Beflügelte Flammen
- Sunrise 2/1961
In Mythen und Sagen wurden Hinweise über die Eigenschaften des Feuers gegeben. Es stellte das Licht des Geistes dar, selbstbewußte Intelligenz, die den Menschen vom Tier unterscheidet, und war eine Gabe des Himmels. Das war auch der Sinn der Prometheussage, eine der schönsten Wiedergaben dieses uralten Themas. Durch den Raub des heiligen Feuers stellte sich Prometheus mit den Menschen, denen er helfen wollte, auf eine Stufe und forderte dadurch den Zorn der Götter heraus, denn der erwachte Geist wird nicht leicht errungen. Die Gabe wurde von den Menschen mißbraucht, und die Last der Verantwortung fiel auf ihn. Da er mit jenen, die er erleuchten wollte, verbunden war, wurde deren Durst nach Erkenntnis - ein Durst, den seine Gabe geweckt hatte - zu einem Teil seines eigenen Leidens, was dadurch symbolisiert wurde, daß der Geier an seiner Leber zehrte. Ist es daher verwunderlich, daß es Herakles sein musste, der Prometheus die Freiheit bringen sollte? Der Schlüssel zu seiner Befreiung war ein größeres Verständnis, ein Verständnis, das als Feuer symbolisiert wurde. Herakles, der Held der zwölf gewaltigen Taten, war ein Sonnengott; und daher ein Wesen, das mit den Kräften und Energien des himmlischen Feuers vertraut war.
Diese Erzählung lehrt, obwohl es eine hellenische Fassung ist, eine universale Wahrheit und gestattet der ganzen Menschheit einen Blick auf den gemeinsamen spirituellen Hintergrund. Die ganzen Zeitalter hindurch haben sich Lehrer der menschlichen Rasse buchstäblich geopfert, um den Menschen zur Erkenntnis seiner eigenen inneren göttlichen Flamme zu erwecken, und jeder von ihnen hat seinerseits mit und durch jene gelitten, zu deren Hilfe er kam.
Feuer, so sagten die Alten, verleiht Unsterblichkeit, indem es alles Sterbliche in der Natur verbrennt. Es gibt eine Legende, nach der Isis, als sie nach dem erschlagenen Osiris suchte, am Hof eines phönizischen Königs Aufenthalt nahm und eine zeitlang als Erzieherin seines unmündigen Sohnes diente. Da sie das Kind liebte und es unsterblich machen wollte, umgab sie es jede Nacht mit himmlischem Feuer. Ehe der Zauber jedoch vollendet war, erschien unerwartet die Königin. Erschreckt durch den Anblick, ihr Kind inmitten von Flammen zu sehen, schrie diese auf und brach dadurch den Bann.
Die Geschichte von Demeter und ihrer Suche nach der verlorenen Persephone ist beinahe das identische Gegenstück dazu. Bei dem Versuch, den jungen Prinzen Demophôn unsterblich zu machen, salbte sie ihn mit Ambrosia und legte ihn in das Feuer. Auch sie wurde durch die Mutter des Kindes an der Verwirklichung ihrer Absicht gehindert, und nachdem sie ihr wahres Wesen offenbart hatte, erzählte sie der Königin von der Gabe, die der Prinz erlangt hätte, die ihm aber nun verweigert sei. Wer mit den Göttern umgehen und Unsterblichkeit erlangen möchte, muß zuerst alle Furcht töten.
Jahrhunderte später wies George Macdonald in seiner entzückenden Prinzessin und Curdie auf den Zauber des Feuers hin. In dieser Erzählung lebt ein alter König, der körperlich krank und von Feinden bedrängt ist; aber gerade er muß die wenigen, die ihm treu sind, versuchen lassen, das Königreich zu retten. Er wird von einer geheimnisvollen, weisen Frau geheilt, der Großmutter der Prinzessin, die ihn auf ein Rosenbett legt und mit einer großen Menge duftender Blüten bedeckt. Es sind jedoch keine gewöhnlichen Rosen - sie glühen wie richtige Kohlen.
'Die Feuertaufe', als letzte Gabe der Gottheit, ist keine dichterische Phantasie, sondern eine Erfahrung, die jedem Menschen zuteil werden muß, der sich erfolgreich bemüht, Vereinigung mit dem inneren Ursprung seines Wesens zu finden. Denn es steht geschrieben: "Aus dem Schmelzofen des menschlichen Lebens und seinem schwarzen Rauch, erheben sich beflügelte Flammen." So wie der Vogel Phönix, muß das alte Selbst sterben, damit aus seiner Asche ein größeres Selbst geboren werden kann.