Zukunft. Jene, die Geld haben, können arm gemacht werden - und für die Guten ist Armut kein Hindernis. Jene, die ungerecht töteten, werden ihrerseits getötet... und jene, die leiden müssen, werden denen in den Weg gestellt, die die verdiente Behandlung austeilen. Kein Zufall macht einen Menschen zum Sklaven, keiner ist durch Zufall Gefangener; jede körperliche Schmach hat ihre entsprechende Ursache. Der Mensch tat einst das, was er jetzt erleidet... Daher kommt das furchtbare Wort Adrasteia (die unvermeidliche Vergeltung); denn diese Anordnung ist in aller Wahrheit eine Adrasteia, Gerechtigkeit an sich und eine wundervolle Weisheit.

Die Tiere verschlingen sich gegenseitig: die Menschen greifen einander an: alles ist rastloser Krieg ohne Waffenstillstand: das gibt der Frage neue Kraft, wieso Vernunft Urheber des Planes sein kann, und wieso alles als wohlgetan erklärt werden kann. ... all das muß uns wie ein Schauspiel erscheinen, wie der Szenenwechsel in einem Spiel; alles ist nur die veränderte Begleiterscheinung eines Spieles. Kostüme an und aus, gespielter Kummer und Klage. Denn in allen aufeinanderfolgenden Leben auf dieser Erde ist es nicht die innere Seele, sondern der äußere Schatten des wirklichen Menschen, der sich sorgt und klagt und das Stück auf dieser Weltbühne aufführt, die die Menschen mit Schaubühnen ihrer eigenen Konstruktion verzierten... Auch müssen wir daran denken, daß wir Tränen und Klagen nicht als Beweis nehmen können, daß etwas schlecht ist; Kinder weinen und jammern, wo es nichts zu jammern gibt.

In den Dramen menschlicher Kunst bestimmt der Dichter die Worte, aber die Schauspieler fügen ihre eigene gute oder schlechte Eigenschaft hinzu - denn sie haben mehr zu tun, als nur die Worte des Verfassers zu wiederholen; in dem echteren Drama, in dem sich der dramatische Genius seiner Stufe entsprechend gibt, entfaltet sich die Seele in einer Rolle, die ihr durch den Schöpfer des Stückes zugeteilt worden ist. Wie die Schauspieler auf unseren Bühnen ihre Masken und Kostüme erhalten, ihre Staatsroben oder Lumpen, so werden einer Seele ihre Glücksfälle zugeteilt, und nicht nur von ungefähr, sondern immer unter bestimmten Voraussetzungen: sie paßt sich den ihr bestimmten Glücksfällen an, harmonisiert sich, ordnet sich dem Drama, dem ganzen Prinzip des Stückes, richtig ein: dann erfüllt sie ihre Aufgabe, indem sie gleichzeitig das alles darstellt, was eine Seele ihrer Qualität entsprechend ausdrücken kann, wie ein Sänger in einem Gesang. Ein Tonfall, eine Haltung, vornehm, natürlich oder gemein, kann den Reiz eines Stückes steigern; anderseits kann ein Schauspieler durch seine häßliche Stimme von sich aus eine klägliche Darstellung geben, obgleich das Drama als gutes Werk bestehen bleibt: der Dramatiker, der die Handlung mit genauer Kritik verfolgt, schlägt jemanden vor und setzt ihn ab, indem er ihm in gerechtem Urteil seine Rolle abnimmt. Einen anderen Menschen betraut er mit ernsteren Rollen oder mit einem weiteren wichtigen Spiel, das er haben mag, während der erste zu irgendwelchen unbedeutenderen Arbeiten, die vorhanden sein mögen, bestimmt wird. Genau so ist es mit der Seele, die dieses Drama des Universums betritt, indem sie sich zu einem Teil des Spiels macht und ihre persönlichen Vorzüge oder ihre Fehler in Aktion bringt; zu Beginn wird ihr ein bestimmter Platz zugeteilt, vom Autor empfängt sie ihre gesamte Rolle... und genauso wird sie am Ende zur Rechenschaft gezogen und erhält die Vergeltung.

Aber diese Schauspieler, die Seelen, stehen in besonderem Rang: sie handeln auf einem weit größeren Schauplatz als dem einer Bühne: der Autor hat sie zu Herren dieser ganzen Welt gemacht; sie haben eine große Auswahl für den Platz; sie selbst bestimmen die Ehre oder den schlechten Ruf, deren Vertreter sie sind, seit es ihr Platz und ihr Teil ist, sich ihrer Qualitäten zu bedienen: deshalb passen sie in das vernünftige Prinzip des Universums; jede der geeigneten Umgebung berechtigt angepaßt, so wie jede Saite auf der Leier durch das Prinzip, das den musikalischen Ausdruck leitet, in die genau richtige Lage gesetzt ist, um den Ton innerhalb seiner Kapazität hervorzurufen...

Vom Menschen als Teil des Ganzen kann man nicht annehmen, daß er den höchsten Gipfel der Güte erlangt hat: wäre das der Fall, dann wäre er nicht mehr ein Teil. Nicht daß ein Groll des Ganzen gegenüber dem Teil, der in Güte und Würde heranwächst, da wäre, eine solche Steigerung des Werts ist ein Gewinn für die Schönheit des Ganzen; das Geringere wächst, indem ihm die Ähnlichkeit des Größeren übertragen wird, indem ihm gleichsam etwas von dieser Größe gewährt wird und es an dessen Rang teilnimmt; und sogar von diesem Platz des Menschen aus, aus des Menschen eigenem Selbst, strahlt etwas hervor, wie die Sterne am göttlichen Firmament glänzen, so daß alles wie eine große, liebliche Figur hervortritt - lebendig oder erschaffen in den Schmelzöfen des Kunsthandwerks.

 

Übersetzung von Stephen MacKenna.