Wie ein Mensch denkt
- Sunrise 2/1961
Es ist nicht verwunderlich, wenn man sagt, der Mensch sei wie er denkt, denn dem Wesen nach ist er ein Denker. Potentiell ist er noch viel mehr, aber auf Erden scheint er nun die Fähigkeit des Denkens zu entwickeln. Die allgemeine objektive Betrachtung des Menschen ist trügerisch und hält keiner Analyse stand. Offenbar bewohnt er nur seinen sichtbaren Körper, der ganz außerhalb seines Bewußtseins steht, obgleich sich durch seine enge Verbindung mit ihm jede Unordnung als Schmerz kundtut. Doch die Funktionen seines Körpers sind ein Geheimnis, das er nie lösen kann. Irgendein großartiger, geschickter Handwerker muß ihn kennen und muß gewaltige Scharen kleiner und kleinster Wesenheiten haben, die unter ihm und mit ihm zusammen arbeiten: Systeme innerhalb von Systemen und Organe innerhalb von Organen, die in so vollkommener Harmonie zusammenwirken, daß sie wie eins zu sein scheinen. So eine vollkommene Zusammenarbeit verrät deutlich eine vorzügliche Intelligenz.
Beim Studium des menschlichen Körpers zeigt sich andeutungsweise die Analogie mit der kosmischen Ordnung. Jedes Organ hat sein getrenntes kleines Gehirn mit einer besonders aufgebauten Struktur der Zellen, die einen bestimmten Zweck erfüllen, wobei nicht einmal zwei sich gleichen. Die Pflichten jeder einzelnen sind ganz verschieden. Alle werden aus demselben Reservoir des Lebens gespeist, aber jede besitzt das Unterscheidungsvermögen, aus dem universalen Vorrat gerade das auszuwählen und zu entnehmen, was sie braucht und nicht mehr. Tatsächlich sind die verschiedenartigen Transformationen so verwickelt, daß bis jetzt niemand imstande war sie auch nur einigermaßen zuverläßig zu erforschen. Es bestehen Kanäle und Gefäße zur Verteilung bis an die äußerste Peripherie und weiter noch, beinahe unbegrenzt. Und das Ganze dieser wunderbaren Welt ist durch zwei getrennte Nervensysteme miteinander verbunden, jeder Teil ist nicht nur mit einem gemeinsamen Hauptquartier, sondern auch mit dem anderen Teil durch ein verwirrendes Durcheinander von Einzelheiten verbunden. Die geringste Verletzung löst anscheinend ohne Zeitverlust ein Signal an kleine Körper aus, die zu der gefährdeten Stelle eilen, um zu helfen. Ist die Verletzung ernst, dann kommen sie in Myriaden und verschlingen die Gifte, die sonst den Gesamtorganismus zerstören könnten. Ohne Zögern opfern Heere von ihnen ihr Leben und sterben in ungezählten Mengen. Kein soziales oder bürgerliches Gefüge hat jemals annähernd so vollkommene Leistungsfähigkeit erreicht, und noch bis jetzt ist der Mensch, was diese Armeen von Meistern und Dienern, Mitarbeitern und Wächtern anbetrifft, vollkommen unwissend.
So kann man kaum sagen, der Mensch sei das, was sein Körper ist. Viele der Alten lehrten, der Mensch wohne im Denkprinzip, um dieses zu entwickeln. Von der Erde wurde als von einem Menschen tragenden Planeten gesprochen, und von der auf ihm stattfindenden Entwicklung, daß sie sich über die Zeit erstreckt, die notwendig ist, um den Menschen zu vervollkommnen. Was während dieser Zeit durch die unbegrenzten Erfahrungen, die der Globus bietet, gelernt werden muß, ist: Denken zu lernen; und wie auf jeder Bühne ist der Mensch als Schauspieler in dem Drama, das, 'was er denkt'.
Doch von den meisten von uns kann kaum gesagt werden, daß sie die Fähigkeit des Denkens bis zum Äußersten entwickelt haben. Ideen stürmen ohne unser Wollen von jeder Seite auf unser Gemüt ein und wir werden völlig getragen und folgen einer Idee nach der anderen so ziellos, wie ein Schmetterling, der auf luftigem Pfad sich im Gebrauch seiner Flügel übt. Wir sind unfähig unsere eigenen Gedanken von jenen zu unterscheiden, die einfach wie Staubkörnchen, vor unseren Augen dahintreiben. Wenn wir unser Bewußtsein kurz vor dem Einschlafen beobachten, werden wir über die Anzahl nutzloser Bilder überrascht sein, die auf der mentalen Netzhaut photographisch festgehalten sind. Im Wachzustand ist unser Gemüt zu oft wie ein mit kleinen zerbrochenen Glasstücken angefülltes Kaleidoskop, das bei jeder Drehung eine neue Illusion zeigt. Selbst wenn wir versuchen unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren, stürzen von allen Seiten fremde Ideen und Bilder auf uns ein, schleichen um die Ecken, als wären sie lebende Wesen, die ihr unartiges Spiel mit dem Besitzer des Gemütes treiben. Der gewaltige Unterschied zwischen dem gegenwärtigen 'Raupen'-Zustand und dem vollkommenen Menschen scheint in der Beschaffenheit, der Anstrengung und der Macht des Gemütes zu liegen. Es ist möglich, daß unser Körper gewisse physische Veränderungen erfährt, aber die zukünftige Entwicklung scheint im wesentlichen eine mentale und spirituelle zu sein. In den künftigen Äonen können wir vollkommen sicher sein, daß "ein Mensch so ist, wie er denkt" - wir werden uns in unserer Entwicklung immer gerade an dem Punkt befinden, den der Charakter, die Qualität und die Richtung unseres Bewußtseins anzeigen.
Seit archaischen Zeiten wurden Anweisungen gegeben, wie man diese Reise durch Zeit und Raum in der rechten Weise und unter geringstem Schmerz machen kann. Die Goldene Regel, die Vorschriften für Reinheit des Gemütes und des Herzens, die Verdammung der Selbstsucht in ihren mannigfaltigen Formen in allen Religionen sind zu tief eingegraben, um bloße Gefühlsregungen zu sein; sie sind ohne Zweifel die Beweise für die Gesetze der Moral in der Welt, die so unbeugsam sind, wie die Gesetze des Lichtes und der Anziehungskraft. Brecht sie, und die natürlichen Konsequenzen werden folgen und zwar je größer das Wissen und je abwegiger die Handlung, desto ernster sind die Folgen. Daher sind die Wirkungen einer vorsätzlichen Verletzung des Moralgesetzes unendlich weitreichender, als die irgendeines physischen Irrtums, denn der universale Plan ist viel näher an seinem Zentrum gestört worden. Wer bewußt schuldig wird, hat sich mit niederen Kräften verbunden, und hat eine Bestrafung durch das höhere Gesetz zu erwarten, die wissenschaftlich exakt seinem Verstoß entspricht.
So scheint die menschliche Evolution auf die Entwicklung des Denkens hin zu arbeiten und wer das Gemüt benützt, bildet das Denken aus, was natürlich einschließt, daß das Gemüt ein Instrument, und so wenig der wirkliche Mensch ist, wie der Körper. Es ist feiner als das Gewicht einer Feder auf eines Messers Schneide, und der geringste Hauch stößt es vom Zenit bis zum Nadir. Es ist schneller als der Blitz und mächtiger als der Wind und so weit wie der Raum. Wie groß muß der Mensch in seinem Innern sein, um ein solches Instrument zu beherrschen!
Die Aufforderung und das Geheimnis scheinen darin zu liegen, daß der Mensch keine Welt sieht und kennt, außer der, die er im Begriff ist zu schaffen. Er kann nicht erkennen, solange er nicht geschaffen hat; er kann nicht schaffen, solange er nicht erkannt hat. Die Situation könnte an eine aussichtslose Lage erinnern, aber sie ist nicht so hoffnungslos, wie es scheint, denn aus der größeren Welt scheint wie ein Stern das Licht der Intuition, und im Innern befindet sich die stille, schwache Stimme des Gewissens. Diese zwei Kanäle eröffnen dem sich entwickelnden Gemüt die Welt der Wirklichkeit und stärken dadurch das angestrebte Wissen. Um den nächsten Schritt zu tun, ist immer genügend Erleuchtung vorhanden, denn der Mensch wird in dem Verhältnis verstehen, in dem er sein Organ für das Verstehen aktiv in Funktion setzt. Aber kein Erlöser steigt herab, um die Arbeit für ihn zu tun, keine äußere Macht kann die Schwierigkeiten wegräumen. Es erfordert Zeitalter der Anstrengung den Menschen gottähnlich zu machen, und das vervollkommnete Instrument oder das Gemüt ist das Kennzeichen, daß er dieses Ziel erreicht hat.
Man hört oftmals, daß es wenig zu sagen hat, was jemand glaubt, wenn er nur richtig lebt, aber das ist eine jener trüben Mischungen aus Wahrheit und Irrtum, die nichts Klares ausdrücken. Falsches Denken führt zu keiner richtigen Lebensführung, so wenig wie engherzige, beschränkte, wunderliche Glaubensbekenntnisse zu den Bergesspitzen führen, obgleich wir dann und wann jemanden finden, der sie trotz solcher Hemmnisse erreicht, wenn Liebe und Mitleid groß genug geworden sind, um ihn über den Einfluß dieser Hindernisse zu erheben. Die Wahrheit ist, daß unser Gemüt zwei bestimmte Eigenschaften hat, die wirksam sind und aufeinander einwirken. Die eine, die unserer essentiellen, überdauernden Natur angehört, ist großmütig, erhaben, und weiß alles. Die andere ist kleinlich und selbstsüchtig, sie ist irdisch und im Prozeß des Werdens wirksam. Die eine bildet sozusagen den Hintergrund und verrät ihre Gegenwart im Einzelnen durch Würde, Atmosphäre, richtiges Motiv und richtigen Charakter und sendet gelegentlich, wie beim Genius, gottgleiche, vollkommene, schöne, reife Gedanken herab. Die andere ist in den Dingen des Alltags tätig, in Ehrgeiz, Empfindungen, Furcht, Freude und in Gemütsbewegungen jeder Art verwickelt. Unsere Aufgabe ist es, diese zwei Aspekte unseres Gemütes in harmonische Beziehung zu einander zu bringen; das Vehikel nach und nach vorzubereiten, damit mehr von der höheren Essenz des Gemütes die Kontrolle übernimmt.
Es war einmal ein junger Mann, der nur mühsame Arbeit und Plackerei gekannt hatte. Von einem grausamen Herrn in Sklaverei gehalten, bot das Leben innerhalb seines engen Horizontes nichts Anziehendes. Niedergebeugt und gleichgültig, in Unterdrückung niedergehalten wuchs er auf. Als er sich eines Tages mühselig auf der Landstraße hinschleppte, begegnete er einem ehrwürdigen Manne, der sagte, "junger Mann ich habe eine frohe Botschaft für dich. Du bist ein Prinz. Als du ein kleines Kind warst, wurdest du aus deines Vaters Schloß gestohlen. Du wurdest deines Erbes beraubt und seit damals in dem Gefängnis niedriger Gedanken großgezogen. Aber erhebe deine Augen und fasse Mut. Sage es niemandem, aber wenn die Stunde schlägt, wirst du befreit werden." Der alte Mann verschwand so plötzlich, wie er erschienen war. Eine wunderbare Veränderung begann. Der junge Mann richtete sich auf zu seiner ganzen Größe. Feuer kam in seine Augen, sein Schritt wurde elastisch und seine Gestalt energiegeladen. Seine Manieren wurden feiner und sein Gemüt entwickelte sich. Er sagte, "wenn ich ein Prinz bin, muß ich edle Gedanken haben." Der neue Standpunkt brachte eine schnelle Umwandlung.
Die Wichtigkeit unseres Denkens kann nicht überschätzt werden, denn das Dogma vom "Wurm im Staube" führt in eine ganz andere Richtung als die Idee, die die Aufforderung enthält "Ihr seid Götter!" Aber Dogmen sind durch die Verzerrung gerade dieses Begriffes, daß es von Bedeutung ist was wir denken, entstanden. Jene, die die geistige Autorität hatten und glaubten, daß sie die ganze Wahrheit besitzen, formulierten ihre engherzigen Glaubensbekenntnisse und drängten diese den unwissenden Massen mit Gewalt auf. Es ist schrecklich den Körper des Menschen in Ketten zu legen, aber verglichen mit der Versklavung des Gemütes ist das gar nichts, denn das letztere erzeugt eine Rasse mentaler Krüppel. Die Prediger der Dogmen sind keine spirituellen Führer, die wissen, daß der Mensch ein Denker ist und sich durch denken entwickeln muß und das Denken frei sein muß, wenn er sich entwickeln soll. Wahre Lehrer legen nicht den leisesten Wert darauf, die Annahme eines Glaubens zu erzwingen. Ihre Lehren leuchten durch ihr eigenes Licht und werden offen dargeboten, um angenommen oder zurückgewiesen zu werden. Mehr noch, formulierte Wahrheiten ändern mit jedem Schritt vorwärts ihr Aussehen; und da nicht zwei Wesen genau die gleiche Stellung einnehmen, können dieselben Worte für sie niemals die gleiche Bedeutung haben. Das Dogma versucht das Gemüt in bestimmte Bahnen zu lenken, hält es an einen verkümmerten Begriff gefesselt und tötet mit der Zeit die spirituelle Unterscheidung.
Wie ein Mensch denkt... so wird er werden. Das Denken ist das Instrument, das das Schicksal gestaltet. Früher oder später kommt jeder Gedanke kristallisiert als Freude oder Trübsal zurück. Selbst die flüchtigste Wolke am Horizont des Lebens hat ihren Ursprung in den Gedanken dieses oder eines früheren Lebens. Aber es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß wir alle latent die absolute Macht in uns haben, unsere Gedanken auszusuchen und zu lenken; wir können das Tor für die kleinlichen und unwürdigen schließen und nur jene aufnehmen, die schön sind und veredeln. Kein äußerer Gott oder Dämon erzwingt irgendein Ereignis, und es besteht keine Notwendigkeit, an irgend etwas festzuhalten, das uns unbeliebt, unglücklich und unbrauchbar macht. Die größte Errungenschaft ist, seinen spirituellen Willen wachzurufen und in Tätigkeit zu setzen, denn nur das kann einfache Belehrung in persönliches Wissen und Wissen in Weisheit umwandeln.
Für jene, welche ausdauern, gibt es keinen Mißerfolg und aus der Erkenntnis dieser Tatsache erwächst Mut. Was gibt es zu fürchten, wenn man weiß, daß hinter der unaufhörlichen Ebbe und Flut der Gezeiten des Lebens ein leiser Ton mitschwingt, der so mächtig ist, wie die Kraft der ganzen Welt und die Regungen der Menschen zum Schicksal von Göttern gestaltet. Aus der Zurückweisung des Weltlichen, aus den Kümmernissen und Mißerfolgen im Leben, sogar aus seinen Greueln webt die Zeit ein leuchtendes Gewand der Herrlichkeit, und Mutter Erde hüllt sich wieder einmal in Lieblichkeit.