Mirandola
- Sunrise 2/1961
Eigentümlicherweise war tatsächlich kein System errichtet, in dem Gott, Mensch und Natur in bestimmte Abteilungen untergebracht waren. Die Menschen waren solcher scholastischen Gaukeleien müde. Sie waren jetzt daran interessiert, das lebendige Verlangen der Seele des Menschen zu befriedigen, aber nicht mit den Phantasien abstrakter Disputationen. Die Philosophie wurde unter dem Eindruck der neuentdeckten Werke des Altertums viel mehr vertieft; unter ihren hauptsächlichen Vertretern gewann sie ihren ursprünglichen Charakter der Lebensweisheit zurück - einer praktisch anwendbaren Weisheit.
Durch eigenes tieferes Eindringen in die platonische Philosophie versuchten die frühen Humanisten viele Tendenzen der antiken Zivilisation, gute und schlechte, mit der Anschauung der Dinge, wie sie im Christentum verbreitet sind, in Einklang zu bringen. Plato wurde zum hauptsächlichen Vorläufer der christlichen Bewegung gemacht, und durch eine symbolische Auslegung brachte man die Bibel in Einklang mit den Lehren Platos und der Neu-Platoniker. Sie waren überzeugt, daß dem Werk der alten Philosophen bestimmte allgemeine Prinzipien zugrunde lagen, die gereinigt werden konnten, um als Rückgrat für eine universalere Religion zu dienen. Kardinal Nicolaus Cusanus äußerte: "Es gibt wirklich nur eine Religion trotz der Verschiedenheiten der Form", und er freute sich bei dem Gedanken an die Zeit, da alle die verschiedenen Formen der Religion versöhnt und vereinigt sein würden.
Der Wunsch, den Blick zu weiten und einiges Wissen über die menschliche Entwicklung in vergangenen Zeiten zu gewinnen, war so stark, daß dem analytischen Studium von Einzelheiten wenig Zeit gewidmet wurde. Es war das goldene Zeitalter der idealen Synthese, als der Durst nach Wissen sowohl ein sehnendes Herz als auch ein intellektuelles Bedürfnis bedeutete. Eine Zeitlang wurde sogar die kurzsichtige negative Kritik einige sonnige Jahrzehnte hindurch von einer Flutwelle konstruktiver Lebensfreude und dem Wunsch nach Schönheit überwältigt. Aber nur zu bald kam eine andere Periode der Begrenzungen und der Kritik heran: die Philosophie wurde erneut vom Leben getrennt, und der Abgrund zwischen Glauben und Wissen wurde so tief, daß er durch die Reformation, oder eine andere religiöse Bewegung der Vergangenheit angefüllt werden konnte.
Wenn wir aus den Reihen der florentinischen Humanisten einen Mann auswählen wollten, der in seinem Leben und seinen Schriften die erhabenen Anstrengungen seines Zeitalters illustrierte, so könnte kaum ein besserer gefunden werden als Giovanni Pico della Mirandola (1463-1494). Er war weniger Fachmann als mancher der wohlbekannten Humanisten, und seine Schriften sind keine vollständige Wiedergabe seiner Persönlichkeit. Wie er selbst sagte, galt er unter den Dichtern "als ein Philosoph, und unter den Philosophen als ein Dichter." Von dieser ungewöhnlich harmonischen und edlen Persönlichkeit schrieb Lorenzo de' Medici: "Es gibt wenig Menschen, für die ich eine solche Zuneigung und Achtung empfinde wie für Pico." Eine ähnliche, unverhüllte Bewunderung wurde ihm durch Führer der Reformation, wie Zwingli und Sir Thomas More, zuteil.
Von der Zusammenlegung der platonischen Studien zu jenen des Christentums auch nicht befriedigt, drang Pico della Mirandola in die esoterischen Systeme der orientalischen Philosophien ein und war unter den ersten westlichen Gelehrten, die zu seiner Zeit versuchten die symbolischen Schriften der Kabbala auszulegen. Durch sein unermüdliches Streben, die Grundlagen der verschiedenen Religionsformen zu finden, die Einheit in den weit auseinandergehenden philosophischen Systemen zu finden, wurde seine Vorstellung vom Wert und den Möglichkeiten der menschlichen Seele erweitert und vertieft.
In Picos Charakter waren starke Gegensätze vereinigt, logische Unterscheidungskraft mit einer Anlage zum Mystizismus war vorhanden, der Wunsch nach Vergnügen mit einer Neigung zur Askese. Als Sohn eines Prinzengeboren, war er reich und unabhängig, und keine äußere Belohnung konnte seinen Ehrgeiz erregen. Schon im Alter von 24 Jahren erklärte er, daß ein wahrer Anhänger der Weisheit ein König der Könige sei, und daß für einen solchen jede Form des Ehrgeizes - der Wunsch nach Ruhm, die Liebe zur Macht und das Verlangen nach Vergnügen - wertlos ist.
Ich ziehe mein einsames Zimmer, meine Bücher, meine Studien und meinen Seelenfrieden allem andern, was ein königlicher Hof bieten kann, und all eurer Politik, euren Vergnügungen und Belohnungen vor.
Dank seiner edlen und begabten Mutter, Giulia Bojardo, erhielt Pico eine ungewöhnlich sorgfältige Erziehung. Auf ihren Wunsch hin führte er ein umfassenderes Studium zuerst in Bologna und später an französischen Universitäten durch, um sich für die höchsten Kirchenämter vorzubereiten. Mit 22 Jahren begegnete er dem florentinischen Platoniker, Marsilio Ficino, und erregte dessen Bewunderung, nicht nur durch sein tiefes Wissen über griechische Philosophie, sondern auch durch seine Vertrautheit mit orientalischen Sprachen und Gedankensystemen. Pico las Arabisch und Hebräisch mit derselben Leichtigkeit wie Griechisch und Latein, und in seiner riesigen Bibliothek, von der gesagt wurde, daß er den größten Teil seines Vermögens dafür ausgegeben habe, standen alle Bände der kabbalistischen und talmudischen Literatur, die er bekommen konnte, neben Werken der alten Philosophen und Kirchenväter.
Im Herbst 1486 unternahm Pico einen entscheidenden Schritt, als er in Rom 900 Thesen herausgab und alle Gelehrten zu einer Disputation über diesen Gegenstand herausforderte. Dieser Plan, hervorzutreten und die ganze Welt zu einem Rechtsstreit einzuladen, mag uns etwas bombastisch erscheinen, doch während der Renaissance war es nicht ungewöhnlich, wollte man die Aufmerksamkeit auf Mißstände lenken. Der Inhalt der Einführung war an sich schon bemerkenswert:
Graf Mirandola kommt, um öffentlich diese 900 Thesen zu verteidigen, die aus der Dialektik, der Moral-Philosophie, der Physik, der Metaphysik, der Magie und der Kabbala zusammengestellt wurden, und die teilweise seine eigenen Gedanken wiedergeben und teilweise aus den weisen Schriften der Chaldäer, Araber, Hebräer, Griechen, Ägypter und Lateiner abstammen. Bei der Abfassung dieser Thesen hat er sich nicht nur rein auf die lateinische Sprache beschränkt, sondern hat die Sprache verwendet, die sowohl von den berühmten Disputanten aus Paris angewandt wird, als auch von den meisten derzeitigen Philosophen. Die Ansichten verschiedener Nationen oder einzelner großer Weisen sind zusammengestellt worden, aber die aus den verschiedenen Philosophischen Sparten hervorgegangenen sind vermischt.
Einladungen zur Teilnahme an der Kontroverse wurden an alle Universitäten Italiens, Spaniens, Frankreichs und Deutschlands gesandt. Der Organisator war an einer großen Teilnahme so sehr interessiert, daß er sogar versprach, die Reisekosten und den Unterhalt während der Disputation für weniger begüterte Personen zu bezahlen. Unglücklicherweise nahm das sorgfältig vorbereitete Ereignis einen viel schändlicheren Ausgang als man hätte ahnen können, und durch die unkluge Wahl Picos, Rom zum Ort seines großen Schlages zur Unterstützung seiner reformatorischen Ideen zu nehmen, wurde es nicht verbessert.
In seinen 900 Thesen, die sich über ein allumfassendes Gebiet des Wissens ausdehnten, hatte der Autor viele Dinge erwähnt, die nicht sehr gut mit den Dogmen der Kirche übereinstimmten. Zudem mußten die stark neuplatonischen und kabbalistischen Teile, die Picos Thesen enthielten, den Unwillen des Papstes und der Geistlichkeit besonders erweckt haben:
Es ist nicht gut für die Menschen auf Grund ihrer Selbstüberhebung oder persönlichen Einbildungen zu behaupten, daß irgendein besonderer Glaubensartikel wahr oder falsch sei, als könnte der Glaube eines Einzelnen nur von der Neigung abhängen... Eine kurze Sünde kann nicht durch ewige Bestrafung bestraft werden...
Es gibt keine Wissenschaft, die uns klarer von der Göttlichkeit Christi überzeugen kann, als die Magie und die Kabbala.
Die Sache konnte nicht unbeachtet bleiben, obgleich Pico von Anfang an erklärt hatte, er werde sich dem Urteil der Kirche unterwerfen. Die Disputation wurde verboten, und der gelehrte Autor aufgefordert, vor einem päpstlichen Collegium zu erscheinen. Bevor jedoch ein Richterspruch gefällt wurde, hatte Pico Rom verlassen. Obgleich er ursprünglich mit dem Papsttum auf freundlichem Fuß verbleiben wollte, hatte er nun anscheinend erkannt, daß für jemanden mit derartigen Zielen eine solche Stellung unhaltbar war. Er erwiderte mit einer "Apologie" seiner Thesen, in der er noch kühner gegen die Kirche vorging:
Meine Thesen veranlaßten einige Menschen, jedweden Lehren und Philosophien zu mißtrauen, weil sie dadurch daran erinnert wurden, daß Adam aus dem Paradies getrieben wurde, weil er durch Erlangung der Erkenntnis von Gut und Böse der Göttlichkeit näher kommen wollte. Es scheint daher, daß alle, die mehr wissen wollen, als was für sie als gut angesehen wird, aus der Nähe der Stellvertreter Christi vertrieben werden.
Im Gegensatz zu jenen, die überhaupt gegen jedes Abhalten von Disputationen waren, bestätigt Pico, daß die meisten Philosophen daran teilnahmen, und daß sogar Plato und Aristoteles den öffentlichen Gedankenaustausch gut hießen. So wie die Muskeln des Körpers durch Sport und Wettbewerbe trainiert werden, so müssen die Kräfte der Seele durch intellektuelle Übungen gestärkt werden.
Meine Absicht war, die Beweggründe jeden Systems zu erfahren. Die Alten hatten bereits beobachtet, daß die verschiedenen Theorien eine Einheit bildeten, und jede Philosophie als eine Weiterentwicklung oder Fortsetzung ihrer Vorgängerin betrachtet werden sollte.
Die "Apologie" verursachte in Rom noch mehr Verbitterung. Der Papst verkündete die Exkommunikation des Autors und erklärte seine Thesen als ketzerisch (1487). Sich seiner zu bemächtigen wurde zu einem solchen Verlangen, daß sogar, als Pico Italien verlassen hatte, an den Großinquisitor von Spanien ein Befehl abgesandt wurde, ihn festzunehmen, und zwei päpstliche Legaten reisten extra nach Frankreich, um zu versuchen, den gefährlichen Mann zu erwischen. Es gelang ihnen, und im nächsten Jahr war er in Frankreich eingekerkert. Aber seine Gefangenschaft dauerte nicht sehr lange. Der mailändische Gesandte in Rom machte energische Vorhaltungen, und die päpstliche Autorität mußte nachgeben.
Später wohnte Pico in Florenz, wo er einen treuen Freund und Beschützer in Lorenzo de' Medici hatte. Der einflußreiche Medici-Prinz versuchte sogar, den Papst zu bewegen, seine Verurteilung aufzuheben, aber das gelang ihm nicht. Erst nach seinem Tod wurden Picos Schriften als harmlos erklärt.
Wenn man bedenkt, daß Luther zur gleichen Zeit in Deutschland auftrat, könnte man sich da nicht fragen, was Pico, der eine viel freidenkendere Persönlichkeit war, von dem ernsten Versuch zurückhielt, eine Reformierung der Kirche, durch die er wahrscheinlich ebenso litt wie Luther, zu beschleunigen? Könnte es nicht seine Überzeugung gewesen sein, daß es hinter allen religiösen Formen, obwohl durch Dogmatismus und Priestertum entstellt, eine gemeinsame Wahrheit gab, und daß es infolgedessen für einen einzelnen Menschen viel wichtiger ist, das religiöse Leben seiner eigenen Sphäre zu vertiefen und zu verbessern - zu versuchen auf den Grund seiner eigenen Religion hindurchzudringen - als gegen formale Einrichtungen Krieg zu führen? Picos eigenes Leben scheint, von dieser Zeit an betrachtet, für diese Idee zu bürgen.
Er richtete nun seine ganze Anstrengung darauf, ein Helfer in spiritueller und materieller Hinsicht durch Anwendung seiner Wissenschaft und seiner ungewöhnlichen Kenntnis der menschlichen Natur zum Wohl anderer, zu werden, indem er seinen materiellen Reichtum der Befreiung von Armut und Leid widmete. Wenn es ihm selbst nicht möglich war, die Armen aufzusuchen, beauftragte er einen Freund, Nahrung und Geld jenen zu bringen, die es am meisten benötigten. Die folgenden bedeutungsvollen Zeilen Lorenzo de' Medicis zeigen das:
Der Prinz von Mirandola lebt hier in unserer Nachbarschaft, er verbringt ein prunkloses heiliges Dasein; er gönnt sich nur die unbedingten Notwendigkeiten des Lebens. In meinen Augen ist er ein wirklich vollkommener Charakter.
Obwohl Pico die Philosophie über alles andere schätzte, erkannte er völlig ihre Grenzen. Unter anderem sagte er, daß, wenn die Menschen fähig wären, das Göttliche allein durch logische Folgerung zu erkennen und zu lieben, würde die Philosophie das letzte und höchste Ding für die Menschheit sein, und sie würde ihr inneres Verlangen vollständig befriedigen. Die Philosophie kann jedoch nur unser Erkenntnisvermögen auf eine höhere Ebene erheben, ohne imstande zu sein uns ein vollständiges Bild des Lebens und des Menschen geben zu können. Die Philosophie sucht, geleitet von ihrem Durst nach Wissen, nach Wahrheit. Die innere Erkenntnis, die Einheit des Menschen mit dem Göttlichen, kann allein die Religion verleihen. Wenn Pico der Religion diesen hohen Wert beimaß, bezog er sich nicht auf eine besondere Kirche oder Konfession, sondern auf das, was allen religiösen Formen zugrunde liegt und unabhängig von ihren Verschiedenheiten verbleibt - die Religion selbst.
Pico della Mirandola war, wie viele andere erleuchtete Gemüter jener Zeit, überzeugt, daß eine universale, uranfängliche Religion gefunden werden kann, deren Wahrheiten jetzt durch Glaubenssätze und Dogmen verdunkelt sind. Er versuchte, den ursprünglichen lebendigen Sinn in den Lehren der christlichen Kirche herauszuziehen und die Übereinstimmung mit anderen religiösen Formen zu zeigen. Gleich Pico wurde der Menschheit spirituelle Erkenntnis durch große Persönlichkeiten offenbart, die von Zeit zu Zeit hervortraten und die Wahrheiten in verschiedenen Formen im Einklang mit der Entwicklung ihrer Zeit, verkündeten. Unter diesen Lehrern waren, wie er sagte, Moses, Plato und Christus.
Pico ergriff die Wahrheit, wo immer er sie fand, ganz unabhängig von traditionellen Ansichten und klagte furchtlos an, was degeneriert und abergläubisch war, oder auf die niederen Leidenschaften der Menschen wirkte. Sein starker Nachdruck auf den freien menschlichen Willen und die moralische Verantwortlichkeit sind noch immer von größter Bedeutung. Er läßt die Götter den Menschen sagen:
Weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich haben wir dich erschaffen. Du selbst sollst, deinem eigenen Willen und deinem eigenen Ruhm entsprechend, dein eigener Meister-Bilder und Schöpfer sein, und du wirst dich selbst aus jenen Materialien, die dir am besten zusagen, erschaffen. Es steht dir frei, zu der niedersten Stufe der Tierheit hinabzusteigen - du kannst dich aber auch zu der höchsten Sphäre der Göttlichkeit erheben.